Lesereise Hongkong
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Lesereise Hongkong

Ein Flugloch für den Drachen

  1. 132 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Lesereise Hongkong

Ein Flugloch für den Drachen

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Hongkong zieht Besucher aus der ganzen Welt in seinen Bann. Rasso Knoller und Erik Lorenz spüren den vielen Gesichtern der Stadt nach – einer Metropole der Rekorde mit ihrem Meer aus Wolkenkratzern, einer Megacity, die nie zur Ruhe kommt. Die Autoren ergründen, warum Feng-Shui-Experten dafür sorgen, dass in so manchem Wohnblock ein großes "Flugloch" eingebaut ist. Sie finden heraus, welche Befindlichkeiten traditionsbewusste Ärzte mit getrockneten Geckos in Kohlsuppe kurieren. Und sie probieren kulinarische Delikatessen von Dim Sum bis Schwalbennest. Mit sicherem Blick für das Außergewöhnliche beschreiben Rasso Knoller und Erik Lorenz eine Stadt, in der Tradition und Moderne eine faszinierende Symbiose eingegangen sind.

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783711753236

»Sie nehmen mir meine Welt«

Ein Dorf verschwindet
Ich gehe vorbei an einer Holzfabrik, einem kleinen Militärflughafen und einer Metallverarbeitungsanlage, hinein in ein Industriegebiet. Lasse mich treiben, vom Wind, vom Zufall. Will aufs Geratewohl auf Entdeckungsreise gehen, weit weg von Hongkongs Zentrum.
So wenig einladend diese Gegend aussieht, so sehr zieht sie mich doch in ihren Bann. Rechts halb verfallene Gebäude, links aufgereihte Werkstätten, vor denen Stapel alter Reifen und Berge aufgeschütteter Ersatzteile potenzielle Kunden hereinlocken sollen. Ein Lastwagen, der zwei Bagger transportiert, donnert vorüber.
Rechts zweigt eine Gasse ab, flankiert von grünen Wellblechwänden und rostigen Maschendrahtzäunen. An den Wänden und Zäunen hängen Planen, Teppiche und Stoffbahnen, bemalt mit chinesischen Schriftzeichen. Ich bleibe stehen und schaue die Passage hinunter. Noch mehr Banner und Plakate, bis der schmale Weg eine Kurve macht und dem Blick entschwindet. Dazwischen einige Bilder von Menschen, die Transparente in die Luft halten, und Cartoons mit chinesischen Sprechblasen.
Ich verlasse den Fußweg neben der Straße und folge der Gasse. Hinter der Kurve hängen Farbfotosammlungen an den Zäunen: Ein Mann steht mit zwei überdimensionalen Gießkannen auf einem Feld, eine Familie versammelt sich zum Abendessen am Tisch, eine winzige Frau mit Strohhut bietet dem Fotografen einen Früchteteller an, eine andere Frau bearbeitet mit der Spitzhacke ihr Reisfeld. Aufnahmen einer kleinen Obstplantage, einer Knospe, eines einsamen Baumes, eines Bienenstocks. Alltägliche Szenen eines Dorfes.
Ich gehe weiter. Ein Mann auf einem Fahrrad kommt mir entgegen und lächelt schüchtern. Das Alter hat ihm tiefe Falten ins Gesicht gegraben. Er trägt ein blaues, mit Ölflecken besprenkeltes Baumwollhemd, auf seinem Kopf flattert die zerzauste Krempe eines Strohhuts. Sein Rad rattert und klappert wie die Blechdosen hinter dem Auto eines Hochzeitspaars. Es hat keine Farbe mehr, scheint aus purem Rost zu bestehen.
