Umwelt und Wachstum
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Umwelt und Wachstum

Sind Marktwirtschaft und Nachhaltigkeit unvereinbar?

  1. 120 Seiten
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Umwelt und Wachstum

Sind Marktwirtschaft und Nachhaltigkeit unvereinbar?

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Kritische Fragen nach der Vereinbarkeit von Umweltschutz und Wirtschaft tauchen fast täglich in den Nachrichten- und Kommentarkonferenzen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als einer der führenden nationalen Medien auf. An konkreten Themen wie der Energiewende machen sie sich fest. Endgültige Antworten findet man selten, die Kontroversen werden offen ausgetragen. Klar erkennbar ist jedoch, dass es heute nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie einer umweltverträglichen und marktwirtschaftlich klugen Gestaltung der Zukunft geht. Die Sehnsucht nach langfristig tragbaren und letztlich berechenbaren Bedingungen ist unübersehbar, die Sorge vieler vor Katastrophen unabweisbar. An den zentralen Beispielen Klimakonferenz, Energiewende und Nachhaltigkeit zeigt das vorliegende eBook sowohl den aktuellen Stand als auch echte und vermeintliche Perspektiven. Der Herausgeber: Joachim Müller-Jung kam im April 1995 als Redakteur für das Ressort »Natur und Wissenschaft« zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Im Februar 2003 hat er die Leitung des Ressorts übernommen.

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Information

Wo steckt der Fortschritt?

Kernschmelze, Klimawandel, Zukunftsängste: Gibt es gar keinen Fortschritt mehr? Man muss sich nur drehen, dann sieht man ihn: So gut wie heute ging es uns noch nie.

