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Dr. med. Werner Wigger - Ein Leben voller Risiken und Nebenwirkungen

  1. 224 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Dr. med. Werner Wigger - Ein Leben voller Risiken und Nebenwirkungen

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

"Wigger, ich sorge dafür, dass Sie von der Schule fliegen!", droht der Lehrer für Staatsbürgerkunde. Es ist nicht die einzige Situation, in der Werner gedemütigt wird. Immer wieder gerät er als junger Christ in Konflikt mit dem DDR-System. Dass er später doch Medizin studieren darf, ist für ihn schlicht ein Wunder. Nach seiner abenteuerlichen Flucht in den Westen merkt er, dass die Freiheit ein wunderbares Geschenk ist, aber voller Risiken steckt. Seine Berufung findet er nicht nur in seinem Beruf als Arzt. Er ist offen für neue Wege, die Gott ihm zeigt. So entsteht nach eigenen Erfahrungen bei Auslandseinsätzen das "Deutsche Missionsärzte-Team".

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Information

Verlag
Brunnen
Jahr
2015
ISBN
9783765573590

Bereit zur Verteidigung des Sozialismus

Nach dem Abitur bekommt Werner tatsächlich die Zusage für einen Studienplatz für Medizin in Rostock. Er jubelt innerlich. Allerdings werden die Spielregeln klar genannt: Erst hat er den Wehrdienst abzuleisten; und nur wenn er eine gute Beurteilung durch die Armee bekommt, darf er anschließend mit dem Studium beginnen.
Werner quält sich mit der Entscheidung, wie er den Erwartungen des Staates nachkommen soll. Die Tatsache, dass er nun schon das zweite große Wunder erlebt (erst der Besuch der EOS, nun der Studienplatz), macht seine Anspannung nur noch größer. Die Zulassung zum Studium würde er auf jeden Fall wieder verlieren, wenn er den Armeedienst verweigerte. Soll er vielleicht wieder eine individuelle Position beziehen und zu den Bausoldaten gehen? Das ist die einzige Möglichkeit, um den Dienst mit der Waffe zu vermeiden. Viele Christen wählen diese Alternative als eine Art zivilen Ersatzdienst.
Diese inneren und äußeren Kämpfe zwingen Werner, sich bewusster als viele seiner Altersgenossen mit der Frage auseinanderzusetzen: Wer will ich sein? Was ist mir im Leben wichtig? Dadurch reift er zwar innerlich, aber es kostet doch eine Menge Kraft. Man kann sehr einsam werden, wenn man sich nicht einfach anpassen und für eine ersehnte Karriere verkaufen will. Es ist so schmerzlich zu erleben, wenn „Freunde“ sich im entscheidenden Augenblick doch wegducken oder wenn sie ihn verleugnen, um sich durch die Beziehung zu ihm nicht zu „verbrennen“. Jede neue Auseinandersetzung macht bewusst, dass man sich mit einem Gegenüber arrangieren muss, das willkürlich über Menschen verfügen kann. Hauptwaffe ist dabei die gezielt geschürte Angst.
Eins ist Werner sonnenklar: Als Bausoldat – und damit in den Augen der Machthaber als Verweigerer – hätte er seinen Studienplatz verspielt. Er fängt an zu grübeln. Hat nicht Gott ihm bisher auf wunderbare Weise einen Weg geebnet, der zwar nicht leicht war, aber der gegen alle Praxis des sozialistischen Bildungswesens erfolgreich gewesen ist? Kann er noch einmal ein Wunder erwarten, das größer wäre als alle bisherigen? Er sucht nach Gründen, die ihm bestätigen sollen, dass die aktive Armeezeit das kleinere Übel wäre. Auch bei den Bausoldaten wäre er ja in die Maschinerie der Armee eingebunden und müsste Bauten und Objekte erstellen, die auf lange Sicht der Militarisierung des Systems dienen. Wäre das nicht noch schlimmer? Vergeblich wartet er auf eine Antwort von Gott. Eigentlich weiß er, dass der Waffendienst für ihn nicht infrage kommt. Aber schließlich überwiegt seine Mutlosigkeit und führt ihn zu der Entscheidung: Ja, er leistet achtzehn Monate Dienst bei der Armee – gegen seine eigentliche Überzeugung.
