Türkischer Honig
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Türkischer Honig

Neuübersetzung von "Turks fruit"

  1. 240 Seiten
  2. German
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Türkischer Honig

Neuübersetzung von "Turks fruit"

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Leidenschaftlich lieben sich der namenlose Ich-Erzähler, ein Bildhauer, und die junge Olga. Wie im Rausch leben sie in seinem Atelier in Amsterdam und genießen - zum Entsetzen vonOlgas kleinbürgerlicher Familie - ihre Liebe in vollen Zügen. Überraschend wird der Erzähler von Olga verlassen und bleibt verzweifelt und voller Unverständnis zurück. Nach Jahrenkommt es zu einem Wiedersehen. Als er glaubt, sie zurückgewonnen zu haben, verliert er sie für immer.Mit 'Turks Fruit' gelingt Jan Wolkers 1969 der internationale Durchbruch als Schriftsteller. Der autobiographisch geprägte Roman wurde bis heute in vierzehn Sprachen übersetzt und 1973 von Paul Verhoeven verfilmt. Er zählt in den Niederlanden für jede neue Generationvon Lesern und Schriftstellern zu den prägenden Leseerlebnissen - wie etwa Fausers 'Rohstoff' im deutschsprachigen Raum. Die Kritik betont die stilistische Nähe zur amerikanischenBeat-Literatur: Wolkers schreibt offen und freizügig über Einsamkeit, Leidenschaft, Haß, Verfall, Tod und Sexualität, bedient sich einer klaren, bildhaften Sprache und schöpftdabei zumeist aus dem wahren (eigenen) Leben.'Türkischer Honig' gehört zu den Romanen der niederländischenLiteratur des vergangenen Jahrhunderts, die großes Aufsehenerregten, und gilt als Ikone einer Generation. Mit 'Türkischer Honig' entfesselte Jan Wolkers einenSturm von Emotionen - sowohl Bewunderung als auch Wut. Er brach eine Lanze für sexuelle, religiöse und künstlerische Freiheit.

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Information

Jahr
2012
ISBN
9783895813146
DAS WETTER IST GENAUSO SCHLECHT WIE DIE MENSCHEN
Zur Entstehungsgeschichte von Turks fruit
Türkischer Honig gehört zu den Romanen der niederländischen Literatur, die großes Aufsehen erregten. Die Ikone einer Generation. Im Veröffentlichungsjahr, 1969, dem Jahr der Mondlandung, war Jan Wolkers bereits einer der berühmtesten und meistgelesenen Autoren der Niederlande. Mit Türkischer Honig entfesselte er einen Sturm von emotionalen Reaktionen, sowohl Bewunderung als auch Wut.
Jan Wolkers (1925–2007) wuchs auf in einer streng calvinistischen Familie mit elf Kindern in Oegstgeest, einem Dorf in der Nähe der Universitätsstadt Leiden. Schon sehr früh übten Schreiben, Malen und Modellieren eine große Faszination auf ihn aus. Aktivitäten, die sein Vater, ein tiefgläubiger Mann, der einen immer weniger florierenden Lebensmittelladen besaß, nur wenig zu schätzen wußte. Aber der junge Wolkers ließ sich dadurch nicht abhalten und streifte mit Skizzenbuch, Bleistift und Pinsel durch den nahegelegenen Wald von Oud Poelgeest. Mit siebzehn Jahren, mitten im Zweiten Weltkrieg, schrieb er seine ersten Gedichte auf der Schreibmaschine der Zuteilungsstelle in Oegstgeest, wo er damals arbeitete.
Nach dem Krieg bekam Wolkers einen Studienplatz an der Kunstakademie. Zuerst in Den Haag, später in Amsterdam, wo er Bildhauerei studierte und an Seminaren für Zeichnen nach Vorlagen teilnahm. Nach dem Studium bekam er schon bald öffentliche Aufträge für Skulpturen und Denkmäler und ging als Bildhauer bei ausländischen Künstlern in die Lehre. 1954 war er in Salzburg bei Giacomo Manzù, drei Jahre später erhielt Wolkers ein Stipendium der französischen Regierung, um im Pariser Atelier von Ossip Zadkine zu arbeiten.
