Wagfalls Erbe
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Wagfalls Erbe

  1. 445 Seiten
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Wagfalls Erbe

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Über dieses Buch

Viktor Wagfall weiß, dass er nicht mehr lange leben wird. Mit einer Mischung aus Sentimentalität und spleeniger Selbstvergewisserung, die das Altwerden mit sich bringen kann, setzt er sich Mitte der neunziger Jahre jeden Tag an den Schreibtisch, um ein nie erzähltes Geheimnis vor dem endgültigen Vergessen zu bewahren. Wer war Isidor Schweig? Vor und während des Zweiten Weltkriegs lebte Wagfall unter eben diesem Namen als Gemäldefälscher in Paris und fertigte virtuose Kopien von Malern wie Courbet, Renoir, Bonnard oder Matisse an. Nach der Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 arbeitet Viktor Wagfall zwar offiziell bei der Reichsbahn in Paris, richtet sich aber, um weiterhin malen zu können, ein geheimes Doppelleben ein. In seiner Freizeit verschwindet er als Maler Isidor Schweig in einem Atelier am Montmartre. Viktor Wagfall schildert in seinen allzu späten "Confessions", die er Aufzeichnungen eines melancho­lischen Kunstfälschers nennt, was in jener Zeit auf dem Pariser Kunstmarkt passiert, von der Zusammenarbeit mit korrupten Nazi-Kunsthändlern und vom "Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg", der im Jeu de Paume die geraubte Kunstbeute der jüdischen Sammlungen zusammentreibt. Mit Erinnerung umzugehen ist ein gefährliches und zugleich lustvoll melancholisches Unterfangen für den alten Wagfall. Er erzählt von seiner Leidenschaft für die Malerei und vom Handwerk des Fälschers. Vor allem möchte er die Geschichte einer besonderen Liebe, die sich in zwei von ihm kopierte Gemälde eingeschrieben hat, noch einmal vor sich entstehen lassen und weitergeben. Im Heute: Wagfalls Hinterlassenschaft einer lange verschwiegenen Vergangenheit wird zu einer Herausforderung für seine Kinder. Viele Jahre nach seinem Tod stößt seine Tochter Karolin, die sich als Fotografin ausgerechnet Paris als Wohnort ausgesucht hat, nicht nur auf das Manuskript, sondern auch auf ein bedeutendes Gemälde.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783955101893

1

Es gibt heute niemanden mehr, der Isidor Schweig noch gekannt hätte. Außer mir, denn ich selbst war es, Viktor Emanuel Wagfall, der sich vor langer Zeit so nannte. Nur ich allein kann und muss zum Erzähler seiner Geschichte werden.
Der Namenstag der Isidors fällt mit meinem Geburtstag zusammen, dem 4. April, und das ist wahrscheinlich der einzige Grund, warum mir dieser kuriose, in unseren Breitengraden eher ausgefallene Name schon als Kind geläufig war, sodass ich ihn eines Tages zu meinem Pseudonym auserkor. Wenn ich ihn leise flüsternd vor mich hinsprach wie eine magische Formel, I-Si-Dor, wurde ich auf der Stelle in eine fantastische Welt versetzt, in eine nur mir bekannte, nur mir zugängliche innere Geheimwelt. Im alten Griechenland bedeutete Isidor »Geschenk der Göttin Isis«. Viel später sind mindestens zwei Isidors in die Geschichte eingegangen. Im siebten Jahrhundert lebte Isidor von Sevilla, ein hochgebildeter Mann seiner Zeit, Kirchenvater und Gelehrter, der nicht nur Schulen und Bibliotheken erbauen ließ, sondern auch die dazugehörigen wissenschaftlichen Werke schrieb. Dann gab es noch Isidore Ducasse, der unter dem Künstlernamen Lautréamont die verruchten und sehnsüchtigen Gesänge des Maldoror verfasst hatte. Er starb mit nur vierundzwanzig Jahren unter nie geklärten Umständen. Das war im Jahr 1870, während der Belagerung von Paris durch die Preußen, als es in der ausgehungerten Ville-Lumière außer Krähen, Ratten und den Tieren aus dem zoologischen Garten nichts mehr zu fressen gab.