Von Ralph Bollmann
Alles menschliche Handeln hängt von den Ideen ab, die wir uns über die Zukunft machen. Wir investieren unser Geld in fünfjährige Bundesobligationen, weil wir glauben, dass Deutschland im Jahr 2016 noch zahlungsfähig ist. Der Bundesminister des Auswärtigen stimmte im UN-Sicherheitsrat gegen die Libyen-Resolution, weil er die Aussichten auf einen raschen Sturz Gaddafis für zu ungewiss hielt und er sich von demonstrativem Pazifismus bessere Chancen bei den nächsten Wahlen erhoffte.
Was beim Blick auf unsere Entscheidungen in der Gegenwart unmittelbar einleuchtet, gerät bei der Betrachtung historischer Zusammenhänge oft genug aus dem Blick. Historiker bewerten politisches Handeln, wirtschaftliche Entwicklungen und gesellschaftliche Trends nach ihren Ergebnissen, im Wissen um die Konsequenzen und im Lichte der tatsächlich eingetretenen Folgen. Sie ignorieren oft, vor welchem Erwartungshorizont die Akteure selbst handelten. Nicht selten erscheinen die Zukunftsbilder selbst jüngster Epochen als zu skurril, um sie tatsächlich ernst zu nehmen: die Utopie einer umfassenden Planbarkeit von Politik während der ersten Regierungsjahre Willy Brandts etwa oder die Untergangsphantasien, die sich in den achtziger Jahren ein großer Teil des linksliberalen Milieus zu eigen gemacht hatte – und die später wiederum dazu führten, dass auch durchaus reale Bedrohungen als apokalyptische Vorstellungen zur Seite geschoben wurden.
Während der zurückliegenden zwei Jahrhunderte war die einflussreichste dieser handlungsleitenden Ideen der Glaube an den Fortschritt. Nicht um Fortschritte im Plural ging es dabei, um neue Technologien oder ökonomisches Wachstum, um die Abkehr von Gewalt oder Rassismus, sondern um ein umfassendes Bewegungsgesetz der Geschichte, das die Menschheit zu immer höheren Entwicklungsstufen führen werde – um das »Fortschreiten des Menschengeschlechts«, wie es die Aufklärer des 18. Jahrhunderts in ihrem unnachahmlichen Pathos formulierten.
Derzeit versucht gerade die SPD, den Begriff für sich zurückzuerobern. Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier eröffnete am vorigen Dienstag die erste Tagung eines parteinahen »Fortschrittsforums« unter der Leitung von Ernst Ulrich von Weizsäcker, dem früheren Präsidenten des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt und Energie. Um »ein neues Leitbild für gesellschaftlichen Fortschritt« soll es gehen. Zu Jahresbeginn hatte Parteichef Sigmar Gabriel die Debatte eröffnet, das Thema war auch als Schwerpunkt für den Parteitag Anfang Dezember gedacht. Jetzt haben sich erst das Reaktorunglück von Fukushima, dann die europäische Schuldenkrise dazwischengedrängt. Das ist die Ironie des Fortschritts: Er will nie so, wie eine Partei es will.
Nie war der Fortschrittsbegriff so hegemonial wie im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter von Industrialisierung und beispiellosem Wirtschaftswachstum, von wachsender Hygiene und entstehender moderner Medizin, von immer dichterer Kommunikation und wachsender Globalisierung. Selbst Historiker, die dem Konzept des Fortschritts skeptisch gegenüberstehen, können sich im Angesicht dieser Epoche der Faszination einer solchen Entwicklungsdynamik nicht entziehen. Die Idee war einerseits eurozentrisch, weil sie nur den westlichen Modernisierungspfad gelten ließ. Sie war andererseits kosmopolitisch, weil sie prinzipiell allen Menschen die Teilhabe am Fortschritt zugestand. Die Totalreform ganzer Gesellschaften galt als machbar – etwa in Griechenland, wo sich der wittelsbachische König Otto mit einem Reformabsolutismus bayerischer Prägung versuchte.
Unter den Zeitgenossen waren es vor allem Liberale und Sozialdemokraten, die – wenn auch in Mitteln und Wegen höchst unterschiedlich – auf das Gesetz der Geschichte vertrauten. Die Liberalen schrieben der entstehenden staatlichen Bürokratie die Aufgabe zu, den Kräften des Fortschritts freie Bahn zu verschaffen – etwa durch freie Märkte und kommunale Selbstverwaltung, gegen die Beharrungskräfte einer feudal geprägten und zunächst fortschrittsskeptischen Gesellschaft. Dazu zählte gerade in der deutschen Spielart ein Bildungssystem, das die Unterschichten disziplinierte und die Eliten zum Gebrauch dieser Freiheit erzog. Mit der Gründung des Bismarckschen Nationalstaates 1871 trat ein gemeinsamer Wirtschafts- und Währungsraum hinzu, der die Kleinstaaterei alteuropäischer Prägung überwand.