In Paris schickte er 1957 der Zeitschrift Kroniek van Kunst en Kultuur zwei Gedichte, die als sein offizielles literarisches Debüt gelten, jedoch wenig beachtet wurden. Zwei Jahre später erschien seine erste Erzählung Het Tillenbeest, die sofort als Werk eines talentierten und authentischen Autors anerkannt wurde. 1962 gelang Wolkers der Durchbruch mit dem Roman Kort Amerikaans, in dem er Elemente aus seiner Jugend auf schonungslose und bittere Art verarbeitet hatte. Der Protagonist, Erik van Poelgeest, zerbricht an den erstickenden Verhältnissen in der streng religiösen Familie, an seinen Leidenschaften und an seinen hohen künstlerischen Ambitionen.
Wolkers brach mit seinem frühen literarischen Werk eine Lanze für sexuelle, religiöse und künstlerische Freiheit. So auch im Roman Türkischer Honig, vielleicht sogar in stärkerem Maße. Obwohl sich die niederländische Gesellschaft in den 1960er Jahren rasant veränderte, Studenten 1969 die Universitätsgebäude besetzten und große Gruppen von langhaarigen Jugendlichen, die Provos, in Amsterdam gegen die städtischen Autoritäten rebellierten, löste der Roman bei vielen älteren, kleinbürgerlichen und christlichen Lesern einen gewaltigen Schock aus.
Das verwundert nicht. Vor Wolkers gab es nur wenige Autoren, die mit Verve und offen über Sex geschrieben haben. Schon in den ersten Sätzen des Romans nimmt Wolkers kein Blatt vor den Mund:
»Mein Leben war voll abgeschmiert, nachdem sie mich verlassen hatte. Ich arbeitete nicht mehr, ich aß nicht mehr. Ich lag den ganzen Tag in meinem versifften Bett und holte mir einen runter, Fotos und Nacktaufnahmen von ihr direkt vorm Gesicht. Und auf die Dauer glaubte ich beim Wichsen wirklich zu sehen, daß sie mit ihren stark getuschten Wimpern blinzelte …«
Große Teile im Roman Türkischer Honig basieren auf dem Beginn, dem Höhepunkt und dem Ende seiner Liebe zu Annemarie Nauta, seiner zweiten Frau. Sie stand Modell für Olga, die ›schöne Rote‹. Wolkers lernte Annemarie im Herbst 1956 kennen und verliebte sich sofort in sie. Schon bald zog sie in sein Atelier in der Zomerdijkstraat in Amsterdam, wo er noch mit seiner ersten Frau und seinen beiden Kindern wohnte. Nach seinem Aufenthalt im Zadkine-Atelier in Paris heirateten sie ein Jahr später in Amsterdam am 10. November 1958.
»Gratis«, schreibt er im Roman.
»Nur das Familienbuch kostete fünfzig Cent. Wir fuhren zum Standesamt wie damals, als ich sie zum erstenmal vom Rummel in mein Atelier befördert hatte. Mit dem Fahrrad. Sie auf dem Gepäckträger, auf dem ich aus diesem Anlaß eine kleine, flauschige Decke mit Spannband befestigt hatte. Schließlich sollte sie sich am schönsten Tag ihres Lebens vom Geholper keine Dellen am Hintern holen.«
Die Ehe mit Annemarie hielt nicht lange, sondern flammte auf wie eine Feuerwerksrakete und erlosch ebenso schnell. Im Frühling 1960 verließ Annemarie ihn, und Wolkers fiel in eine tiefe Depression. »Der Tag, an dem mich meine Frau verließ, war eine schwarze Seite in meinem Lebensbuch«, schrieb er in der Fotobiographie Werkkleding (Arbeitskleidung).
Vor Bitterkeit und um seinen Verlust zu vergessen, ging er mit vielen Frauen ins Bett.