Ich wurde 1914 geboren, kurz vor dem Ausbruch des nächsten Krieges mit Frankreich. 1914 standen sich auf der einen Seite der Dreibund mit Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien und auf der anderen die Triple Entente mit Russland, Großbritannien, Frankreich feindlich gegenüber. Italien gehörte also noch – aber nicht mehr für lange Zeit – zu den befreundeten Ländern während dieser spannungsgeladenen Monate vor dem eigentlichen Kriegsbeginn. Dies schicke ich voraus, um zu erklären, warum mich meine Eltern auf die Namen Viktor, der Sieger (der Krieg lag ja schon in der Luft), und Emanuel tauften – nämlich nach Vittorio Emanuele III, dem damaligen König Italiens. Nur ein paar Monate später, nachdem Italien zum Feind übergelaufen war, wäre ihnen dieser Name sicherlich nicht mehr in den Sinn gekommen. Meine gesamte Kindheit und Jugend hindurch trug ich also den Namen eines feindlichen Königs, der noch dazu ab 1918 zu den gegnerischen Siegermächten gehörte, bis sich nach 1933 Hitler-Deutschland und Mussolini-Italien ideologisch wieder angenähert hatten und mein Name dadurch von Neuem akzeptabel wurde.
Was meine Eltern wohl mit dieser Namensgebung im Schilde führten? Ein königlicher Sieger sollte ich wahrscheinlich werden. Wenn mein Vater zu Hause vom Flur hinaufrief: »Viktor Emanuel, komm sofort herunter!« – und nicht etwa nur Viktor oder Vik –, dann wusste ich, dass es Ärger geben würde, oder aber, dass Besuch gekommen war. Es klang scharf, hart und verantwortungsvoll. Ich schaute in den Spiegel, spuckte in die Hände und rieb eine widerborstige Strähne platt. Es war immer dieselbe. Schon früh hatte ich das Gefühl, wegen dieses hochtrabenden Namens Verantwortung für etwas zu tragen, für mich und meine Familie, vor allem aber dafür, den in mich gestellten Erwartungen gerecht zu werden. Wenn ich also »Viktor Emanuel!« von unten heraufschallen hörte, wünschte ich auf der Stelle, mit einem Zaubertrick verschwinden zu können, am besten, indem ich in eine andere Person hineinschlüpfte. Warum nicht in einen Isidor.
Isidors tatsächliche Existenz begann in meinem sechsten oder siebten Lebensjahr. Der Erste Weltkrieg war schon längst vorbei, ein neues Jahrzehnt hatte begonnen, das zweifellos besser sein würde als das vorhergehende. Isidor war von Anfang an ein leidenschaftlicher Maler. Oder, anders gesagt: Ab einem bestimmten Zeitpunkt hatte ich meine Leidenschaft fürs Malen jener Identität übertragen, der ich, spielerisch und ernsthaft zugleich, den Namen Isidor gegeben hatte. Der saß nun wenn irgend möglich an seinem kleinen, zerkratzten und beklecksten Holztischchen und malte. Er malte konkrete Häuser, abstrakte Wälder, Automobile, die Umrisse seiner Hände und Füße, Fahrräder mit riesigen Rädern, Vögel mit fantastischen Flügeln, Fische, Drachen und seine korpulente Mutter, der dicke Tränen über die Wangen liefen, aber keiner verstand warum, denn nie im Leben hatte sie vor ihren Kindern geweint. Sobald er einen Stift, ein Blatt Papier oder gar einen Farbkasten in die Hände bekam, versank er in eine andere Welt aus Farben und ganz speziellen Gerüchen. Die verschiedenen Düfte von Papier und Schiefer, von Kreide, Kohle, Wachsstiften oder Wasserfarben trieben ihn weit aus sich selbst hinaus – oder tief in sich hinein, je nachdem, wie man es betrachten wollte. Isidor malte. Wasserfarben hatten einen ganz besonders reizvollen Geruch, etwa wie nach schillernden Gewässertümpeln im Wald.