Die Kaserne in Rostock liegt gleich gegenüber der neuen großen Neptun-Schwimmhalle. Werner wird einem Artillerieregiment zugewiesen. Am Rande des großen Komplexes im typischen Stil der Reichswehrkasernen steht der Block, in dem er die nächsten anderthalb Jahre wohnen wird. Alle sechs Monate wird eingezogen, und so sind die Einjährigen, die Halbjährigen und die Neuen zusammen in einer Kompanie.
Zwölf junge Männer teilen sich ein Zimmer. Vier sind einjährig, die sogenannten EKs (Entlassungskandidaten), vier sind halbjährig und vier Neue, die nur Spritzer genannt werden. Die Hierarchie ist klar: Die Spritzer werden von den EKs als „Knechte“ bezeichnet und müssen für sie Gefälligkeiten, Dienste und Besorgungen erledigen. Wer sich weigert, bekommt entwürdigende Sonderaufgaben. Die Armeeführung weiß um dieses Kastensystem, sieht aber über die Demütigungen hinweg. Die Soldaten sollen sich gegenseitig „erziehen“.
Auf der Bude gibt es sechs Doppelstockbetten, zwölf schmale Spinde, zwei Tische und zwölf Stühle. Als Werner sein Bett bezieht und dann versucht, die wenigen privaten Dinge im Schrank unterzubringen, fragt ihn ein Halbjähriger: „Eh, Spritzer, hast du was Spannendes zu lesen mit?“ Werner ist gerade dabei, seine Bibel in den Spind zu legen. Der andere meint: „Klasse, zeig mal her, ein Buch.“ Werner reicht ihm die Bibel, aber da stößt dieser schon einen Schrei aus: „Mensch Leute, guckt mal an, was der hier anschleppt! Ich werd verrückt, eine Bibel!“ Für Werner ist die Reaktion natürlich heftig, aber aufschlussreich: An dem Verhalten der anderen kann er ablesen, was sie von einem Christen halten. Die einen bleiben völlig unbeteiligt, andere machen spöttische Bemerkungen und einer fragt sachlich nach, ob Werner die Erlaubnis habe, das Buch in die Kaserne mitzubringen.
Von dem Moment an wissen die anderen, mit wem sie es zu tun haben. Werner muss an seine Mutter denken, die ihm immer eingeschärft hat, wie wichtig es ist, klar erkennbar zu sein. Natürlich wird häufig gespottet, aber damit kann er leben. Er merkt immer wieder, dass die Zoten verstummen, wenn er ins Zimmer kommt.
Die erste Zeit der Grundausbildung mit Märschen, Übungen und Politikunterricht macht ihm wenig aus. Er kann sich in die Strukturen der Armee einordnen. Doch mit der Zeit macht er eine beunruhigende Entdeckung. Das Bibellesen ist zur leeren Form geworden, als blättere er die Seiten nur noch um. Die Bibel spricht nicht mehr zu ihm, das Gebet ist keine Zwiesprache mehr mit Gott. Seine Glaubensbeziehung ist nicht mehr mit Leben gefüllt. Hat er Gott verloren, weil er aus Angst, den bereits zugesagten Studienplatz doch wieder zu verlieren, zur Armee gegangen ist? Zum ersten Mal in seinem Leben gerät er in eine echte Glaubenskrise. Bisher hat er immer widerstanden, hat Nachteile eingesteckt, aber eben auch Wunder erlebt, wenn er sich ganz auf Gottes Hilfe verlassen hat. Schweigt Gott hier in der Armee?
Der erste Heimaturlaub nach zwölf Wochen bringt keine Veränderung. Werner fährt zwar nach Wismar, kann jedoch mit niemandem über sein Problem reden. Aber er nimmt seine Trompete mit in die Kaserne, um bei der Weihnachtsfeier wenigstens ein paar Weihnachtslieder spielen zu können. Abends übt er hin und wieder in einem Kellerraum.