»Ich legte ein Mädchen nach dem anderen flach. Schleppte sie ab in meine Höhle, riß ihnen die Kleider vom Leib und rammelte mich halb tot. Bevor ich sie vor die Tür setzte, bekamen sie noch schnell was zu trinken. Manchmal waren es drei am Tag. Hängetitten wie Breisäcke, mit Nippeln zum Saugen. Kleine verschrumpelte Brüste, zu jämmerlich zum Streicheln. Dann eben den Pullover nicht ausziehen. Schamhaarbüschel, hart wie Seegras, weich wie Pelz. Trokkene Mösen mit Warzen innen. Eklig an den Fingern, aber angenehm am Schwanz.«
In Jan Wolkers’ persönlichem Archiv findet man sowohl die Beweise für seine erotischen Abenteuer – Nacktfotos von Freundinnen, Briefe, Postkarten, die auch nichts verhüllen – wie für seinen nicht nachlassenden Liebeskummer um Annemarie. In einem Brief vom 21. Mai 1960 schreibt er ihr: »Der Regen strömt herab, ein starker, senkrechter Mairegen, beschlagene Fenster, als würde ich durch meine Septemberaugen gucken, aber der Maidorn dahinter bleibt weiß, verhält sich flatterhaft und tanzt mit zu den Tönen der tollen schrummenden Trompete von Dizzy Gillespie: Woody ’n’ you / Wrap your troubles in dreams / There is no greater love.« Und er fährt fort: »Aber eine Wolke wie ein Elefant zog über uns hin, du weißt es. Was ich getan habe, habe ich getan, Gott weiß, daß es gut war, du mußt Geduld haben. THERE IS NO GREATER LOVE! Und ich hätte dir gern noch gesagt, wrap your troubles in dreams. Aber wozu. Du vergißt, ich nicht. Ich bin deine Augen, deine Hände, deine Haare, deine kleinen Sorgen, dein Gläschen Wasser zum Kaffee, richtig kalt. Deine Zitronenscheiben, Kapern, Leben Liebe Tod, warmes Entenküken, tote Katze, Kummer, Ohrringscherbe, Leid. Daumenlutschen und Angst, dir zuschauen, wenn du schläfst. Wrap your troubles in dreams, darling, there is no greater love.«
Wolkers wollte Annemarie nicht loslassen, quälte sich mit der Erinnerung an schöne Augenblicke. In einem Brief vom 2. Juni 1960 gratulierte er ihr zum 23. Geburtstag – sie war neunzehn, als sie sich kennenlernten – und schrieb: »Weißt du noch, wie wir uns japanische Äpfel aus den Schrebergärten geholt haben. An einem grauen Novembertag. Wie gut konnten wir allerlei warme, bunte und wehmütige Dinge um uns versammeln. Die Schlehen. Wir lagen damals unter ihnen in der Sonne, du hattest eine enge Hose an. Dein Kopf auf meinen Beinen und wurdest von zwei Seiten gewärmt. Wie wir uns jeden Sommer wieder wunderten, wie schnell sie blau wurden. Und die Pilze, Körbe voll. Ich weiß noch, wir beide in der kühlen und dünnen Herbstluft. Goldstücke hingen an den Bäumen. Unsere Füße versanken tief im Laub. Und ich hab dich immer angeschaut, du hast es vielleicht nie so gemerkt, aber ich war und bin besessen von dir. Ich spürte dich schon unter der Haut, bevor ich dich kannte (…). Ich bin ganz du. Ich stecke in dir, ich liege in dir, stehe kopf in dir, woge in dir. Wenn du zu mir zurückkommst, werde ich geboren.«
Diese Briefe enthalten, neun Jahre vor der Veröffentlichung, die Idee und die Stimmung für den Roman Türkischer Honig in komprimierter Form. Das schien auch Wolkers irgendwann bewußt zu werden. »Als näherte ich mich über diese Hochebene der Trauer und Misere einem warmen, blühenden Tal in mir selbst«, stellte er in dem Brief vom 2. Juni 1960 verwundert fest. »Alles scheint möglich zu werden.« Es ist nicht ausgeschlossen, daß Wolkers sogar Gespräche mit Annemarie führte, weil er ein Buch plante, nachdem die Beziehung in die Brüche gegangen war. Jedenfalls war er so geistesgegenwärtig, seine Gespräche mit ihr aufzunehmen.