Sobald in seiner Umgebung ein neues Bild oder ein neues Gemälde auftauchte, studierte Isidor es eingehend, ging in sein Zimmer, verschloss die Tür und malte es nach. Nicht nur einmal, sondern mehrmals und in verschiedenen Versionen. Er war nun schon zehn oder elf Jahre alt. Kühe zum Beispiel. Er wurde bald zum Fachmann für gescheckte Kühe. Die Wände in seinem Elternhaus wurden von einer Reihe schwäbischer Landschaften heimischer Maler geziert, farbintensive Gemälde mit Hügeln, Bächen, Bauern, Wiesen, Wegen, mit Katen und Bauernkindern und ebenjenen gescheckten Kühen. Außerdem hingen im Wohnzimmer ein tanzender Mädchenreigen in Trachten und ein Stillleben mit Fruchtschale. Eine Reihe von vier Porträts erhabener Vorfahren, die steif, grimmig oder stolz auf einen hypothetischen Betrachter herabblickten, belebte mehr schlecht als recht die Esszimmerwände. Die Flure und der Treppenaufgang des Hauses waren mit Stichen dekoriert, an denen Isidor geflissentlich vorbeischaute, so hässlich waren sie. Mit Ausnahme einer Serie von eindrucksvollen Pferdestichen, die von einem gewissen Johann Elias Ridinger stammten. Jeder Ridinger-Stich stellte einen Lipizzaner mit Reiter und jeweils eine Figur aus der Hohen Schule der Reitkunst dar. Die Nadelstiche der Gravur setzte Isidor in unendlich vielen Etüden und Varianten mit dem Bleistift in zunächst unbeholfene Zeichenstriche um, verfeinerte mit der Zeit den feurigen Ausdruck der Pferde und übte sich in der Darstellung der edlen, durchtrainierten Muskulatur. Dem Reiter maß er wenig Bedeutung bei und wischte ihn auf dem Papier nur flüchtig dahin.
Zu seinem zwölften Geburtstag erhielt er endlich nach langer, mühsamer Überzeugungsarbeit einen großen Holzkasten, der eine Palette mit Daumenloch, ein Bündel Pinsel (Borsten- und Marderhaarpinsel), Malmesser, Leinöl, Terpentinöl und vor allem vierundzwanzig herrliche Zinntübchen mit reinen Ölfarben enthielt. Ocker, Umbra, Karminrot, Kobaltblau, Indigo, Krapplack, Chromgelb, Smaragdgrün – magische Namen. Nichts liebte er von da an so sehr wie den Geruch von Ölfarbe, für Isidor duftete sie besser als sämtliche Parfums seiner Mutter. Ölfarbe hatte in erster Linie mit den Augen, mit Sehen zu tun, aber es war auch eine Angelegenheit der Nase und sogar der Fingerspitzen. Wenn er wissen wollte, ob die Konsistenz seiner Farbmischung gelungen war, spachtelte er einen kleinen Klecks Farbe auf den Zeigefinger, rieb ihn mit dem Daumen, hielt dann den Finger unter die Nase zum Riechtest und untersuchte schließlich die Farbpigmentierung. Notwendig war das nicht, sein Pinselgefühl hätte ausgereicht, aber es war ein sinnliches Vergnügen. Mit Zugabe von Leinöl wurde die Farbe wieder feuchter und der Trocknungsprozess hinausgezögert, mit Terpentinöl wurde sie dünnflüssiger, ohne an Intensität zu verlieren. Malbutter legte er sich auch bald zu, sie bestand aus zähen Harzen und half ihm, seine Farben anzudicken und einen pastosen Effekt auf die Leinwand zu bringen. Kopaivabalsam hingegen, wenn er frischer Ölfarbe beigemischt wurde, machte die Konsistenz cremiger und sanfter, was besonders weiche Farbübergänge ermöglichte. Er roch nach frischem Pfeffer und Zedernholz. Nachdem die Eltern sich einige Monate lang hatten überzeugen können, dass Isidor seine Ölfarben auch wirklich benutzte, bekam er zu Weihnachten die ersehnte Staffelei mit einem Stapel schon bespannter Keilrahmen.
