Teil I
Kapitel 1
Einleitung
Obwohl in den letzten Jahrzehnten häufig gebraucht, ist die analytische Bedeutung des Begriffs »Neoliberalismus« noch immer mit vielen Unklarheiten verbunden. Das im Jahr 1938 veranstaltete Walter-Lippmann-Kolloquium, in theoretischer Hinsicht der Ursprung des Neoliberalismus, ist in jüngster Zeit zum Gegenstand des Interesses geworden. Aber wenngleich Wissenschaftler die Bedeutung des Kolloquiums bereitwillig anerkennen, ist über diese wichtige Primärquelle noch relativ wenig geschrieben worden, insbesondere in der englischsprachigen Forschung. So hat der französische liberale Ökonom François Bilger in seiner 1964 veröffentlichten Studie des deutschen Ordoliberalismus die Bedeutung des Lippmann-Kolloquiums zwar hervorgehoben, diesen Punkt aber nicht weiter ausgeführt. Dreißig Jahre später hat Richard Cockett, der englische Historiker der Thatcher-Revolution, das Lippmann-Kolloquium lediglich in einer kurzen Bemerkung erwähnt. Und auch dem liberalen Kapitalismus-Historiker Max Hartwell, seines Zeichens Mitglied der Mont Pèlerin Society, auf dessen Arbeiten sich Cockett – trotz seiner ganz anders gearteten politischen Überzeugungen – bezieht, war das Lippmann-Kolloquium nur eine kurze Erwähnung wert: Er konzentriert sich auf die Geschichte der Mont Pèlerin Society nach dem Zweiten Weltkrieg. Schließlich haben Vivien Schmidt und Mark Thatcher in ihrer Studie zum liberalen Denken in Europa vom Lippmann-Kolloquium ebenfalls nur en passant Notiz genommen. So ist die Relevanz des Lippmann-Kolloquiums durchaus seit geraumer Zeit bekannt, doch kaum gewürdigt worden. Denn keiner der genannten, in ihren Auffassungen divergierenden Autoren gibt eine umfassende Darstellung oder Analyse des Kolloquiums, ganz so, als sei dessen Bedeutung offenkundig und als stelle das Kolloquium nur einen – in den Augen der einen verhängnisvollen, nach anderer Ansicht segensreichen – Schritt auf dem Weg zur Mont Pèlerin Society und dem Triumph des »Neoliberalismus« in den 1970er- und 1980er-Jahren dar.
Die Entdeckung eines wesentlichen Dokuments der Geschichte des »Neoliberalismus«
Sogar der Begriff »Neoliberalismus« ist jedoch bei Weitem nicht klar, wie die Analyse des Lippmann-Kolloquiums zeigt. Tatsächlich hat er eine verwickelte Geschichte. Von den 1930er-Jahren bis in die 1950er-Jahre unterschieden unter anderem die beiden französischen Ökonomen Alain Barrère und Gaëtan Pirou – zwei bedeutende und sich ausdrücklich vom klassischen Liberalismus distanzierende Vertreter der französischen Wirtschaftswissenschaften – in ihren historischen Darstellungen des ökonomischen Denkens den »Neoliberalismus« vom »Laissez-faire«-Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Der deutsche Politologe Carl Friedrich wiederum gebrauchte die Bezeichnung »Neoliberalismus« in Bezug auf die ordoliberalen Wirtschaftstheoretiker in Deutschland. In den 1970er-Jahren wurde der Begriff »Neoliberalismus« verschiedentlich verwendet, zum Beispiel von den »neuen Ökonomen« in Frankreich, um die Ideen Friedrich August von Hayeks und Milton Friedmans zu verbreiten, und in der Folge dann von Michel Foucault in seinen Vorlesungen über den Ursprung der »Bio-Macht«, aber ungefähr zur gleichen Zeit ebenso von einem führenden Politiker der französischen Sozialisten, Jean-Pierre Chevènement. Ebenfalls seit den 1970er-Jahren sind die »Rational Choice«-Modelle Gary Beckers sowie die von Gordon Tullock und James Buchanan entwickelte »Public Choice«-Theorie gelegentlich mit dem Begriff »Neoliberalismus« in Verbindung gebracht worden. Und in Lateinamerika gewann die Bezeichnung »Neoliberalismus« nach dem Putsch in Chile und der Betätigung der »Chicago Boys« zunehmend, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung, an Verbreitung.