Am Heiligen Abend hat es noch einmal Kohlen gegeben. Mehrere Lkws kippen die Briketts einfach auf den Hof. Die Spritzer werden eingeteilt, die Kohlen mit bloßen Händen in Eimer zu sammeln und hinunter in den Keller zu tragen. Die Soldaten sind bald von Kopf bis Fuß in schwarzen Ruß gehüllt, schlimmer als die Schornsteinfeger. Mittags ist alles geschafft und der zuständige Feldwebel, der Spieß, sagt: „Befehl zum Duschen! In einer Stunde treffen wir uns im Klubraum und dann werden wir feiern, kräftig essen, satt trinken und jeder bringt einen Witz mit. Ich hoffe, dass hier niemand glaubt, dass wir in der Kaserne Weihnachten feiern mit eiapopeia und so frommem Kram. Wir werden Weihnachten feiern, wie richtige Männer das tun.“ In dem Moment ist Werner klar, dass er mit seiner Trompete total fehl am Platz sein wird. Ein Bekenntnis zum christlichen Hintergrund des Festes kann er sich sparen, schließlich weiß die ganze Kompanie, dass er Christ ist. Was hat ein Weihnachtslied bei einer solchen Veranstaltung verloren?
Dieses Weihnachten wird für Werner das traurigste und einsamste, das er je erlebt hat. In den Tagen nach dem Fest sucht Werner sich abends eine ruhige Ecke und nimmt sich Zeit zum Nachdenken. Innerlich ist er so leer, dass er sich auch von Gott total verlassen vorkommt. Er schreit zu ihm: „Jesus, gib mir eine Chance, wenn ich dir mit der Armee davongelaufen bin. Gib mir ein Zeichen, mein Gott, dass du mich doch nicht verlassen hast. Herr, ich kann und will ohne dich nicht leben, verlass mich nicht!“
Silvester kommt. Seine Gedanken gehen zu früheren Silvesterfeiern, die er meist im Rahmen von Gemeindefeiern begangen hat. Da wurde ein Abschnitt in der Bibel gelesen, viel gesungen, natürlich auch gefeiert mit gutem Essen und um Mitternacht betete man gemeinsam. Danach ging ein Körbchen mit Bibelsprüchen herum. Jeder zog eine persönliche Jahreslosung, eine Zusage Gottes für den Empfänger. Werner waren diese Worte immer sehr wichtig gewesen. Er klebte die kleinen Zettel unter sein Bücherbord am Bett, sodass er den Spruch immer vor Augen hatte, bevor er einschlief. Dieses Jahr wird dieser schöne Ritus ausfallen, deshalb bittet Werner seine Mutter, für ihn zu Silvester in der Gemeinschaftsstunde einen Vers zu ziehen.
Zwei Tage später kommt ein Brief mit der bedauernden Mitteilung, seine Mutter sei sehr erkältet gewesen und habe nicht zur Gemeinschaftsstunde gehen können. Stattdessen erhält Werner einen Brief aus dem Erzgebirge. Ellen, eine Freundin, hatte im Silvestergottesdienst die Eingebung, für Werner eine Losung zu ziehen. Dieser kleine Zettel liegt dem Brief bei. Als Werner ihn liest, kommen ihm die Tränen: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein“ ( Jesaja 43,1). Für Werner ist das die Antwort: Gott hat mich nicht verlassen, auch wenn ich ihm davongelaufen bin. Ich bin immer noch sein Kind. Er zieht sich die dicke Filzjacke an und geht wieder zu seiner stillen Ecke. Dort kniet er sich nieder und dankt seinem Herrn für die Zusage und den neuen Anfang. Er betet auch darum, dass die Armeezeit nicht umsonst sei und dass Gott ihm eine Aufgabe zeigen möge.
Bisher dachte Werner, er sei der einzige Christ in der Kaserne. Doch auf einmal begegnen ihm mehrere junge Männer, die sich auch als Christen zu erkennen geben. Schließlich sind es zehn. Es ist, als hätte Gott alles vorbereitet. Gibt es irgendwo einen Platz, wo sie sich ungestört treffen und in der Bibel lesen können? Sie beten dafür – und die Antwort kommt schnell. Auf dem Gang in seiner Kompanie liegt das Sanitätszimmer, in dem kleine Verletzungen behandelt werden. Für dieses Zimmer wird ein Verantwortlicher gesucht, der den Schlüssel übernimmt, das Zimmer putzt und medizinisches Material auffüllt.