Isidor führte über viele Jahre hinweg eine Parallelexistenz zu Viktor Emanuel und hatte ein vollständiges, aber diskretes Eigenleben. Ich erinnere mich – sogar ein ganzes Leben später noch – an das Gefühl, das ich zu mir selbst hatte, und das sich änderte, je nachdem, ob ich gerade in der Isidor- oder in der Viktor-Rolle steckte. Nach außen hin gab es natürlich nur den einen, einzigen Viktor. Isidor war wie ein zweites Ich, wie ein heimlicher Schatz in einer verborgenen Kammer meines Selbst, und abwechselnd schlüpfte ich vom einen zum anderen, reibungslos, ohne dabei ein Kostüm wechseln zu müssen. Isidor träumte, Isidor las, Isidor schaute sich eingehend Gemälde an und vor allem: Isidor malte. Sonst nichts. Die beiden führten intensive Gespräche miteinander, unauffällig, weil niemand von Isidors Existenz erfahren durfte. Ich hatte schon als kleiner Junge instinktiv begriffen, dass diese Seite in mir unerwünscht war, nicht in meine bürgerliche Umgebung passte und sogar aus dem Rahmen der Akzeptanzmöglichkeiten meiner Eltern fiel, sollte sie mehr Platz einnehmen als ein kindliches Hobby.
Als Isidor mit den Jahren immer professioneller wurde, vom begabten Kind mit Malkasten zum jugendlichen Talent an der Staffelei herangewachsen war, und ich für mein heimliches Alter Ego eine mögliche Zukunft als Maler zu erhoffen begann, fügte ich dem Isidor, damit es stattlicher klang, auch einen Nachnamen hinzu. Ich hatte im Französischunterricht gerade ein Wort gelernt, das mir besonders gut gefiel: Chut! sagte man für »psst«, im Sinn von »sei still«, »schweig still« oder »horch«. Es war ein sanftes Wort, auch ein Wort, das heimliches Einverständnis suggerierte und im Zusammenhang mit einem Geheimnis gesagt wurde. Chut wird wie Schüüt ausgesprochen, mit einem zischenden Sch, dem langgezogenen ü und einem sachte gesprochenen t. Man legte den Finger an den Mund und sagte ganz leise chut!, nachdem man einem Freund ein Geheimnis anvertraut hatte. Es bedeutete dann so viel wie »sag’s nicht weiter«. Oder, wenn man auf einem Spaziergang plötzlich in unmittelbarer Nähe ein wildes Tier bemerkte und es nicht aufschrecken mochte, flüsterte man chut! und hielt mit der flachen Hand den an seiner Seite voranschreitenden Begleiter zurück. »Isidor Chut«, dachte ich zunächst, versuchte es mit einem eingedeutschten Schüt, dann Schütt – es befriedigte mich nicht. Der Sinn passte zwar, er bezeichnete ja aufs Beste mein Geheimnis, aber es hörte sich seltsam an. Auch der Anblick der Unterschrift missfiel mir, wenn ich diese Namensvarianten – Isidor Chut, Schütt, Chüt – zur Probe auf einen Bogen Papier schrieb. So kam ich von der französischen Bedeutung auf das Deutsche zurück: »Isidor Schweig«, sagte ich plötzlich vor mich hin. Dann schrieb ich Schweig mit dem hohen, schwungvollen Bogen im S, dem spitzen w in der Mitte und dem g, das einen Schlenker nach unten weg erlaubte. Schweig still, Isidor. Der Name passte und blieb.