In Wolkers’ Archiv befindet sich ein kleiner Stapel Blätter, aus einem Buch gerissene Seiten, auf denen er im Telegrammstil Erinnerungen an Annemarie notiert und Fragmente der Bänder transkribiert hat. Fast alle diese Notizen finden wir später als ausgearbeitete Szenen in Türkischer Honig wieder. So zum Beispiel: »Zahnstocher – kleine Made kriecht heraus.« Und: »Warst du schon mal in IJmuiden? Da war ich I X. Mit einer Flasche Lakritzwasser.« Oder: »Katze gekauft für 2,50. Nach Hause geradelt im Regen. Steckt oben im Ärmel, kommt am Hals zum Vorschein. Als Annemarie weg war, lief sie immer zur Tür, wenn sie forsche Schritte hörte. Klackende, hohe Absätze.«
Auch über Annemaries Vater, der im Roman eine Glanzrolle spielt, notierte sich Wolkers etliche Dinge, die später zu den heitersten Abschnitten im Roman führten. Zum Beispiel: »dicke Rotzbällchen – Kügelchen«. Der Anfang der wunderbaren Szene, wo Olgas Vater in seinem Sessel sitzt, in der Nase pult, die Popel zu Kügelchen dreht und sie sorgfältig unter den Sessel drückt. Die Notizen enthalten auch einige Äußerungen von ihm: »Das Wetter ist genauso schlecht wie die Menschen.« Und den Witz: »Wer leckt die Königin von hinten? Jeder, der eine Marke auf einen Brief klebt.«
Im Frühjahr 1969 begann Wolkers mit der Arbeit am Roman. Am 7. Mai 1969 schrieb er in sein Tagebuch, daß er mit seiner dritten Frau, Karina, seine Sachen packte, um einen Monat in einem kleinen Sommerhaus auf der Watteninsel Texel zu arbeiten. Auf dieser Insel sollte er die letzten 27 Jahre seines Lebens verbringen. »Das ganze Material für Türkischer Honig in einem Koffer, Kassetten der Gespräche mit Annemarie.« Am 10. Mai 1969 steht im Tagebuch: »Abends hören wir die Kassetten von Annemarie. Bei jedem der drei Besuche stelle ich dieselben Fragen. Sie gibt manchmal völlig andere Antworten, manchmal in einer anderen Tonart. Von Vorwürfen zum Bedauern und Selbstanklage.«
Die Grundtendenz der aufgenommenen Gespräche ist tatsächlich traurig. Die Antworten von Annemarie sind merkwürdig, verworren und in sich widersprüchlich. Sie ist unglücklich, »ich habe keine Ideale«, und sagt: »Ich glaube, daß ich riesige Komplexe habe. Ich weiß nur nicht, wo sie stecken.« Sie erzählt, sich in der Ehe mit Wolkers gefangen zu fühlen, »man konnte nicht mal heimlich in der Nase bohren«, und wundert sich im nachhinein immer noch über seinen sexuellen Drang: »7 x am Tag. Nach dem Frühstück, nach dem Lunch. Wenn ich in der Küche stand und Kaffee kochte, dachte ich, da kommt er wieder. Ich hab’s nachgerechnet. 7 x am Tag. Ist das immer noch so? Du warst immer ein Egomane.« Wolkers ließ es sich nicht nehmen, auch seine Antwort zu notieren: »Alle Männer, die du nach mir hattest, waren Schlappschwänze.«
Es ist offenkundig, daß Wolkers’ Roman Türkischer Honig auf realen Begebenheiten basiert. »Niemand ist näher bei der Wahrheit geblieben als ich«, sagte er zu mir ein halbes Jahr vor seinem Tod. »Mein Leben und mein Werk sind eins.« Der Eindruck einer persönlichen Geschichte wird durch die persönliche, leidenschaftliche Erzählart des namenlosen Protagonisten noch verstärkt. Alle Szenen und Anekdoten sind die Glieder einer Kette, die immer straffer angezogen wird.
Dennoch trügt der autobiographische Eindruck auch. Wolkers hält sich nicht sklavisch an die Realität. Im Gegenteil: Er ist mit der Geschichte umgesprungen, wie es ihm paßte, hat vieles weggelassen und hinzugefügt. Der auffälligste Eingriff ist der Schluß des Romans. Olga stirbt an den Folgen eines Gehirntumors. Wolkers hatte diese Szene so überzeugend geschrieben, daß Monique van der Ven, die Schauspielerin, die 1972 in Paul Verhoevens erfolgreicher Verfilmung von Turks fruit (deutscher Titel Türkische Früchte) die Hauptrolle spielte, überzeugt war, daß die »echte Olga« eines schrecklichen Todes gestorben war. Annemarie Nauta jedoch lebt heute noch.