Werner meldet sich freiwillig – vor allem, weil ihn die medizinische Aufgabe reizt. Aber bald merkt er, dass auch hier Gott vorgesorgt hat. Da dieser Raum nur in Bereitschaft gehalten wird, kann er hierher seine Mitchristen einladen. Und fortan werden im Saniraum nicht nur körperliche Wunden behandelt, sondern er wird auch zur Pflegestelle für geistliche „blaue Flecke“. Hier sind die Christen ungestört, können sogar singen, beten und Gespräche führen. Einmal in der Woche treffen sie sich: Mitglieder aus der Landeskirche, aus Freikirchen und der Gemeinschaft.
Als Kompanieschreiber wird immer einer der Rekruten verpflichtet, und der bisherige ist auf Werners Bude. Er ist Entlassungskandidat und fragt schon mal im Zimmer, ob ihm jemand helfen kann, denn der Papierkram bei der Armee ist enorm. Er schafft seine Arbeit nicht in der regulären Arbeitszeit. Wenn er um Hilfe bittet, wird er von den anderen nur verlacht, doch Werner ist bereit, hin und wieder zu helfen. Dadurch lernt er die Arbeiten kennen und wird auch dazu herangezogen, wenn der reguläre Kompanieschreiber krank ist oder Urlaub hat. Als der EK entlassen wird, bekommt Werner diesen „Posten“ übertragen. Dadurch ist er zwar an den Schreibtisch verbannt, muss aber auch nicht mehr bei jedem Wind und Wetter an Übungen oder Außendiensten teilnehmen.
Nach dem Drill in der Grundausbildung kommt der große Abschlussmarsch. Mit vollem Sturmgepäck geht es einen Tag lang über Landstraßen, durch Wald und unwegsames Gelände. Der etwas beleibte Rekrut Wellner fühlt sich körperlich nicht in der Lage und versucht, eine Befreiung zu bekommen. Doch der Arzt sieht keine Veranlassung. Im Gegenteil: Der Kompaniechef blamiert den Soldaten vor der ganzen Mannschaft als Drückeberger.
Doch der Marsch wird für Wellner zur Qual. Als sie durch einen Sumpf müssen, bricht er das erste Mal zusammen und liegt mit allem Gepäck im Wasser. Andere ziehen ihn hoch, anschließend muss er in seinen durchgeweichten und wasserschweren Klamotten weiterlaufen. Er klappert vor Kälte, nicht einmal das Marschieren kann ihn erwärmen, während andere sich die Seele aus dem Leib schwitzen. Dann wird der gefürchtete Gasalarm ausgerufen. Alle stülpen sich die Gasmaske, den Schnuffi, über und stolpern mehr vorwärts, als dass sie marschieren. Der Atem geht fauchend, die Gläser beschlagen und das Herz arbeitet auf Hochtouren. Wellner erbricht vor Erschöpfung in die Maske. Wenn nicht sein Nebenmann ihm schnell die Maske abgezogen hätte, wäre er erstickt.
Der Hauptmann lässt eine kurze Pause zu, aber dann ist schon wieder Fliegeralarm und alle müssen auf den Boden bis zum Waldrand robben. Rekrut Wellner kann nicht mehr robben. Er kriecht auf allen vieren über das sandige Feld. Auch als der Hauptmann brüllt: „Wellner, Arsch runter!“, ändert das nichts mehr an dessen Körperhaltung. Auf den letzten zehn Kilometern zurück zur Kaserne werden zwei Soldaten beauftragt, Wellner in die Mitte zu nehmen und anzutreiben. Einen Kilometer vor dem Kasernentor bricht er tot zusammen.