Ich war mir zu jener Zeit noch nicht wirklich bewusst darüber, aber ich hatte offenbar das Glück, ein gut aussehender junger Mann zu sein. Heute ist mein Haar weiß und ich bin völlig aus der Form geraten, aber tatsächlich war ich einmal schlank, ein dunkler Typ mit dichtem Haar und üppigen Brauen, geschwungenen, fast ein wenig zu launischen Lippen und einer Nase, nun ja, ich glaube, dass sie ganz gut ins Gesamtbild passt, nicht knollig, nicht zu groß, nicht zu klein – sogar heute noch. Und meine Augen sind bernsteinfarben, brauner Bernstein mit grüner, kupfer- und ockerfarbener Maserung. Isidor und die Malerei gerieten einige Zeit lang ins Hintertreffen, nachdem ich bemerkt hatte, dass sich tatsächlich hübsche Mädchen für mich interessierten, noch bevor ich angefangen hatte, sie überhaupt wahrzunehmen. Die letzten Jahre vor dem Abitur waren hart. Ich musste meine intellektuelle Schwerfälligkeit oder vielmehr die Momente einer seltsamen Abwesenheit im Unterricht durch zusätzliches Lernen zu Hause wettmachen, denn es war ausgeschlossen und völlig inakzeptabel, dass ich das Abitur etwa nicht bestehen würde. Noch dazu hatte der Börsenkrach von 1929 die Wirtschaft und damit auch meinen Vater ruiniert, was unser Familienleben komplizierter machte. Meine Mutter war ständig am Ende ihrer Nerven, mein Vater ließ sich selten blicken oder hatte unerträgliche Launen. Dem Gärtner wurde gekündigt und dann auch der Hausangestellten, schließlich kam es so weit, dass unser Sägewerk endgültig Pleite machte. Mein Vater fühlte sich gedemütigt von seinem vermeintlichen Versagen und musste ein neues Auskommen für die Familie finden. Ein Stockwerk unseres Hauses wurde vermietet.
Der Alltag wurde kleinlicher, enger, schwieriger. Ich stand wie neben mir, als hätte Isidor mich verlassen oder sei aus mir herausgetreten, als hätte dieser Verlust mich aus meinem inneren Gleichgewicht geworfen. Freilich konnte ich mit sechzehn, siebzehn Jahren keine infantilen Zwiegespräche mehr mit meinem Alter Ego führen. Auch konnte ich nicht mehr zwischen Viktor und Isidor hin- und hergleiten, je nachdem, ob ich auf der Schulbank saß oder allein in meinem Zimmer. Isidor war noch da, auf diffuse Weise Teil von mir, aber ich wusste nicht mehr, wie ich ihm begegnen sollte. Wenn ich mich an eine neue Leinwand setzte, kam es vor, dass ich mich dabei lächerlich fühlte, ohne eigenes Talent, fantasielos. Die eiserne, bürgerliche, noch mit einem Fuß im vergangenen Jahrhundert verbliebene Welt, in der ich aufgewachsen war und die mich zutiefst geprägt hatte, prallte mit Wucht gegen die Avantgarde der zwanziger Jahre, die ich in Zeitschriften wie Der Sturm oder der Gazette des Beaux-Arts mit begeistertem Staunen und einem intuitiven Rest Missbilligung entdeckte. Die deutsche 19.-Jahrhundert-Welt der Spitzweg, Menzel, Leibl, Thoma hatte nichts mehr gemein mit der Auflösung der Formen und Perspektiven von Matisse oder Picasso, mit Fauvismus, Expressionismus und Kubismus oder der Abstraktion von Kandinsky und Klee.
Je mehr der Isidor meiner Kindheit in die Ferne rückte, desto mehr wurde er für mich zu einer Sehnsuchtsgestalt. Manchmal hatte ich gute Lust, alles hinzuwerfen, den Anzug, die Krawatte, die schicke neue Ledermappe, und mich als junger Künstler auf und davon zu machen. Auf in die Welt. Davon nach Paris. Das große Herz der Kunst schlug in Paris, dort und nirgendwo sonst auf der Welt war die europäische Avantgarde zu Hause. Paris war die Stadt der Städte, Mittelpunkt meiner erregten Gedanken, Quelle meiner provinziellen Fantasien.