Dann sehe ich eine Zeit lang keine Menschenseele. Der Straßenlärm verklingt langsam. Zum ersten Mal seit Tagen ersetzt ihn das Zwitschern der Vögel. Ich wandere den Weg entlang auf groben Betonplatten voller Risse. Grasbüschel, kleine Sträucher und sogar junge Bäume brechen hindurch, als wollten sie die Gegend zurückerobern. Links und rechts wechseln einander Wellblechund Maschendrahtzäune mit Betonmauern ab. Hin und wieder komme ich an einer Einfahrt oder einem Durchgang vorbei, aber sie sind mit Toren versperrt. Dahinter stehen Gebäude mit ein oder zwei Etagen, die ihre beste Zeit lange hinter sich haben. Sie sind aus quadratischen Betonplatten erbaut, manche mit schmutzigen, winzigen Keramikfliesen verkleidet. Alles ist grau: Dort, wo einmal Farbe Oberflächen zierte, ist sie seit Langem verblichen oder abgeblättert. Die Häuser haben keine Türen, die Fenster sind kaputt. Dazwischen hängen riesige Schwarz-Weiß-Bilder. Sie wurden auf Pappe geklebt und an den Außenwänden befestigt oder wie Augenklappen vor den zerstörten Fenstern angebracht. Auf allen sind protestierende Menschen zu sehen, Gruppen und einzelne Personen. Eine große Versammlung auf einem Feld, nackte Füße auf Beton, Menschen, die auf dem Boden knien, das Gesicht auf den Asphalt gelegt, die Hände offen über dem Kopf ausgestreckt. Man könnte denken, sie beteten, wären da nicht Reihen von Polizisten, die mit ausdruckslosen Gesichtern auf sie herabblicken. Andere Bilder zeigen zu einer Schale geformte Hände, die Reiskörner halten, und eine Kette von Menschen, die mit ineinandergehakten Armen Widerstand leisten. Es sind vor allem junge Menschen, die protestieren, viele wohl gerade sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Die Bilder strahlen eine bedrückende Stille aus. Die Menschen knien oder liegen oder stehen, alle Münder sind geschlossen. Sie schweigen, aber in ihren Augen stehen Bitten und Hoffnungen.
Ein kratzendes Geräusch schreckt mich auf. Ich entdecke eine Frau, die langsam über den Hof vor ihrem verfallenen Haus schleicht und mit einem Besen Blätter und zerbröckelten Putz wegkehrt. Das Kratzen der Borsten über den Beton ist das einzige Geräusch, es wird von den kahlen Wänden der Gebäude zurückgeworfen. Sie selbst bewegt sich wie ein Schatten, lautlos und bedächtig, kaum wahrzunehmen. Sie wirkt weniger wie ein Mensch aus Fleisch und Blut als wie eine schemenhafte Erinnerung. Die Frau bemerkt mich und verharrt. Sie mustert mich und weicht bei meinem Anblick zurück – ein Wesen aus einer anderen Welt. Ich lächle ihr freundlich zu, bin mir aber bewusst, dass ich ein Eindringling bin. Sie lehnt den Besen an eine Wand und huscht in ihr Haus.
Die Gasse wird enger, ist kaum mehr einen Meter breit. An einer langen Häuserwand rechts, dicht hinter dem Zaun, kleben weitere Schwarz-Weiß-Bilder in Postergröße, eines neben dem anderen. Es ist fast wie in einer Kunstausstellung, nur ohne elegante Galerie, weiche Beleuchtung, geschmackvoll gekleidete, flüsternde Besucher und eloquente Redner. Es ist einsam und still. Grautöne und das Braun des Rosts in allen Abstufungen herrschen vor.
Was ist hier geschehen?
Ich bleibe vor einem Haus ohne Umzäunung stehen und blicke durch die zersplitterten Fenster. Es ist leer, nur ein alter Handfeger, einige Stühle und etwas Geschirr, das auf den Stühlen und auf dem Boden liegt. Alles ist bedeckt von einer dicken Staubschicht. Eine Holztreppe führt nach oben. Dort haben vermutlich die Kinder der Familie gewohnt.
Bald vernehme ich Baulärm: Hämmern, Bohren, metallisches Scheppern. Die Häuser links und rechts des schmalen Weges hören auf, aber der Weg führt weiter, über eine weite, ebene Fläche, bedeckt mit nichts als hellbrauner Erde. Rechts fressen ein Dutzend Bohrtürme Löcher in den Boden. Dazwischen stehen gelbe Zelte und mobile Toiletten. Geschäftige Arbeiter mit gelben Plastikhelmen wuseln umher. Nachdem ich die Baustelle überquert habe, erreiche ich ein Feld, das von Unkraut überwuchert wird. Ich passiere einige vernachlässigte Bananenpalmen, dahinter stehen Obstbäume. Dieses Feld wird noch bewirtschaftet. Es gibt Gewächshäuser, über einige Felder sind Netze gespannt, um sie vor Vögeln zu schützen.
Ich kehre um und lasse die Baustelle hinter mir. Im Dorf begegne ich einer Familie, die gerade ihr Grundstück verlässt: Großeltern, eine Frau in den Fünfzigern und zwei Töchter – junge Erwachsene. Die Frau sieht, dass ich mich interessiert umschaue, und fragt in sicherem Englisch, ob sie helfen könne. Sie sieht mich aus freundlichen Augen durch eine Brille an, deren rechtes Glas einen Sprung hat. Unter den Augen liegen Schatten, aber der Mund ist zu einem Lächeln geformt.