Die Soldaten sind erschüttert, aber an eine Anzeige ist nicht zu denken. In der Kompanie und im ganzen Objekt wird darüber geschwiegen. Irgendein General kommt nach Rostock, um die Sache aufzunehmen. Sein Kommentar: „Das kommt halt mal vor.“
Der Hauptmann muss in die Stadt, um ein Beerdigungsunternehmen für die Überführung zu beauftragen. Werner als neuer Schreiber begleitet ihn. Als sie allein im Jeep sind, traut sich Werner zu sagen: „Genosse Hauptmann, ich werde in der Schreibstube ja auch mit internen Armeedingen zu tun haben. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich Christ bin.“
Der Hauptmann meint lächelnd: „Wigger, Sie denken doch nicht, dass ich das nicht schon wüsste. Ich habe mich sogar gefreut, dass Sie diesen Dienst freiwillig übernommen haben. Wenn Sie wirklich Christ sind, dann kann ich Ihnen vertrauen und dann wird Ihre Arbeit gut werden. Ich halte zwar nichts vom Christsein, das ist für mich Privatsache, aber Sie werden ehrlich und korrekt sein.“
Den Dienst in der Sanistube macht Werner weiter. In der Kaserne ist bekannt, dass man dort auch hinkommen kann, wenn man private Probleme hat. Da sind junge Männer, die Sorge um ihre Beziehung haben, wenn lange kein Brief von der Freundin kommt. Sie wenden sich an ihn, wenn es Schwierigkeiten mit den Eltern gibt oder das Zusammenleben auf der Bude zur Hölle wird. Erstaunt und erfreut bemerkt Werner, dass auch solche aus seiner Bude kommen, die am Anfang gelästert haben.
Auch in der Kaserne sind wöchentliche Politschulungen unverzichtbar. Die Gesichter der Soldaten zeigen dabei demonstrativ Langeweile. Auch den Politoffizieren merkt man an, dass sie nur ein Pflichtprogramm abspulen, monoton und mechanisch klingt ihre Stimme. Eigentlich soll diese Schulung die Soldaten für ihren Friedensdienst motivieren und für die Ideologie des Arbeiter- und Bauernstaates begeistern, aber die Phrasen und Argumente sind immer die gleichen – kraftlos wie das ganze System.
In der Kompanie treffen die unterschiedlichsten Menschentypen aufeinander. Da sind die, die nicht negativ auffallen wollen. Sie wissen, dass die Abschlussbeurteilung der Armeezeit über ihre weitere Karriere entscheidet. Deshalb diskutieren sie mit und haben stets die Antworten parat, die der Vorgesetze hören will. Innerlich sind die meisten jedoch abgetaucht. Alles prallt an ihnen ab und keiner weiß, was sie wirklich denken. Sie wollen nicht angreifbar sein, ihr einziger Anspruch ist, in Ruhe gelassen zu werden. Auch der persönliche Umgang mit ihnen ist schwierig, weil sie nichts von sich preisgeben und Schwierigkeiten mit coolen Sprüchen überspielen. In der Schulung machen sie den unbeteiligten Eindruck eines vergessenen Regenschirms. Wenn es unvermeidbar wird, in der Politschulung einmal Stellung zu beziehen, werden bis zur Schmerzgrenze Phrasen heruntergeleiert.
Dann sind da noch die „einfach gestrickten“ jungen Männer, die Schulabbrecher und Hilfsarbeiter. Sie haben ihre kurze Karriereleiter bereits erklommen; jegliche Motivation für Bildung und Fortschritt ist ihnen fremd. Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben ihnen das Träumen abgewöhnt. Sie geben sich bewusst distanziert und demonstrieren, dass sie alles, was um sie herum vor sich geht, für absurdes Theater halten. Dennoch sind sie darauf bedacht, nicht angreifbar zu sein, obwohl sie oft hart an der Grenze jonglieren. Dabei sind sie nicht dumm, sondern an Gerissenheit ihren Vorgesetzten mitunter weit überlegen.
Einer von ihnen ist Bernd. Als sich endlich alle auf ihre Plätze gequält haben und sich sogleich wieder erheben müssen, als der Kompaniechef sie begrüßt, bohrt Bernd demonstrativ in der Nase. Unvermittelt fällt polternd etwas von seinem Tisch. Bernd kommentiert: „Entschuldigung, Genosse Oberleutnant, aber die verdammte Schwerkraft …“ Und sogleich fällt der nächste Gegenstand mit Gepolter auf den Boden.