Die Malerei interessierte mich allmählich auf eine neue Weise, mit einer noch unausgereiften Wissbegierde. Ich lieh mir in der Bücherei einschlägige Werke zur Malereigeschichte aus oder Bände über einzelne Künstler und unternahm erste Ausflüge in die Stuttgarter Staatsgalerie. Mit der Eisenbahn brauchte ich keine halbe Stunde bis in die Stadt. Dort hingen die alten Meister der italienischen und französischen Schule oder Maler des deutschen Klassizismus, und dort entdeckte ich auch Hans Memlings erstaunliche »Bathseba im Bade«, die ich bei jedem Besuch von Neuem fasziniert betrachtete. Vor allem aber begegnete ich in den Sälen, ob es sich nun um Malerei, um Bildhauerei oder das graphische Kabinett handelte, den Schülern der Württembergischen Akademie der bildenden Künste. Sie saßen auf einem kleinen Holzschemel vor einem Gemälde, einer Zeichnung oder einer Skulptur und machten nichts anderes als das, was ich seit der Kindheit mit den Bildwerken meiner direkten Umgebung gemacht hatte: Sie zeichneten es als Studienobjekt ab, und mancher Schüler der Akademie fertigte sogar, mit Staffelei, Palette und Ölfarben ausgerüstet, eine mehr oder weniger exakte Kopie von einem der Gemälde an, das da an der Museumswand hing.
Das imponierte mir. Ich schaute ihnen über die Schulter und guckte mir Tricks und Techniken ab, von denen ich zuvor keine Ahnung hatte. So hatte ich die Vorzeichnungen zu meinen Kopien immer recht frei angelegt, in ungefähren Proportionen, weil es mir ohnehin nie um hundert Prozent exakte Kopien gegangen war, sondern um das Vergnügen am Können, auch daran, die Essenz eines Gemäldes zu erfassen. Dass es aber auch eine Quadratnetzmethode gab, durch die man die Proportionen eines Gemäldes in der Kopie verkleinern oder vergrößern konnte, lernte ich erst durch die Akademieschüler, die mir zeigten, wie man seine Bildvorlage in Raster einteilte, diese dann auf das Kopie-Blatt oder die Kopie-Leinwand übertrug und zuletzt Schritt für Schritt jeden Bildausschnitt abzeichnete. Ich merkte aber auch, dass ich den Kunststudenten in Sachen maltechnischer Geschicklichkeit in keiner Weise nachstand. Mit dem einen oder anderen kam ich häufiger ins Gespräch, wir kannten uns bald bei Namen und tauschten uns über unsere Erfahrungen aus oder sprachen über die Maler, die uns gerade beschäftigten. Da ich kein Akademieschüler war, durfte ich offiziell nichts im Museum nachzeichnen und schon gar nicht mit voller Maler-Ausrüstung vor einem Werk sitzen, um es zu kopieren. Bei meinen Besuchen nahm ich deshalb diskret Block und Bleistift mit, und wählte mir jedes Mal ein anderes Gemälde aus, von dem ich ohne Aufsehen zu erregen kleine Skizzen anfertigte, mir Notizen zu Farben, gestalterischen Besonderheiten und Details machte. Wieder zurück zu Hause fertigte ich dann eine Kopie an. Meistens verschenkte ich sie gleich weiter, es gab bald niemanden mehr unter Freunden und Verwandten, der nicht ein Gemälde von mir an der Wand hängen hatte. »Bathseba im Bade« fand besonderen Anklang, sodass ich sie gleich mehrmals nachmalte – wobei meine Freunde eine üppigere Version der Bathseba bekamen.
Die Erfindung des neuen Isidor war ein langer Prozess. Aber eines Tages stand er vor mir: Chut, schweig still, Isidor Schweig, du wirst nicht nur ein Maler, sondern Maler und Kopist! Kopist, um noch nicht Fälscher zu sagen (denn zu einem Fälscher wurde ich erst ganz allmählich, viel später), sondern um mir selbst deutlich zu machen, was ich am besten konnte, wozu ich am virtuosesten fähig war, nämlich schon in jungen Jahren meisterlich die Meister zu kopieren. Er (beziehungsweise ich), Isidor Schweig, würde mir helfen, im Spagat den Abgrund zwischen meinem Bedürfnis nach Malen und der Anpassung an meine Umgebung zu überbrücken. Ich hatte mich dazu entschieden, eine bewusste Doppelexistenz zu führen. Viktor und Isidor waren nicht mehr wie Ying und Yang in einem Rund, sondern zwei unterschiedliche Möglichkeiten meines Selbst, die janusköpfig in entgegengesetzte Richtungen blickten. Je nach der Situation, in der ich mich befand, konnte ich den einen oder den anderen ausspielen wie zwei unterschiedliche Trumpf-Karten.