»Wie heißt dieses Dorf?«, frage ich und deute auf die Gebäude, die uns umgeben.
»Das ist Choi Yuen«, sagt sie. Sie spricht leise mit sanfter Stimme. Ihre Familie geht weiter und verschwindet hinter einer Biegung.
»Was ist hier passiert?«, frage ich. »Warum sind die Häuser verlassen?«
Sie legt ihre Stirn in Falten und sieht mich einen Augenblick an, als überlegte sie, ob ich einer Antwort würdig sei. »Vor einigen Jahren haben in Choi Yuen über zweihundert Familien gewohnt«, sagt sie. »Jetzt sind noch siebzehn übrig. Viele sind weggezogen, haben die Landwirtschaft aufgegeben und sich mit dem Entschädigungsgeld in den Hochhäusern eingemietet. Wir, die noch übrig sind, haben uns zusammengeschlossen und neues Land gekauft, die Straße runter. Unsere neuen Häuser werden gerade gebaut. Meine Familie und ich wollen uns heute die Fortschritte ansehen.«
»Warum müsst ihr euer altes Dorf verlassen?«, frage ich. »Und was hat es mit der Baustelle auf sich? Und die Plakate …«
»Eine Frage nach der anderen«, sagt sie und lacht ein leises Lachen. »So viel kann ich mir nicht merken.«
»Verzeihen Sie.«
»Unsere Häuser werden abgerissen, weil sie das Land für eine neue MTR-Station brauchen. Sie bauen eine Strecke, auf der ein Hochgeschwindigkeitszug zwischen Hongkong und dem chinesischen Festland fahren soll.« Ich bin bestürzt und weiß nicht, was ich sagen soll. »Aber … eure neuen Häuser werden schon gebaut«, bringe ich hervor. »Dann ist das alles nicht so schlimm, richtig?«
»Ich bin hier geboren«, sagt sie, während ihr Tränen in die Augen treten. Ich begreife die Naivität meiner Frage, aber es ist zu spät.
»Meine Familie und unsere Freunde haben dieses Dorf über Jahrzehnte aufgebaut«, sagt sie, »mit unseren eigenen Händen. Sie nehmen mir meine Welt …«
Mein Magen zieht sich zusammen. Die Frau macht eine Geste, als würde sie etwas aus der Luft wischen, das nur sie sehen kann, und sagt: »Ich muss weiter. Wir wollen zur Baustelle …«
»Ja, natürlich. Entschuldigen Sie, dass ich Sie aufgehalten habe.«
Mit einem »Auf Wiedersehen« eilt sie die Gasse hinunter, ihrer Familie hinterher. Dann ist es wieder still. Nur das entfernte Knattern der Bohrmaschinen ist zu hören.
Am Abend grüble ich über die Frau nach, die still ihren Hof gefegt hat, umgeben von Gebäuden, die so langsam zerfallen wie ihr Leben, über die vielen Bilder aus einer anderen Zeit, über die traurige Frau mit den freundlichen Augen. Nachdem ich so eine Stunde dagelegen habe, versuche ich im Internet herauszufinden, was mit dem Dorf passiert ist. Was ich lese, liefert zusätzliche Fragen statt Antworten und macht mich noch ratloser.
Da kritisieren Gegner, die neue Bahn würde die Umwelt schädigen, eine Lärmbelastung für die Anwohner darstellen und mit umgerechnet sieben Milliarden Euro extrem teuer sein. Alte Gebäude mit schwachen Fundamenten drohten entlang der Bahnstrecke einzustürzen. Die bestehenden Verbindungen genügten, die Zollabfertigung bei der Einreise ins Festland würde zu kompliziert werden.
Befürworter weisen dagegen darauf hin, sie sei für die Weiterentwicklung Hongkongs nötig, das zunehmender Konkurrenz ausgesetzt ist, zum Beispiel aus Singapur. Um international wettbewerbsfähig zu bleiben, müsse in die Infrastruktur investiert werden. Und eine Verlagerung der Station an einen anderen Ort in der Nähe von Choi Yuen hätte, so sagen sie, nahezu unweigerlich noch mehr Menschen betroffen.
