Die Europäische Union
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Die Europäische Union

Zukunft, Chancen, Risiken

  1. 388 Seiten
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Die Europäische Union

Zukunft, Chancen, Risiken

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Über dieses Buch

Der Krieg ist so alt wie Europa. Unser Kontinent trägt die Narben von Speeren und Schwertern, Kanonen und Gewehren, Schützengräben und Panzern. Die Europäische Union wuchs auf den Trümmern eines von zwei Weltkriegen zertrümmerten Kontinents. Nur wer sich die Geschichte vor Augen hält, kann die Krise der europäischen Institutionen und der Gemeinschaftswährung historisch richtig einordnen. Die umfangreiche Textsammlung namhafter Autoren behandelt die Entstehung, Entwicklung und Perspektiven der Europäischen Union.

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Zukunftsperspektiven
Demokratie ist Ramsch
Wer das Volk fragt, wird zur Bedrohung Europas. Das ist die Botschaft der Märkte und seit 24 Stunden auch der Politik. Wir erleben den Kurssturz des Republikanischen.
Von Frank Schirrmacher
Zwei Tage - so lange hat die gefühlte neue Stabilität der europäischen Eliten gehalten. Schon vor Papandreous Coup sanken die Kurse. Zwei Tage zwischen der Patin Merkel, auf die die Welt schaute, und der Depression. Ein Kliniker könnte beschreiben, was das ist: eine Pathologie. Er könnt beschreiben, wie krank die kollektive Psyche ist, wie unwahr und selbsttäuschend die Größen- und Selbstbewusstseinsphantasien, die sie, auch mit Hilfe der Medien, entwickelt. Man kann es nicht anders als einen pathologischen Befund nennen.
Entsetzen in Deutschland, Finnland, Frankreich, sogar in England, Entsetzen bei den Finanzmärkten und Banken, Entsetzen, weil der griechische Premierminister Georgios Papandreou eine Volksabstimmung zu einer Schicksalsfrage seines Landes plant.
Im Minutentakt las man gestern, wie Banker und Politiker drohten und drohen, die Börsen brachen ein. Die Botschaft war eindeutig: Die Griechen müssten dumm sein, wenn sie ja sagten. Und Papandreou ein Hasardeur, weil er sie fragte. Doch ehe die Panik-Spirale des Schreckens sich weiter und weiter dreht, ist es gut, einen Schritt zurückzutreten, um klar zu sehen, was sich hier vor unser aller Augen abspielt. Es ist das Schauspiel einer Degeneration jener Werte und Überzeugungen, die einst in der Idee Europas verkörpert schienen.
Einige Protagonisten der Finanzmärkte denken voraus, und sie denken die sich abzeichnende Verfallsgeschichte einfach weiter. Der britische “Telegraph” berichtet über einen Witz, der in Finanzkreisen und offensichtlich auch im britischen Kabinett kursiert: Es wäre jetzt gut, in Griechenland putschte sich eine Militärjunta an die Macht, denn Militärjuntas dürfen nicht Mitglied der EU sein. Und “Forbes”, immerhin nicht irgendeine Adresse in der Finanzöffentlichkeit - der Redakteur überschrieb ursprünglich seinen Artikel mit: “Die wahre griechische Lösung: Ein Militärcoup”; er änderte es dann, offenbar, weil ihm nach Leserreaktionen mulmig wurde, in: “Die abstoßende griechische Lösung”) - dreht das Schleusentor noch ein wenig weiter auf: “Dieser Witz ist deshalb so traurig und bitter, weil - wenn wir das kleine Problem ignorieren, dass Griechenland dann eine Militärdiktatur wäre - er in Wahrheit ein gute Lösung für Griechenland zeigt.”
Man muss nicht alle Beziehungen des Witzes zum Unterbewussten kennen, um zu verstehen, wie massiv gerade moralische Übereinkünfte der Nachkriegszeit im Namen einer höheren, einer finanzökonomischen Vernunft zerstört werden. Solche Prozesse laufen schleichend ab, sie tun ihr Werk im Halbbewussten, manchmal über Jahrzehnte, bis aus ihnen eine neue Ideologie entstanden ist. So war es immer in den Inkubationsphasen der großen autoritären Krisen des zwanzigsten Jahrhunderts.