So basieren viele Szenen nicht auf Wolkers’ eigenen Erfahrungen. Den Bildhauer in Türkischer Honig liest Olga in Limburg an der Landstraße beim Trampen auf, während Jan Wolkers Annemarie Nauta im Café Reynders am Leidseplein in Amsterdam kennenlernte. Olga möchte unbedingt vermeiden, schwanger zu werden, während genau das Annemarie Nautas sehnlichster Wunsch war. In seinem Brief vom 21. Mai 1960 beschreibt er den Tag, an dem sie sich kennenlernten, wie sie auf dem Fußboden hockend seiner einzigen Platte lauschten und »ich den Atem anhielt, bevor ich dich nahm und mein Herz ängstlich und bebend vor Glück war: Ich will ein Kind von dir.«
Anders als man bei einer flüchtigen Lektüre meinen könnte, beruht die Kraft dieses Romans nicht auf autobiographischen Elementen oder einem hohen Wahrheitsgehalt, sondern auf der Suggestion von Authentizität. Wolkers hat seine Geschichte – ungeachtet des rauen und direkten Stils – ingeniös und fast unmerklich in die Form eines klassischen Liebesromans gegossen. Was improvisiert scheint, hat Wolkers faktisch mit fester Hand komponiert.
Letztlich geht es in dem Roman nicht um Sex, wie nach seinem Erscheinen oft behauptet wurde, sondern um den Tod – dem wichtigsten Thema in Wolkers’ gesamten Werk. Türkischer Honig beschreibt die verhängnisvolle, berührende Geschichte einer zum Scheitern verurteilten Liebe. Der namenlose Protagonist hat Olga schon im ersten Satz des Romans verloren und versucht, wie Orpheus seine Eurydike, sie aus dem Tod zurückzuholen. Aber als er glaubt, sie wieder für sich gewonnen zu haben, verliert er sie erneut. Diesmal für immer.
Daß der Roman so tragisch endet, ist von Anfang an vorhersehbar. Der Tod steckt in allen Fasern der Geschichte, wuchert weiter wie ein Geschwür. In der grausamen Erzählung von dem Pferd, dem bei lebendigem Leib in Berlin während des Zweiten Weltkriegs Fleischstücke herausgeschnitten werden. In der ›verkrebsten Brust‹ von Olgas Mutter, der ›räudigen Hündin‹, die Olga den Tod mit ihren Genen weitergegeben hat. Im Tod von Olgas wehrlosem, dickem Vater, dessen letzte Worte der Witz von den zwei Jungs sind, die nach Paris fuhren: »Sie fuhren nicht.« Am Ende steckt der Tod in Olga selbst.
Von allen fatalen Vorzeichen ist die Szene über die Made im Zahnstocher die bedeutungsvollste. Im Kapitel Requiem für einen toten Spatz heißt es: »Einmal, als sie gerade wieder vor dem Spiegel aufmerksam in ihren Zähnen stocherte, schrie sie plötzlich auf. Mit verzogenem Gesicht und offenem Mund rannte sie zu ihrer Tasche, holte den Taschenspiegel heraus und steckte ihn vor dem großen Spiegel schräg nach oben in den Mund. Mit vor Angst weit aufgerissenen Augen betrachtete sie die Rückseite ihres Gebisses. Als ich fragte, was los sei, zeigte sie mit Abscheu nur auf den heruntergefallenen Zahnstocher. Ich hob ihn auf und sah, daß eine Made darauf saß.«
Es ist kein Zufall, daß sich Olga in den letzten Tagen vor ihrem Tod, ans Krankenhausbett gefesselt, etwas Weiches zum Naschen wünscht: »Oder sie schickte mich mitten in der Besuchszeit los, um eine Tüte Türkischer Honig für sie zu kaufen, das einzige, was sie sich mit ihren wackligen Vorderzähnen noch zu naschen traute.« Diese Szene ist symbolisch, nicht umsonst verdankt ihr der Roman seinen Titel.
Türkischer Honig ist etwas sehr Süßes. Es klingt köstlich, erweist sich aber als Henkersmahlzeit.
»Niemand ist näher bei der Wahrheit geblieben als ich«, sagte Wolkers. Hat er gelogen? Schriftsteller sind Mythomanen und Erzlügner. Das ist ihr gutes Recht. Dennoch meinte er es ernst, was er sagte, auch wenn er über die höhere Wahrheit, seine Wahrheit sprach, die der Fiktion, die viel realistischer, schöner und grausamer sein kann als die Wirklichkeit. Jan Wolkers sagte es mit den Worten von Dizzy Gillespie: »Wrap your troubles in dreams, there is no greater love.«
Onno Blom
Onno Blom, geboren 1969 in Leiden (Niederlande), ist Schriftsteller, Literaturkritiker und Journalist. Er arbeitet an einer Biographie über Jan Wolkers.