In den 1980er- und mehr noch in den 1990er-Jahren wurde »Neoliberalismus« dann zu einem allgemein geläufigen Begriff. Die Wahlerfolge von Margaret Thatcher und Ronald Reagan und die anschließende Durchsetzung ihrer wirtschaftspolitischen Programme in Form von Deregulierung, Steuersenkungen und (vor allem im Fall Thatcher) der Privatisierung von Staatsunternehmen führten dazu, dass der Begriff »Neoliberalismus« praktisch mit diesen politischen Programmen identifiziert wurde. In den 1990er-Jahren erfuhr der Begriff noch weitere Verbreitung, insbesondere im Zusammenhang mit dem wachsenden Welthandel und dem »Konsens von Washington«, dem Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank folgten, allerdings beinahe durchweg in kritischer Weise. Als die Bezeichnung »Neoliberalismus« in den 1980er- und 1990er-Jahren zunehmend in Gebrauch kam, war die Frühgeschichte dieser Bewegung mit ihren Komplexitäten und Nuancen weitgehend vergessen, selbst unter den Verfechtern einer sogenannten neoliberalen Politik, die diese Bezeichnung im Allgemeinen aber gar nicht für sich in Anspruch nahmen.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts blieb »Neoliberalismus« ein oft verwendeter Begriff. So argumentierte der Geograf und marxistische Denker David Harvey 2005, »überall in der wirtschaftspolitischen Praxis wie im wirtschaftspolitischen Denken hat es seit den 1970er-Jahren eine bewusste Kehrtwende zum Neoliberalismus gegeben«. Im Jahr 2010 befanden Manfred Steger und Ravi Roy, der Neoliberalismus sei »ein eher umfassender und allgemeiner Begriff, der auf ein ökonomisches Modell oder ›Paradigma‹ verweist, das in den 1980er-Jahren Bekanntheit erlangte.« In jüngster Zeit ist der Begriff dann mehr und mehr in Form der Kritik benutzt worden. Nach der Finanzkrise von 2007 hat der »Neoliberalismus« erneut Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wiederum meist unter einem kritischen Gesichtspunkt. Oft wird Neoliberalismus dabei als synonym mit einer ungezügelten Laissez-faire-Politik angesehen, die mit Deregulierung und Liberalisierung der Märkte einhergehe. Aber der Begriff ist durchaus auch anders verstanden worden. Gerade als Reaktion auf die Debatten über die Eigenart des »Neoliberalismus« des europäischen Einigungsprozesses seit den 1990er-Jahren haben Theorien vom »starken Staat«, der über den gesellschaftlichen Interessengruppen steht und das Funktionieren der Marktordnung sicherstellt, im Kontext des frühen neoliberalen Denkens neues Interesse gefunden. Tatsächlich ist es nicht klar, ob »Neoliberalismus« für den »Rückzug« des Staates aus dem Wirtschaftsleben steht oder im Gegenteil für eine Stärkung der staatlichen Rolle als Garant des Wettbewerbs auf dem Markt. Diese Zweideutigkeiten sind ein Grund mehr, sich den Wurzeln des »Neoliberalismus« zuzuwenden.
Als Primärquelle bleibt das Kolloquium von 1938 wichtig, weil es die offizielle Geburtsstunde des Neoliberalismus als geistige Bewegung markiert. Da die Mitschrift des Lippmann-Kolloquiums nicht leicht zugänglich ist, war in der Vergangenheit die Kenntnis darüber meist aus zweiter Hand. Einige der Diskussionsbeiträge wurden nicht...