Während ein großer Teil der deutschen Liberalen also staatsinterventionistisch gestimmt war, plädierte paradoxerweise die orthodoxe Strömung der Sozialdemokratie dafür, der Geschichte ihren freien Lauf zu lassen – wenn auch aus dem bequemen Bestreben heraus, nicht aus den Höhen theoretischer Betrachtungen in die Niederungen konkreter politischer Entscheidungen herabgezogen zu werden. Parteichef August Bebel, schon zu Lebzeiten ein Mythos seiner selbst, erhoffte die Wende zum Besseren vom Zusammenbruch des bourgeoisen Systems im »großen Kladderadatsch«, den es nur passiv abzuwarten gelte. Dabei sprach aus dem »Kommunistischen Manifest« der Überväter Karl Marx und Friedrich Engels durchaus Bewunderung für die Entwicklungsdynamik des Kapitalismus, wenn es etwa hieß: »Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht.«
Es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Konservativen mit dem Konzept des Fortschritts am schwersten taten. Allerdings hielten auch sie ihre Opposition im 19. Jahrhundert nicht durch. Zielten ihre Bemühungen in der Restaurationsphase nach der Niederlage Napoleons noch auf eine Rückkehr zu vorrevolutionären Zuständen, so war den meisten unter ihnen spätestens seit der Jahrhundertmitte klar, dass sie auf den Zug des Fortschritts aufspringen mussten, um Richtung und Tempo wenigstens beeinflussen zu können. So verhielt sich der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck. Und die zugrundeliegende Einsicht formulierte niemand griffiger als der sizilianische Fürst Salina in Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman »Der Leopard«: »Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass alles sich verändert.«
Mit dem Ersten Weltkrieg, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, änderte sich alles. Nicht nur, aber vor allem in Deutschland schwand der Fortschrittsglaube dahin. Der schon vorher virulente Kulturpessimismus wurde vor dem Hintergrund von militärischer Niederlage, wirtschaftlicher Krise und politischer Instabilität zu einem dominierenden Deutungsmuster. Die moderne Geschichtsauffassung blieb allerdings auch unter umgekehrten Vorzeichen wirkmächtig. Bücher wie Oswald Spenglers bereits 1918 erschienener »Untergang des Abendlandes« drehten nur die Entwicklungsrichtung um: Aus Fortschritt wurde Rückschritt, aus einer Aufwärtsbewegung schlichtweg Dekadenz. Empirisch blieb das eine so unbeweisbar wie das andere.
Welch kurzfristigen Konjunkturen ein Konzept unterliegt, das immerhin das große Ganze der Weltgeschichte erklären will, das erstaunt im Rückblick dann doch. Meinen es die Weltläufte mit der Menschheit gerade gut, wird dieser Trend für alle Zeiten zum historischen Grundgesetz erklärt; häufen sich die tatsächlichen oder vermeintlichen Krisen, gilt der Fortschritt offiziell als obsolet – häufig allerdings, ohne dass sich Politik und Publizistik in letzter Konsequenz davon verabschieden würden. Noch in den Klagen über den Niedergang schwingt dann der Anspruch auf den Fortschritt mit.
Die schonungsloseste Abrechnung mit dem westlichen Fortschrittsdenken wurde während des Zweiten Weltkriegs von einem deutschen Emigranten an einem amerikanischen Seminar für Theologie geschrieben. Der Philosoph Karl Löwith entlarvte das Fortschrittskonzept in seinem Buch »Weltgeschichte als Heilsgeschehen« als verweltlichte Theologie. »Der moderne Mensch dachte sich eine Philosophie der Geschichte aus, indem er die theologischen Prinzipien im Sinne des Fortschritts zu einer Erfüllung säkularisierte«, schrieb Löwith – und verfolgte die Wurzeln dieses Konzepts von seiner eigenen Gegenwart zurück bis zu den christlichen Kirchenvätern. Als Kronzeuge seiner eigenen Position diente ihm der große Außenseiter unter den Geschichtsdenkern des 19. Jahrhunderts, der Baseler Universalhistoriker Jacob Burckhardt. »Unsere Präsumption, im Zeitalter des sittlichen Fortschritts zu leben, ist höchst lächerlich.« Dieser Satz Burckhardts erschien in der Epoche des Holocaust zutreffender denn je. Neben den Untergang der christlich-römischen Antike trat nun der Nationalsozialismus als der zweite große Zivilisationsbruch, der einer bruchlosen Fortschrittsgeschichte im Wege steht.
Mit weitaus weniger Sympathie betrachtete der Philosoph Löwith die Bannerträger der Fortschrittsidee. Noch bevor die kommunistischen Regime nach dem Zweiten Weltkrieg die religiöse Ikonographie ihrer Einheitsparteien als Ersatzkirche auf die Spitze treiben sollten, legte er die theologischen Wurzeln der Marxschen Geschichtsphilosophie offen. »Der historische Materialismus ist Heilsgeschichte in der Sprache der Nationalökonomie«, schrieb er – mit dem Proletariat als auserwähltem Volk und der kommunistischen Revolution als weltlicher Version von Apokalypse und Jüngstem Gericht, hinter denen sich das Tor zum Himmelreich öffnet.