Ich glaube, dies ist die einzig schlüssige Erklärung für … Für meine Lüge? Oder das notorische Weglassen einer Information? Ein ganzes Leben lang. Denn so muss ich es nun schwarz auf weiß benennen: Ich habe lebenslang einen Teil meiner selbst ausgegliedert und vor meiner nächsten Umgebung verheimlicht. Isidor war ein anderes Ich, ein Alter Ego im wahren Sinn der Worte. Ich empfand es tatsächlich so: Als wären es voneinander abgetrennte Lebensglieder, vergleichbar mit der Redewendung »die eine Hand weiß nicht, was die andere tut«. Auf dem Weg zum vierzigsten Lebensjahr jedoch, das war in den frühen fünfziger Jahren, habe ich Isidor Schweig nach einer langen Agonie endgültig von mir abgestoßen, in einer letzten, unglücklichen Häutung, habe ihn tief hinabgesenkt ins Moor des Vergessens, und ein neues Leben wie auf Stelzen im Morast als ein und derselbe ungeteilte Viktor Emanuel Wagfall mit Haus, Karriere und Familie darauf aufgebaut.
Deshalb kennt heute niemand mehr Isidor Schweig. Er hätte einer der lange unerkannt gebliebenen, dann unter spektakulären Umständen aufgeflogenen oder sich selbst entlarvenden Fälscher werden können, ein Han van Meegeren, ein Eric Hebborn, ein Edgar Mrugalla. Ich aber bin Oberamtsrat Wagfall geworden, ein beamteter Jemand, der niemand Bestimmtes ist, vielleicht der Mann, der ich wirklich war: ein Jedermann. Und wenn ich mir die Bilderrahmen auf dem Regal anschaue, gleich neben meinem Schreibtisch, mit den Fotos darin, bunt, schwarz-weiß, alte Zeiten, jüngere Zeiten, fröhlich, nachdenklich, ich – Viktor – inmitten meiner Lieben, Porträts von den Kindern, Lars, Alicia, Karolin, das große Wagfall-Familientreffen mit allen zusammen auf der Terrasse, Anna entspannt im Urlaub in Griechenland, dann frage ich mich, wo ich eigentlich war, wenn ich Cheeeeeese rief und auf den Auslöser drückte, oder aber mild, ein wenig trüb und doch freundlich lächelnd in Annas Kamera schaute, mit diesem seltsamen Blick, das fällt mir jetzt erst auf, der sich entschuldigen möchte. Dafür, dass ich da war, überlebt hatte in dieser Welt, vor allem aber dafür, dass ich ausgerechnet unter diesen Menschen weilte, meiner Familie. Als wäre alles ein dummer Zufall, ein Missverständnis, und als würde ich nur so tun, als ob ich dazugehörte. Als wäre ich ein Usurpator, jemand, der sich ins familiäre Gruppenfoto eingeschlichen hätte, nicht etwa aufdringlich, sondern ehrlich unbeholfen, geg...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Kapitel 1
  6. Kapitel 2
  7. Kapitel 3
  8. Kapitel 4
  9. Kapitel 5
  10. Kapitel 6
  11. Kapitel 7
  12. Kapitel 8
  13. Kapitel 9
  14. Kapitel 10
  15. Kapitel 11
  16. Kapitel 12
  17. Kapitel 13
  18. Kapitel 14
  19. Kapitel 15
  20. Kapitel 16
  21. Kapitel 17
  22. Kapitel 18
  23. Kapitel 19
  24. Kapitel 20
  25. Kapitel 21
  26. Kapitel 22
  27. Kapitel 23
  28. Kapitel 24
  29. Kapitel 25
  30. Kapitel 26
  31. Kapitel 27
  32. Kapitel 28
  33. Kapitel 29
  34. Kapitel 30