Nach der üblichen Begrüßung: „Guten Tag, Genossen Soldaten“ – „Guten Tag, Genosse Oberleutnant“, können alle sich setzen. Wie üblich hat der Offizier einen Stapel Zeitungen dabei. Grinsend schaut er in die Runde: „Wer möchte uns denn heute vorlesen?“ Normalerweise meldet sich keiner freiwillig und er bestimmt wahllos einen, der nach vorne kommen muss. Die Artikel sind schon markiert und befassen sich mit den üblichen politischen Phrasen, die sie seit Jahr und Tag kennen.
Aber heute springt Bernd auf und ruft: „Ich, ich Genosse Oberleutnant! Darf ich heute vorlesen?“ Er wartet gar nicht erst auf eine Antwort, sondern stürmt nach vorn und greift sich die Zeitungen. Als er die erste überfliegt, murmelt er halblaut: „Oh, es gibt sicher wieder mal etwas ganz Neues und sehr Wichtiges.“ Nach kurzem Blättern im Neuen Deutschland liest er mit Pathos wie ein Pastor von der Kanzel eine bestimmte tagespolitische Meldung vor. Kaum ist er damit zu Ende, greift er eine neue Zeitung und murmelt wieder in erwartungsvollem Ton: „Na, und dann wollen wir doch mal sehen, was es sonst noch Wichtiges in der Deutschen Demokratischen Republik gibt, was die Junge Welt (Tageszeitung der FDJ) an Neuigkeiten für uns entdeckt hat.“
Mit grinsendem Gesicht und mit der gleichen pastoralen Stimme beginnt er zu lesen. Schon beim zweiten Satz beginnen die meisten hämisch zu grinsen, denn der Artikel in der Jungen Welt ist haargenau im gleichen Wortlaut abgedruckt, aber Bernd trägt ihn wie eine überraschende Neuigkeit vor. Sorgfältig faltet er die Zeitung wieder zusammen, greift nach der Ostseezeitung und murmelt: „Die Tagespolitik ist voller aufregender Ereignisse. Eine Neuigkeit jagt die andere.“ Mit gespielt strenger Oberlehrermiene schaut er über den Rand der Zeitung in die kichernde Runde: „Meine Herren, ich bitte um mehr Aufmerksamkeit, sonst verpassen Sie noch etwas.“ Und schon ist er dabei, den gleichen Artikel mit einer Stimme wie Hamlet vorzutragen, der wortw...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Zu diesem Buch
  6. Montagmorgen auf dem Schulhof
  7. Walfisch und Posaunen
  8. Ein Wunsch – ein Traum?
  9. Einführung in die sozialistische Produktion
  10. Als Christ auf eigenen Füßen
  11. Hürdenlauf
  12. „Die wollen ja betrogen werden“
  13. Freunde unter schwierigen Bedingungen
  14. Unter Verdacht
  15. Die unbekannte Akte
  16. Prager Frühling und Schaufensterpuppen
  17. Bereit zur Verteidigung des Sozialismus
  18. Zwischen Hörsaal und Klinik
  19. Leben im Niemandsland
  20. Druck – Hochdruck – Überdruck
  21. Ost-West-Treffen
  22. Codewort Schneewittchen
  23. In der Freiheit angekommen
  24. „Haben Sie Kühlschränke?“
  25. Der Schatten der Stasi
  26. Emil und der Weg nach Kanada
  27. Auf Urwaldpfaden in Peru
  28. Der beschwerliche Weg in die Realität
  29. Der lange Weg nach Afrika
  30. Hühner im OP
  31. Blockaden und Begeisterung
  32. Wiedererwachte Träume
  33. Mission mit Hindernissen
  34. Bei den Massai
  35. Nicht ohne meine Irmela
  36. Wir behandeln, Jesus heilt
  37. Sandras Mission
  38. Alles hat seine Zeit
  39. Klassentreffen
  40. Nachwort von Horst Marquardt „Ich will erkennbar bleiben“