Mit kaltem Spott behandelt Löwith auch den Franzosen Auguste Comte, einen der Vorläufer der modernen Soziologie im frühen 19. Jahrhundert. Nach den Wirrnissen der Französischen Revolution wollte Comte den Fortschritt in geordnete Bahnen lenken, die Entwicklung der Gesellschaft wissenschaftlichen Kriterien unterwerfen. »Ordre et progrès«, Ordnung und Fortschritt, lautete die Parole des Positivismus à la Comte, die seit 1889 auch auf der brasilianischen Nationalfahne prangt – und die allen späteren Visionen von der Planbarkeit des Fortschritts voranging. Noch der Planungsstab, den Horst Ehmke 1969 im Auftrag Willy Brandts im Bonner Kanzleramt einrichtete, war dieser Idee verpflichtet – assistiert von einer wissenschaftlichen Kommission unter Vorsitz des Gesellschaftswissenschaftlers Fritz Scharpf. Der Glaube an die Messbarkeit des Fortschritts ist bis heute lebendig, keineswegs nur in der Orientierung am Bruttosozialprodukt, sondern ebenso in dem Bestreben, alternative Glücksindikatoren ausfindig zu machen.
Der Fortschrittsoptimismus, der auch aus Brandts berühmter Regierungserklärung von 1969 sprach, griff weit über das sozialdemokratische Milieu hinaus. Ob zum Fortschritt auch Gesamtschulen zählten, darüber mochte man streiten. Dass die gewaltigen Potentiale der Atomkraft die Mühsal der überkommenen Arbeitsgesellschaft ablösen könnten, dass historische Innenstädte dem Fortschritt von Stadtautobahnen und Einkaufszentren weichen müssten: Darüber bestand seinerzeit weitgehend Einigkeit. Erst recht darüber, dass der Wirtschaftsaufschwung der ersten Nachkriegsjahrzehnte als historische Norm anzusehen sei, ungeachtet erster Krisensymptome, denen Brandt den »Machtwechsel« maßgeblich zu verdanken hatte.
Es war ein ganzes Bündel von Faktoren, das den Brandtschen Reformoptimismus innerhalb weniger Jahre erlahmen ließ und einen politischen Richtungswechsel des Reformbegriffs herbeiführte. Ölkrise und Rezession ließen die Verteilungsspielräume schwinden, der Bericht des Club of Rome und die aufkommende Ökologiebewegung zerstörten das Zutrauen in die Technik. Der Reformverdruss schlug um in eine grundlegende Fortschrittsskepsis – und zwar vor allem auf der politischen Linken, die sich doch stets als »progressiv« bezeichnet hatte. Einmal mehr zeigte sich, welchen Zyklen der Fortschrittsglaube unterworfen ist.
Die postmaterialistischen Grünen versuchten im Laufe der Zeit nicht ohne Erfolg, ihre anfängliche Fortschrittsskepsis in die Formel von einer ökologischen »Modernisierung« der Industriegesellschaft umzudefinieren. Weite Kreise der SPD wurden hingegen von einer defensiven Grundstimmung erfasst, die das sozialdemokratische Jahrzehnt Willy Brandts, Bruno Kreiskys oder Olof Palmes ungeachtet aller emanzipatorischen Defizite zum Gipfelpunkt der historischen Entwicklung verklärte, von dem an es nur noch abwärts ging. Noch der innerparteiliche Widerstand gegen die Agendapolitik des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder speiste sich wesentlich aus dem Gefühl, Politik könne heute nur noch aus hinhaltendem Widerstand gegen »Sozialabbau« bestehen. Was sich die Sozialdemokratie offiziell nie eingestehen wollte, vertraten einige Wissenschaftler ganz offensiv. So schrieb der Soziologe Claus Offe bereits 1996: »Statt um das Bewirken von ,Fortschritt‘ geht es hier, durchaus defensiv, darum, durch welche Vorkehrungen und institutionellen Innovationen sich Rückschritte aufhalten und kontrollieren lassen.«
In den letzten drei Jahrzehnten waren es paradoxerweise eher Konservative, die noch die Fahne des Fortschritts hochhielten – im Sinne von Technik und Wirtschaftswachstum, aber auch mit dem Gedanken verknüpft, dass sich dadurch die Lebensbedingungen für alle verbessern ließen. Dieser Optimismus war allerdings nie ungebrochen. Helmut Kohls Parole von der »geistig-moralischen Wende« aus dem Jahr 1982 ließ eher an ein zyklisches Geschichtsbild denken, wonach auf eine Periode der Dekadenz und des Verfalls die Wiederherstellung alter, besserer Zustände folgen müsse. Das Bild, das derzeit vom fortschrittsfeindlichen Wutbürger gezeichnet wird, lässt sich parteipolitisch ohnehin nicht zuordnen: In Stuttgart wandte er sich gegen ein Bahnhofsprojekt von CDU und SPD, in Hamburg gegen eine von den Grünen initiierte Schulreform.