Welche Seite auch immer recht hat: Mich bestürzt das Schicksal der Menschen von Choi Yuen, denen der Fortschritt ihre beschauliche Oase mit ihren Feldern und Plantagen genommen hat. Ich stoße auf die Seite der Choi Yuen Tsuen Concern Group und kontaktiere einen Studenten, der sich bereit erklärt, mich zu treffen. Er erwartet mich am Eingang zu der Gasse, die ins Dorf führt – oder zu dem, was davon übrig ist. Er stellt sich als Chow Sze Chong vor. Seine Haut ist weiß wie Porzellan. In seinem Gesicht thront eine Knollennase, die nicht recht zu den schmalen Zügen passen will und ihm zusammen mit seinen langen, dünnen Armen, die wie Fangarme an ihm herunterbaumeln, ein kauziges Aussehen verleiht. Er macht einen aufgeweckten Eindruck. Ich möchte mich bei ihm bedanken, ein paar Höflichkeiten austauschen, doch er will offenbar keine Zeit verlieren und kommt gleich zur Sache. Nach einer knappen Begrüßung beginnt er mit einem Kurzvortrag über das Schicksal des Dorfes und seiner Bewohner.
»Was mich an diesem Projekt besonders wütend macht«, sagt er und fuchtelt mit den Händen, »ist, dass die Interessen der kleinen Leute für ein paar Großkotze aus der Wirtschaft geopfert werden. Die angebotene Entschädigung war lächerlich. Die Regierung hat sich bewusst die Schwächsten unserer Gesellschaft ausgesucht. Die alteingesessenen Bürger, die schon seit Generationen hier wohnen, haben sie geschont. Die Regierung glaubte, die chinesischen Einwanderer, die ohnehin benachteiligt sind, würden sich am wenigsten wehren und am leisesten gehen. Die Entscheider haben gehofft, sie könnten ihre Stimme nicht erheben, aber sie haben nicht mit uns gerechnet. Wir haben einen ganz schönen Lärm gemacht!«
Langsam redet Chow Sze Chong sich in Rage. Er gestikuliert immer wilder, manche Sätze schreit er, dann wird er wieder ganz leise. Es ist leicht zu erkennen, dass ihm das Thema am Herzen liegt. Neben uns rasen die Autos ohne Unterlass durch das Industriegebiet.
»Wir haben Petitionen organisiert und Hungerstreiks veranstaltet, es gab Märsche und Protestzüge, wir haben Straßen blockiert und versucht, die Häuser vor dem Abriss zu schützen. Wir haben die Medien genutzt, um uns bemerkbar zu machen. Tausende Menschen haben das Gebäude des Legislativrats belagert und die Verkehrsministerin festgesetzt. Wir haben sie gebeten, herauszukommen und mit uns zu sprechen. Das war das erste Mal seit vierzig oder fünfzig Jahren, dass sich so viele Menschen zusammengeschlossen haben, um vor den Regierungsgebäuden zu protestieren. Wir haben alles versucht, den Bau der Strecke zu verhindern. Aber wir sind gescheitert und ein Großteil des Dorfes ist bereits verschwunden. Es ist eine Schande.«
»Hat die Regierung auch gute Gründe für die neue Bahnstrecke?«, frage ich, an meine Internetrecherche denkend. Er macht eine ungeduldige Geste und rollt mit den Augen, als hätte ich etwas unglaublich Dummes gesagt.
»Gute Gründe lassen sich für alles finden, aber es gab genug Alternativen. Unbebaute Flächen, verlassene Gebäudekomplexe, Parkplätze, die Militärbaracken, alles ganz in der Nähe. Seit Großbritannien Hongkong 1997 an China zurückgegeben hat, brauchen wir keine eigenen Streitkräfte mehr. Es sind nur noch ein paar Soldaten aus China hier stationiert und große Teile des Militärgeländes werden nicht genutzt. Aber die Armee wollte ihre verdammten Baracken nicht hergeben. Wir nicht, wir sind das Militär. Sollten doch diese Einwandererfamilien umziehen.«
Ich nicke verständnisvoll, wenngleich mein Kopf noch immer voller Fragezeichen ist. Ich vermute, dass die Wahrheit irgendwo zwischen Chow Sze Chongs Darstellung und jener der Befürworter liegt.
»Lass uns gehen«, sagt er und läuft los. Ich folge ihm und frage, was auf den Plakaten steht, die an den Zäunen hängen.
