Einleitung
Porosität und Vielschichtigkeit: Grenze als Entgrenzungsphänomen
Alles beginnt mit der Sprache. Kein Ding sei, wo das Wort gebricht, schrieb Stefan George einmal. Kein Ort ist, wo das Wort gebricht, könnte man Georges Gedanken erweitern. Und damit wäre man direkt bei dem »Ort«, um den es in diesem Buch geht – der Grenze zwischen Mexiko und den USA, der »Frontera«. Denn diese hat ihre eigene Sprache. Es gibt sie, die Terminologien, die nur hier verwendet werden oder die hier etwas anderes bedeuten als im Norden der USA, in New York oder in Mexiko-Stadt.
Ein Ort im gängigen Verständnis des Begriffes ist die Frontera natürlich nicht. Sie hat kein Zentrum, sondern ist nur von linearer Ausdehnung – 3144 Kilometer, um genau zu sein. Ihrem Wesen nach ist sie zunächst ein künstlicher Bruch zwischen Orten. Und zugleich ein Systembruch. Eine Demarkationslinie zwischen zwei Ländern respektive Kulturkreisen respektive Weltsystemen. Und eine eigene Sprache? Die hat sie natürlich im offiziellen Sinne auch nicht. Man lehrt an Schulen kein »Grenzisch«. Aber – die Frontera wirkt sprachproduktiv. Sie bringt ihr eigenes Sprachverständnis hervor. Hier wird eine distinkte Sprache gesprochen, werden distinkte Terminologien gepflegt. »A border vocabulary has grown up on both sides«, schreibt der Schriftsteller Paul Theroux in einem Essay über eine Reise entlang der Grenze. Und insofern ist die Grenze vielleicht eben doch ein »Ort«, etwas räumlich Reales. Und etwas, das sich lohnt, intensiver betrachtet zu werden.
Wie aber funktioniert diese Sprache der Grenze? Manche Begrifflichkeiten leiten sich schlicht aus dem Clash der beiden Kulturen, die hier aufeinandertreffen, ab. Der populäre Begriff »gabacho«, schreibt Theroux, bedeute hier nicht Frosch und sei auch kein despektierlicher Ausdruck für »Franzose«. Gabacho gelte hier schlicht den Nordamerikanern, eine Abwandlung des »gringo« sozusagen. Und Gringo ist auch schon kein Lobgesang. Der Begriff leitet sich von »griego« für »Grieche« ab und bezeichnete ursprünglich jemanden, der unverständlich Spanisch sprach. »Das klingt alles griechisch für mich« – heißt: Ich verstehe nichts.
Nette Geschichte. Allerdings: Viele Idiome, die Theroux auf seiner Grenzreise entdeckt hat, haben einen weniger harmlosen Ursprung. Sie sind die Begleitmusik der Machtübernahme durch die so omnipräsenten wie unsichtbaren Drogenkartelle. Natürlich kommt das Wort »cartel« selbst häufig vor. Von »mafia« ist ebenso oft die Rede. »Piedra« (Stein) ist ein Insider-Ausdruck für Crack-Kokain, mit »marimba« oder »mota« ist Marihuana gemeint, »agua de chango« (Affenwasser) bezeichnet eine spezielle flüssige Heroin-Mixtur. »Montado«, spanisch für »bestiegen«, bezeichnet hier einen unschuldig (was auch immer man darunter versteht) Gefolterten. »Coyote« gilt nicht dem Tier, sondern einem Drogen- oder Menschenschmuggler. »Hancon«, also Falke, nennt man die Späher.
Wer, wie Theroux, sich die Zeit nimmt, beiderseits der Grenze zu reisen, hört Begriffe wie diese im Slang der Bewohner, speziell der Jugendlichen. Er kann sie aber auch gesungen hören. Sprachbildend wirkt entlang dieser Grenze nämlich nicht zuletzt die Musik. Es gibt grenzspezifische Gesänge, sogenannte »corridos«. Manche davon handeln von den Heldentaten der Kartellchefs. Das sind dann die »narcocorridos«. In Balladenform huldigen diese den kriminellen Bossen, in denen die Sänger so etwas sehen wie furchtlose Helden, die der Obrigkeit ein Schnippchen schlagen (was sie ja auch unbestreitbar tun).
Die ursprünglichen Corridos, die Vorform der Narco-Songs, verpackten Liebeskummer, Fernweh oder auch Unterdrückung durch die Obrigkeit (die lokale oder nordamerikanische) in stets etwas rührselige Zeilen. Von »música norteña« ist in diesem Zusammenhang auch die Rede. Norteña bezeichnet dabei den Norden Mexikos. Noch weiter aus dem Norden, also aus Texas oder Kalifornien, klingen wehmütige Songs über Freiheit und grenzenlose Selbstentfaltung hinüber in den Süden (Country-Songs).
Alle drei Musikstile haben gemein, dass sie ein ganz eigenes Vokabular pflegen und damit eigene, gegen offizielle Lesarten oder politische Definitionen arbeitende Perspektiven auf die Grenze werfen. Sie sind ein Vehikel dessen, was die Soziologin Elena Dell’Agnese als spezielle Form der »spatial representation« bezeichnet – eine Form der Repräsentation, die keinem vordefinierten Kanon folgt. Die diversen Corridos unterschiedlicher Herkunft verkomplizieren den Blick – und passen daher gut in eine Grenzregion. Denn sie verstehen das, was Grenzen als soziologisches Untersuchungsobjekt gerade auch in Zeiten der Globalisierung so spannend macht – und was auch dieses Buch treibt und legitimiert.