Interessanterweise haben zwei christdemokratische Ministerpräsidenten von sehr unterschiedlichem Temperament, die im Sommer 2010 aus der operativen Politik ausschieden, in ihren Abschiedsinterviews fast wortgleich getan, was einem aktiven Politiker bei Strafe der Abwahl verboten wäre: Sie haben eingestanden, dass das Fortschrittsmodell seine Bindekraft auch für konservative Wähler in Deutschland verloren hat. »Große Teile der Mittelschicht leben in großer Sorge, dass es ihren Kindern schlechter gehen könnte als ihnen selbst«, sagte der Hesse Roland Koch. »Viele haben Angst, dass es ihre Kinder einmal schlechter haben werden als sie selbst«, erklärte der Niedersachse Christian Wulff.
Umweltminister Norbert Röttgen, wohl kein Konservativer, hielt vor fast zwei Jahren in der Berliner Humboldt-Universität eine Grundsatzrede mit dem Titel: »Was bedeutet Fortschritt heute?« Der rheinische Christdemokrat betrieb einigen geschichtsphilosophischen Aufwand, zitierte Hegel und den Historiker Reinhart Koselleck – um dann doch zielgerichtet auf die Themen seines eigenen Ressorts zuzusteuern, auf Atomausstieg und Klimapolitik: Heute sind wir zum Fortschritt verdammt, weil wir die Folgen des Fortschritts anders nicht bewältigen können.
Politiker von Gabriel bis Röttgen debattieren, wie Fortschritt heute aussehen kann. Ob es ihn überhaupt gibt, warum wir an ihn glauben können oder nicht: Diese Frage wird weiterhin nicht gestellt – und die wahre Dimension des Problems verfehlt. Am rasantesten entwickeln sich heute Gesellschaften, die das Konzept des Fortschritts historisch gar nicht kennen. Vertreter der klassischen Modernisierungstheorie, etwa der Amerikaner Seymour M. Lipset, sahen Demokratisierung einst als geradezu zwangsläufige Folge wirtschaftlicher Entwicklung. Das gilt heute mit Blick auf Länder wie China nicht mehr als ganz so sicher. Der israelische Soziologe Shmuel N. Eisenstadt sprach deshalb zuletzt von »multiplen Modernen« – ein Versuch, sich von platten Verwestlichungsthesen zu verabschieden und doch an der Modernisierungstheorie festzuhalten.
In diesen Tagen kommt ein Buch auf den deutschen Markt, in dem der amerikanische Psychologe Steven Pinker mit einem umfangreichen Zahlenapparat den Beweis antreten will, dass die Gewalt in der Geschichte der Menschheit kontinuierlich abgenommen habe. Das ist eine provokante These mit Blick auf die Greuel des 20. Jahrhunderts, vor allem in dessen erster Hälfte und auf dem europäischen Kontinent. Zugleich klingt es wie ein Versuch, dem westlichen Fortschrittsoptimismus nach zwei Jahrhunderten neuen Atem einzuhauchen.
Ob man sich nun auf die These, der mittelalterliche Mongolensturm sei brutaler und blutiger gewesen als der Zweite Weltkrieg, einlassen mag oder nicht: Dass es Fortschritte gibt, wird kaum jemand bestreiten. Selbst der größte Nostalgiker der angeblich so goldenen siebziger Jahre wird sich in der Klinik lieber auf dem medizinischen Stand der Jetztzeit behandeln lassen, auch wird er sich kaum die 1977 abgeschaffte Bestimmung zurückwünschen, wonach eine verheiratete Frau nur mit Zustimmung des Ehemanns eine Berufstätigkeit aufnehmen konnte.
Ob sich diese Einzelfortschritte noch zum Gesamtkonzept eines allumfassenden Fortschritts zusammenfügen: Das ist eine offene Frage, die wie alle metaphysischen Fragen nicht mit wissenschaftlichen Methoden letztgültig zu beantworten ist. Zu präsent...

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort
  2. Ausgangslage: Zwischen Weltuntergang und »weiter so«
  3. Propheten des Untergangs
  4. Wo steckt der Fortschritt?
  5. Analytisches: Was die Wissenschaft leistet
  6. Der kostbare Kaffeesatz in den Klimamodellen
  7. Ich glaube nicht an den Masterplan für die Welt
  8. Das alte Meer und der Müll
  9. Schluss mit dem Selbstbetrug
  10. Forschung für die Umwelt – in den Wind geschrieben?
  11. Anstrengung: Was die Politik leisten muss
  12. Die Kohle wird die Hauptlast tragen
  13. Der Mann, der die Windparks retten soll
  14. Abschied vom Emissionshandel
  15. »Es gibt kein Grundrecht auf Extraprofite für Solarstrom«
  16. Aussichten: »Green Economies« oder große Irreführung?
  17. In die Biotonne
  18. Rohstoffe aus der Mülltonne werden salonfähig
  19. Einkaufen und die Welt retten
  20. Die Autoren und Gesprächspartner
  21. Service
  22. Internettipps