Aus dem Niederländischen von Carel ter Haar und Rosemarie Still
Nachwort
BEINHART UND RICHTIG IM TAKT
Am Anfang des dritten Teils von Cees Nootebooms Roman Rituale sieht der Protagonist Inni Wintrop, wie in der Amsterdamer Innenstadt eine Taube mit einem Auto zusammenprallt. »Ein blondes Mädchen« auf dem Fahrrad hält an, und es kommt zu einem Gespräch zwischen Inni und ihr über die tote Taube. Am Lenker des Mädchens sieht Wintrop eine Plastiktüte der Athenaeum-Buchhandlung baumeln. »Was ist denn da drin?«, fragt er. »Ein Buch von Jan Wolkers«, antwortet sie. Worauf Inni: »Da kann die Taube ruhig noch dazu. Es ist ja kein Blut dran.«
Eine für Nooteboom ungemein boshafte Passage. Im allgemeinen läßt er sich nicht über Kollegen aus, jedenfalls nicht über lebende, und in verschiedenen Interviews bekannte er denn auch einen Mangel an rechtem Talent zur Polemik. Daß es zwischen Inni und dem Mädchen zu einer flüchtigen sexuellen Begegnung kommt, wird niemanden verwundern. Mädchen mit Büchern von Wolkers am Lenker sind für alles zu haben, jedenfalls im Amsterdam des Jahres 1973, dem Jahr, in dem die beschriebene Szene sich abspielt.
Der Sex, oder besser: der erotische Kontakt, verläuft in für Nooteboom typischer Weise, und kaum einen größeren Gegensatz zur Sexualität bei Wolkers könnte es geben als diese zärtlich-ironisch beschriebene Begegnung. So vergleicht der Erzähler Innis Leistung im Bett mit einem zu großen Auto auf einer schmalen englischen Landstraße, worauf er hinzufügt: »Ein paar Jahre später sollte die halbe amerikanische Autoindustrie an einem solchen Anachronismus zugrunde gehen.« Bei Nooteboom wird Sex Anlaß zu einer wehmütigen Reflexion über das Los der amerikanischen Autoindustrie. Kurz vor der Begegnung mit dem Mädchen und der toten Taube hat der Erzähler noch dem Gedanken nachgehangen, daß das Leben ein einziger Unsinn sei, dem man am besten mit Gleichmut begegne.
Von Gleichmut und Wehmut bei Wolkers dagegen keine Spur, wenn er sexuelle Vorgänge schildert: Sex ist bei ihm das Wesen der Liebe. Erst in der animalischen Selbstvergessenheit des Sex wird der Mensch ganz zu dem, was er ist – soll heißen, er befreit sich von allem, was seinem Wesen nicht eigen ist: Und zwar nicht, indem er das Tierische hinter sich läßt oder leugnet, sondern vielmehr, indem er sich ihm hingibt – das Animalische ist Leben, und zwar das eigentliche (wobei Wolkers gleichzeitig klar ist, daß der Sexualtrieb dieses Leben nicht nur ermöglicht, sondern auch insgesamt zerstören kann).
Intuitiv ahnt der Ich-Erzähler in Türkischer Honig, daß das bürge...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Copyright
  4. Autor
  5. Inhaltsverzeichnis
  6. Widmung
  7. Chicorée im Rasiertopf
  8. Die Flügel des Hermes
  9. Eine Pelzjacke in Bleu
  10. Someday Sweetheart
  11. Der Racheapfel
  12. Requiem für einen toten Spatz
  13. Der Überraschungsautomat
  14. Marxistische Gartenzwerge
  15. Peel me a grape
  16. Eine traumatisierte Maus
  17. Miss Wespentaille
  18. Die anatomische Grundstellung
  19. Die Hexenzentrale
  20. Cäsar und Brigitte Bardot
  21. Sicherheitsstreichhölzer
  22. Die Verwünschungsnägel
  23. Nice Dolls & Judaspuppen
  24. Fuck me I’m desperate
  25. Rosa Turbinata
  26. Das Wetter ist genauso schlecht wie die Menschen
  27. Beinhart und richtig im Takt
  28. Nachwort von Arnon Grünberg
  29. Back Cover