Denn man muss aufschreiben, was Papandreou gesagt hat und was in den Ohren Europas wie das Gefasel eines unberechenbaren Kranken klingt: “Der Wille des Volkes ist bindend.” Lehne das Volk die neue Vereinbarung mit der EU ab, “wird sie nicht verabschiedet”. In Deutschland, wir erinnern uns, verstand man unter Demokratie noch vor wenigen Tagen den Parlamentsvorbehalt. Erzwungen von unserem obersten Gericht und begrüßt von allen Parteien. Deswegen musste sogar ein EU-Gipfel vertagt werden. Nichts ist davon für Griechenland noch gültig.
Es reagiert auf die Zumutung, dass der griechische Ministerpräsident die Schicksalsfrage seines Volkes diesem Volk vorlegt, der vorbildlich sparsame Bundesbürger, es reagieren seine Politiker. Sie alle haben sich zu Gefangenen der Vorwegnahme von Erwartungen gemacht, die an den Finanzmärkten gehegt werden. Man schaue sich an, wo wir hingekommen sind: Worte wie die von Papandreou können jetzt als gemeingefährlich gelten.
Es wird immer klarer, dass das, was Europa im Augenblick erlebt, keine Episode ist, sondern ein Machtkampf zwischen dem Primat des Ökonomischen und dem Primat des Politischen. Schon hat das Politische massiv an Boden verloren, was man daran erkennt, dass alle politischen Begriffe, die mit dem geeinten Europa verbunden waren, im Wind zerstoben sind, wie Asche. Aber der Prozess beschleunigt sich. Das absolute Unverständnis über Papandreous Schritt ist ein Unverständnis über demokratische Öffentlichkeit schlechthin - und auch darüber, dass man für sie bereit sein muss einen Preis zu bezahlen.
Sieht man denn nicht, dass wir jetzt Ratingagenturen, Analysten oder irgendwelchen Bankenverbänden die Bewertung demokratischer Prozesse überlassen? Sie alle wurden in den letzten 24 Stunden befragt und bestürmt, als hätten sie irgendwas dazu zu sagen, dass die Griechen über ihre Zukunft selbst abstimmen wollen.
Die angebliche Rationalität finanzökonomischer Prozesse dem atavistischen Unterbewussten zum Durchbruch verholfen. Dass man ganze Länder als faul und betrügerisch beschimpfen konnte, schien mit der Ära des Nationalismus untergegangen und vorbei. Jetzt ist dieses Gebaren wieder da, mit angeblichen “Vernunftgründen” auf seiner Seite. Die Deformation des Parlamentarismus durch erzwungene Marktkonformität legitimiert das Volk nicht nur als “außerordentlichen Gesetzgeber”, es erzwingt im Fall Griechenlands diese Willensbekundung geradezu. Denn schon in Deutschland kann, wer als frei gewählter Abgeordneter seinem Gewissen folgt, sicher sein, das man seine “Fresse” nicht mehr sehen will. Was Wolfgang Bosbach als Subjekt widerfuhr, trifft nun einen Staat, und wenn es so weitergeht, bald ganz Europa.
Papandreou tut nicht nur das Richtige, indem er das Volk in die Pflicht nimmt. Er zeigt auch Europa einen Weg. Denn in dieser neuen Lage müsste Europa alles tun, um die Griechen davon zu überzeugen, warum der Weg, den es zeigt, der richtige ist. Es müsste dann nämlich sich selbst davon überzeugen. Es wäre kein Prozess in Brüsseler Beton, an dessen Ende eine enthemmte Presse die Bundeskanzlerin als eine Art Gigantin zeichnete. Es wäre eine Selbstvergewisserung der gleichfalls hochverschuldeten europäischen Staaten, die sich endlich darüber Klarheit verschaffen könnten, welchen Preis sie für die immateriellen Werte eines geeinten Europa bezahlen wollen.
Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2.11.2011
Rettet die Würde der Demokratie
Papandreou hält dem zerrissenen Europa den Spiegel vor. Ein Kommentar zu Frank Schirrmachers “Demokratie ist Ramsch”.
Von Jürgen Habermas
Man muss die aufsehenerregenden Interventionen des Herausgebers nicht immer goutieren, um dringend zu wünschen, dass die Wirkung seines Artikels zugunsten einer “verramschten” Demokratie (F.A.Z. vom 2. November 2011, in diesem Kapitel) nicht mit dem Szenenwechsel verpufft. Seine Interpretation der kopflosen Reaktionen unserer politischen Eliten auf die Absicht Papandreous, das griechische Volk über die trostlose Alternative zwischen Pest und Cholera selbst entscheiden zu lassen, trifft ins Schwarze. Was hätte die dramatische Lage einer von “den Märkten” kujonierten politischen Klasse besser entlarven können als die pompöse Aufregung des Chefpersonals von EU und Internationalem Währungsfonds über den unbotmäßigen Kollegen aus Athen?
Die Hauptdarsteller auf der Bühne der EU- und Euro-Krise, die seit 2008 an den Drähten der Finanzindustrie zappeln, plustern sich empört gegen einen Mitspieler auf, der es wagt, den Schleier über dem Marionettencharakter ihrer Muskelspiele zu lüften. Inzwischen ist der Gemaßregelte eingeknickt. Über dieser Wendung sollten wir nicht vergessen, was aus dem Schauspiel zu lernen ist. Ist es wirklich der glückliche Sieg des Sachverstandes über den befürchteten Unverstand des Volkes oder eines Spielers, der sich zum Anwalt des Volkes aufwirft?
Papandreou hat das Vorhaben eines Referendums aufgegeben, als sich sein Finanzminister vor dem Morgengrauen in einen Brutus verwandelte. Am Nachmittag desselben Tages konnte Reuters vermelden, dass der Euro “angesichts des bevorstehenden Kollapses der Regierung” deutlich zugelegt hatte und die Aktien-Indices an den europäischen Börsen gestiegen waren. Erst die Peripetie, Papandreous Kehrtwende, enthüllt den zynischen Sinn dieses griechischen Dramas - weniger Demokratie ist besser für die Märkte. Mit Recht diagnostiziert Frank Schirrmacher in dieser Affäre die Abkehr von den europäischen Idealen.
Ob Papandreou die Vertrauensabstimmung übersteht oder nicht - zurück bleibt eine Gestalt im Zwielicht. Inzwischen wird seine Äußerung kolportiert, das Referendum sei “nie Selbstzweck” gewesen. Zurück bleibt ein Vexierbild, das sowohl den tragischen Helden wie den Machtopportunisten zeigt. Es sollte nicht verwundern, wenn die Person selbst beides in einem wäre - sie verkörperte dann den Typus des Politikers, der am Spagat zwischen den Welten der Finanzexperten und der Bürger scheitert. Heute sind die politischen Eliten einer Zerreißprobe ausgesetzt. Beide driften auseinander - die Systemimperative des verwilderten Finanzkapitalismus, den die Politiker selbst erst von der Leine der Realökonomie entbunden haben, und die Klagen über das uneingelöste Versprechen sozialer Gerechtigkeit, die ihnen aus den zerberstenden Lebenswelten ihrer demokratischen Wählerschaft entgegenschallen.
Beruhigungspillen liegen griffbereit
Gewiss, in liberal verfassten Steuerstaaten hat immer ein Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus bestanden. Demokratisch gewählte Regierungen können sich Legitimation nur dadurch erwerben und erhalten, dass sie clever die Wege aufspüren, auf denen die Imperative beider Seiten irgendwie zum Ausgleich gebracht werden können - die Gewinnerwartungen der Investoren und die Erwartungen der Wähler, die wollen, dass es im Hinblick auf Lebensstandard, Einkommensverteilung und sozialer Sicherheit halbwegs gerecht zugeht. Aber Krisenzeiten zeichnen sich dadurch aus, dass solche Wege blockiert sind. Dann müssen die Politiker Farbe bekennen.