Im Grunde sind Grenzen tragische Erscheinungen. Sie wollen klären, kontrollieren, Komplexität reduzieren – und scheitern damit dramatisch. Denn heutzutage sind Grenzen porös und vielschichtig, werden aufgeweicht, neu gezogen, interpretiert, unterminiert oder auch einfach ignoriert. Ihrer Funktion als Verhinderer von Komplexität kommen sie nur noch rudimentär nach.
Für kaum eine Grenze gilt dies in stärkerem Maße als für jene zwischen den USA und Mexiko. Sie repräsentiert in gewisser Hinsicht die ultimative Komplexität einer Grenze schlechthin. Sie stellt den Inbegriff vom Prinzip Grenze dar, ist schlicht »La Frontera«, wie sie von Künstlern, Fotografen, Journalisten, Migranten in einer Mischung aus Faszination, Respekt und Angst genannt wird. Ihre Vielschichtigkeit bildet einen fundamentalen Gegensatz zu den irritierend einfachen Versprechen von US-Präsident Donald Trump, eben zu jenem, eine gigantische Betonmauer zwischen Mexiko und den USA zu errichten. Doch auch hier ist das Scheitern an der Komplexität vorprogrammiert. Das zeigt schon der Blick auf die verschiedenen parallel existierenden Erscheinungsformen dieser Grenze. Über weite Strecken ist sie von natürlichen Barrieren wie Wüsten, Bergketten oder Canyons geprägt. Ab Ciudad Juárez/El Paso bis in den Golf von Mexiko verläuft sie entlang des Flusslaufs des Rio Grande beziehungsweise Río Bravo, wie ihn die Mexikaner nennen. Durch feste Grenzzäune oder Metallwände ist heute nur etwa ein Drittel des gesamten Grenzverlaufs gesichert.
Viel mehr geht auch nicht, glauben viele. Es sei technisch unmöglich, deutlich mehr Grenzanlagen zu bauen, sagt etwa der in Tijuana lebende Architekt René Peralta (siehe dazu das Kapitel »Vom schwierigen Raum«). Flüsse und tiefe Schluchten würden vielerorts einfach Baumaschinen und Materialtransporte fernhalten. Auch daher hat sich an der Konstruktion des einen, des umfassenden Walls bisher noch kein US-Politiker ernsthaft versucht. Die Folge: Bis heute gibt es zahlreiche Stellen, die einen Grenzübertritt zu Fuß »eröffnen«. Man spricht daher auch von einer »porösen« Grenze. Wobei – diese Porosität ist natürlich trügerisch: Immer wieder kommen bei dieser Art von Grenzübertritt Menschen auf tragische Weise ums Leben – 251 waren es im Jahr 2015. Initiativen wie die NGO »Humane Borders« in South Tucson, Arizona tun alles, um genau das zu verhindern.
Und dennoch oder gerade deswegen ist die Frontera heute von realer Präsenz. Längst ist sie nicht mehr unsichtbar wie zu Zeiten ihrer ursprünglichen Festlegung. Der heutige Verlauf der Grenze ist das Ergebnis des mexikanisch-amerikanischen Krieges von 1846 bis 1848. Texas, weite Teile Kaliforniens und andere Regionen wurden danach den USA zugeschlagen. Doch auch dann rückten nicht sofort die Mauerbauer an. Erst mit dem Jahr 1924 begann die Errichtung der ersten regelrechten Grenzbefestigungen. Seitdem aber haben die USA die Grenze, in leichten Wellenbewegungen, sukzessive immer massiver befestigt.
Der Klassiker ist heute eine Art Blechwall aus riesigen Metallplatten. Mit dem Ausbau begann kein Republikaner, sondern in den 1990er-Jahren der damalige US-Präsident Bill Clinton. In Texas gab es 1993 erste Maßnahmen zur stärkeren Grenzsicherung, ab 1997 erfolgte eine systematische Befestigung. Von 1994 bis 2000 wurde die Grenze in Kalifornien ausgebaut, ab 1999 in Arizona.
Mit den dabei zum Einsatz gebrachten Wellblechplatten verbindet sich eine überaus eigentümliche Symbolik. Zum Teil nämlich stammten sie aus Landeflächen, wie sie im Ersten Irakkrieg in der Wüste von Kuwait verwendet worden waren. Die Grenzbefestigung gegen Mexiko als Fortführung von Nahostkriegen – mehr brutale Symbolik geht kaum. Die Frage darf erlaubt sein, wie America-Great-Maker Trump dies mit seinem neuen Patriotenwall überhaupt noch steigern will.
Natürlich war Clintons Recyclingmaßnahme auch eine ökonomisch-baupraktische Entscheidung. Man sparte schlicht Material und damit Geld. Präsident Trump wird sich an derlei Überlegungen künftig vielleicht auch noch orientieren müssen. Experten schätzen, dass seine vorgeschlagene Betonwand gigantische 9,5 Millionen Kubikmeter Baumasse verschlingen würde und damit dreimal so viel wie der legendäre Hoover-Damm, die beeindruckende Staudammkonstruktion zwischen Nevada und Arizona.
Für Trump ist, wie ich im Kapitel »Ökonomie der Grenze« erörtern werde, die Mauer ein Image-Projekt. Doch schon Clinton verfolgte mit »seiner« Art der Grenzbefestigung, wenn man so will, kommunikative Ziele. Die Wiederverwendung der Landeplatten aus dem Golf signa...