»Ermutigungen«, sagt er. »Haltet zusammen, gebt euch nicht geschlagen, baut uns erst neue Häuser, dann kann unser Dorf umziehen. Solche Dinge.«
Er führt mich durch das Dorf und übersetzt einen der Comics, die an den Zäunen befestigt sind. Die Zeichnung zeigt einen Lehrer, der neben einer Tafel steht und sich an seine Klasse richtet. Eine Sprechblase verrät seine Worte: »Die Geschichte hat uns gelehrt, dass wir um unser Recht kämpfen müssen. Unser Recht wird uns nicht von irgendwem gegeben, sondern wir besitzen es. Wir leben in diesem Dorf und die Regierung wird unsere Häuser und Familien zerstören, im Namen des sogenannten Entwicklungszeitalters. Wir müssen zur Tat schreiten, wir müssen der Regierung sagen, dass wir Bürgerrechte haben. Dazu gehört auch, dass wir in unseren Häusern wohnen können.«
Ein anderer Cartoon zeigt eine alte Frau, die aus dem Fenster ihres Hauses guckt, das bereits zur Hälfte demontiert ist.
»Denkt ihr, dass es eure Baustelle beschützt, wenn ihr zwei Schweine kauft?«, fragt sie einen Bauarbeiter, der an ihrem Fenster vorübergeht. Chow Sze Chong erklärt: »Das spielt auf den Brauch an, bei der Eröffnung einer neuen Baustelle ein paar Schweine zu braten und zu essen. Sie werden unter allen Mitarbeitern geteilt. So soll Schaden von der Baustelle abgewendet werden.«
Er folgt mit dem Zeigefinger den chinesischen Schriftzeichen und übersetzt die restlichen Worte der alten Frau: »Wir haben oft gesagt, dass wir umziehen werden, aber wir brauchen einen Ort, an den wir gehen können. Ich habe von der Regierung keinen solchen Ort bekommen. Was soll ich also tun? Ich kann den Schwachsinn nicht mehr hören, den ihr erzählt, während ihr euch an anderer Leute Häuser zu schaffen macht und gleichzeitig das Geld von den Wirtschaftsbossen kassiert.«
Chow S...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Über den Autor
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. Tempel, Hochhäuser und eine Stadt in Eile - Ein Querschnitt durch Hongkong und eine Vorschau auf dieses Buch
  7. Ein Flugloch für den Drachen - Hongkong ist die Feng-Shui-Hauptstadt der Welt
  8. Mit Geckos gegen Lungenschmerzen - Die traditionelle chinesische Medizin wartet mit so manchem kuriosen Rezept auf, allerdings auch mit Weisheiten, die der westlichen Medizin überlegen sind
  9. Der weiße Kranich schlägt mit den Flügeln - Tai Chi ist in Hongkong Volkssport. Nicht jeder Europäer erweist sich dabei allerdings als Talent
  10. »Dim Sum« und Schwalbennester - Hongkong ist die Stadt ständig dampfender Kochtöpfe
  11. »Sie nehmen mir meine Welt« - Ein Dorf verschwindet
  12. »Ihre Furchtlosigkeit macht mir Mut« - Proteste und Regenschirme
  13. Im Strom der Veränderung – Das Perlflussdelta - Das Perlflussdelta ist ein Gebiet der Extreme – selbst für chinesische Verhältnisse
  14. Delfine und Plastiktüten - Als Naturreiseziel ist Hongkong nicht gerade bekannt, trotzdem kann man dort eine Tierart beobachten, die es sonst nirgends gibt – die rosaroten Delfine von Lantau
  15. Hongkongs Inselwelten - Wer Hongkongs Inseln erkundet, kann die Vielseitigkeit der Metropole neu entdecken
  16. Der Bademeister und der tote Hai - Sommerfrische am Strand
  17. Goldene Jahre in Macau - Macau fasziniert nicht nur mit einem Sinnesrausch in gigantischen Kasinowelten, sondern auch mit einem beeindruckenden historischen Erbe, das von der kolonialen Vergangenheit der Insel zeugt
  18. Wettfieber in Hongkong - Die Hongkongchinesen lieben Pferde. Aber nur, weil sie auf sie wetten wollen
  19. Die schleichenden Doppeldecker - Das beliebteste Verkehrsmittel in der Stadt der Supermoderne ist ein Oldie vom Beginn des 20. Jahrhunderts
  20. Reserviert für den Gouverneur - Heute fahren vor allem Touristen mit der Bahn hinauf zum Aussichtspunkt auf den Peak. Früher waren mit ihr die britischen Kolonialherren unterwegs
  21. Ein Diamant im Kohlestück - Kunst aus der Volksrepublik China erzielt derzeit Höchstpreise. In Hongkong können dagegen auch Spitzenkünstler kaum von ihrer Arbeit leben
  22. Heiraten in Rot oder Weiß - Heiraten ist in Hongkong eine teure Angelegenheit. Allein das Shooting für die Hochzeitsbilder dauert mehrere Tage
  23. Dank