Natürlich liegen ideologische Beruhigungspillen, die die Vorstellung hervorrufen, das kurzfristige Wohl der Banken und der Shareholders sei eins mit den langfristigen Interessen der Bürger und der Stakeholders, immer griffbereit. Aber heute dürfte sich kein verantwortlicher Politiker mehr etwas vormachen. Die Politiker, die die Bankenkrise den überschuldeten Staaten in die Schuhe schieben und dem ganzen Europa ohne Rücksicht auf Verluste Sparprogramme aufnötigen, sehen nur auf einem Auge. Sie erkennen, dass der Mechanismus der öffentlichen Kreditaufnahme an seine Grenzen gestoßen ist, aber sie fragen nicht nach den Gründen für den Legitimationsbedarf, den der Gesetzgeber auf diese Weise befriedigt hat.
Der legitime Anspruch, dass es in den europäischen Wohlstandsgesellschaften neben dem privaten Reichtum keine öffentliche Armut und keine marginalisierte Armutsbevölkerung geben darf, wird ja nicht schon dadurch entwertet, dass der Überhang des liquiden Kapitals nach Anlagemöglichkeiten sucht und irgendwann auf Kosten der Bürger “abgeschöpft” werden muss. Man möchte den Politikern, die sich in die heile ordoliberale Welt einer richtig eingestellten, aber unpolitisch sich selbst regulierenden Wirtschaftsgesellschaft zurückträumen, die Lektüre eines Aufsatzes von Wolfgang Streeck in der letzten Nummer der “New Left Review” empfehlen. Dort untersucht der Direktor des sozialwissenschaftlichen Max-Planck-Instituts in Köln, warum der Schuldenmechanismus, der heute unerträgliche Kosten verursacht, seit den achtziger Jahren den damals in ähnlicher Weise untragbar gewordenen Inflationsmechanismus abgelöst hat.
Papandreou hat das Verdienst, den zentralen Konflikt, der sich heute in die ungreifbaren Arkanverhandlungen zwischen Euro-Staaten und Banklobbyisten verschoben hat, für eine Schrecksekunde ins Licht jener Arena zurückgeholt zu haben, wo aus Betroffenen Beteiligte werden können. Gerade wenn nur die Wahl zwischen Pest und Cholera besteht, darf die Entscheidung nicht über die Köpfe einer demokratischen Bevölkerung hinweg getroffen werden. Das ist nicht nur eine Frage der Demokratie, hier steht die Würde auf dem Spiel. Ein Kommentator der “Financial Times”, die sonst mit den Idolen der Hochfinanz nicht zimperlich umgeht, vertrat nach Bekanntwerden des Referendumsvorhabens die pikante Meinung, eine Entscheidung politischer Natur sei eher Sache des Parlaments, während ein Referendum nur im Falle einer Verfassungsänderung angebracht sei. Hätte nicht die griechische Bevölkerung wenigstens nachträglich über den verfassungsändernden Souveränitätsverlust abstimmen sollen, der, wie auch in Irland und Portugal, mit den Auflagen der Troika aus EU, Weltwährungsfonds und Europäischer Zentralbank längst eingetreten war?
Der drastische Schamfleck
Lehrreich ist Papandreou aber nicht nur in der Rolle des tragischen Helden. Als der Machttaktiker, der den politisch-kriminellen Machenschaften einer gewissenlosen Opposition das Wasser abgraben wollte, hat er, kaum eine Woche nach der vermeintlich großen Lösung, die Unberechenbarkeit einer zerrissenen Europäischen Union bloßgestellt. Man muss nicht sogleich von Unregierbarkeit reden; aber drastischer hätte der Schamfleck einer Währungsgemeinschaft ohne Politische Union, die fehlende supranationale Handlungsfähigkeit, nicht ausgeleuchtet werden können.
Die bailouts, die sich überschlagen, haben bestenfalls aufschiebende Wirkung. Eine überzeugende Lösung der Finanzkrise ist mit Mitteln der Fiskalpolitik allein gar nicht zu haben; überzeugen könnte die europäische Politik nur mit dem glaubhaften institutionellen Entwurf zu einer abgestuften Integration. Langfristig scheint die gegenwärtige Krise ohnehin keinen anderen Ausweg zu lassen als die überfällige Regulierung der Banken und der Finanzmärkte. Den reuevollen Absichtserklärungen der G 20 auf ihrem ersten Treffen im Jahre 2008 in London sind keine Taten gefolgt.
Es fehlt am politischen Willen zur globalen Einigung, weil die Institutionen fehlen, die eine supranationale Willensbildung und die globale Durchsetzung von Beschlüssen erst ermöglichen würden. Auch aus diesem Grunde müssten die Staaten der Europäischen Währungsgemeinschaft die Krise als Chance begreifen und mit der Absicht, ihre politische Handlungsfähigkeit auf supranationaler Ebene zu verstärken, Ernst machen. Das griechische Desaster ist jedoch eine deutliche Warnung vor dem postdemokratischen Weg, den Merkel und Sarkozy eingeschlagen haben. Eine Konzentration der Macht bei einem intergouvernementalen Ausschuss der Regierungschefs, die ihre Vereinbarungen den nationalen Parlamenten aufs Auge drücken, ist der falsche Weg. Ein demokratisches Europa, das keineswegs die Gestalt eines europäischen Bundesstaates annehmen muss, muss anders aussehen.
Dieses Projekt verlangt nicht nur institutionelle Phantasie. Die überfällige Kontroverse über Notwendigkeit und Nutzen eines solchen Projekts muss in der breiten Öffentlichkeit ausgetragen werden. Das verlangt allerdings von den politischen Eliten nicht nur den üblichen Spagat zwischen Bürgerinteressen und dem Rat der Experten. Die erneute Anbahnung eines verfassungsgebenden Prozesses würde vielmehr ein Engagement verlangen, das von den Routinen des Machtopportunismus abweicht und Risiken eingeht. Dieses Mal müssten die Politiker in der ersten Person sprechen, um die Bürger zu überzeugen.
Der Politik und Parteipolitik wäre eine solche Initiative gar nicht mehr zuzumuten, wenn sie sich tatsächlich zu einem selbstbezüglichen System geschlossen und gegenüber der Umwelt einer nur noch administrativ als Stimmenreservoir wahrgenommenen politischen Öffentlichkeit abgekapselt hätten. Dann könnten sich die Parameter für das, was in der Öffentlichkeit als selbstverständlich gilt, nur noch im Zuge einer sozialen Bewegung verschieben. Wer die überregionale Presse in Amerika verfolgt hat, wird über die Reaktionen erstaunt sein, die “Occupy Wall Street” ausgelöst hat.
Von Jürgen Habermas ist im November 2011 in der edition suhrkamp der Essay „Zur Verfassung Europas” erschienen.
Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5.11.2011
Was wir Europa wirklich schulden
Jürgen Habermas hat an dieser Stelle die Bedrohung der Demokratie analysiert. Sein Beitrag hat weitreichende Reaktionen ausgelöst. Wohin führen uns, im Lichte dieser Debatte, die Beschlüsse von Brüssel?
Von Sigmar Gabriel
Vor kurzem gab der Feuilleton-Redakteur Thomas Assheuer in der “Zeit” eine provokante Suchmeldung auf: Er stellte - zeitversetzt im Imperfekt - die Frage, wo denn “eigentlich die Intellektuellen waren”, als “Europa fast in Trümmern lag”. Dabei nahm er zu Recht Jürgen Habermas, Klaus Harpprecht, Ulrich Beck und Hans Magnus Enzensberger in Schutz, die aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln das Thema Europa nicht aus Gewohnheit abhandeln, sondern als Gegenstand kultureller Leidenschaften verstehen. Doch außer bei diesen Großmeistern entzündet das Europa von heute kein Feuer mehr in den Herzen deutscher Geistesarbeiter.
Vermutlich liegt das daran, dass Europa vor geraumer Zeit in die Hände von Händlern, Ökonomen und Finanzanalysten geraten ist. Das erklärt, warum bis heute die Sehnsucht nach einer europäischen Erzählung ungestillt ist. Helmut Schmidt hat in seiner großen Rede auf dem SPD-Bundesparteitag vor einer Woche gezeigt, wie eine solche Erzählung aussehen könnte, ohne in den Untiefen der Ökonomie zu ersticken. Es ist wahr: Wirtschaftliche und monetäre Umbruchzeiten sind vor allem kulturelle Zeitenwenden. Und genau dies haben weder Politiktreibende noch Kulturschaffende bislang hinreichend begriffen.
Wer Europa neu denken und den europäischen Gründungsgedanken neu beleben will, der muss zuerst auch politische und kulturelle Attitüden und Mentalitäten verändern. Nur so wird es möglich sein, die real existierende europäische Zuschauerdemokratie in eine partizipative Verantwortungsgemeinschaft von selbstbewussten und selbstbestimmten Europäern zu verwandeln.
Gewiss: Im Interesse Deutschlands und Europas musste man hoffen, dass Angela Merkels spät begonnene Versuche der Krisenbewältigung erfolgreich sind - aber auch nach dem jüngsten Gipfel sieht es nicht danach aus. Der Bundesbankpräsident Jens Weidmann hatte zu Recht gefordert, den Geburtsfehler der Währungsunion zu beseitigen und eine echte politisch verantwortete Fiskalunion zu schaffen - also eine gemeinsame Steuer-, Finanz- und Wirtschaftspolitik. Legitimiert durch die Parlamente oder Volksabstimmungen, würden dabei bislang rein nationale Souveränitätsrechte in der Europäischen Union gebündelt, um in einer gemeinsamen Währungszone auch eine gemeinsame Strategie des Schuldenabbaus, der Sanierung der Staatshaushalte und der Investition in die Wettbewerbsfähigkeit sowie die wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu verfolgen. Nichts anderes hatten jene elf Länder, die sich 1949 zur Bundesrepublik Deutschland und zuvor schon zum Gebrauch der gemeinsamen Währung D-Mark zusammenschlossen, übrigens auch getan. Sie hatten damit Erfolg selbst in den Ländern, die - wie Bayern - anfangs außerordentlich arm und rückständig waren.
Diese dringend notwendige Fiskalunion hat Angela Merkel am letzten Wochenende zu einer reinen Sanktionsunion degradiert. Dazu noch eine, die sich nicht richtig traut. Nationale Schuldenbremsen wurden zwar verabredet, und wer dagegen verstößt, soll Sanktionen ausgesetzt werden. Die allerdings kann eine Mehrheit der Mitgliedstaaten auch in Zukunft stoppen, wenn sie die Konsequenzen fürchten. Wenig mehr also als die bereits existierenden - und nicht funktionierenden - Regeln des Vertrages von Maastricht. Das ist professionelle Anscheinserweckung und die übliche Als-ob-Politik, die nicht mehr bewirkt als den nächsten Gipfel. Ein ziemlich mageres Ergebnis, erkauft mit dem Ausscheiden eines wichtigen, wenn auch schwierigen Landes wie Großbritannien aus dem europäischen Projekt.
Und ein unverantwortbares dazu, wenn man bedenkt, auf welchem Weg die deutsche Kanzlerin ihre Politik durchzusetzen versucht hat: Weil Deutschland zwei Jahre lang gezaudert und gezögert hatte, feh...

Inhaltsverzeichnis

  1. Deckel
  2. Titelblatt
  3. Urheberrecht
  4. Einleitung
  5. Von der europäischen Idee zur Union
  6. Organisation und Institutionen der EU
  7. Politische Union und Europäische Identität
  8. Von der Währungsunion zur Transferunion
  9. Der Euro und die EZB
  10. Zukunftsperspektiven
  11. Chronik
  12. Glossar
  13. Literatur