MARIANNES
WAHRHEIT VERTUSCHUNG EINES FAKTS
Jenny hat Ende 1862 eine unbehagliche Reise zwischen London und Paris hinter sich gebracht. Karl berichtet darüber in seinem Brief vom 24. Dezember 1862 an Friedrich: »Überhaupt war die Reihe Unglücksfälle, die sie durchzumachen, tragikomisch. Erst großer Sturm zur See; ihr Schiff kam davon, eins in ihrer Nachbarschaft … ging unter. Abarbanel wohnt vor Paris. Meine Frau durch Eisenbahn zu ihm. Es passierte Pech mit der Lokomotive, so daß 2 Stunden die Fahrt unterbrochen. Später stürzte ein Omnibus, mit dem sie fuhr. Und gestern geriet in London der Cab, worin sie saß, in die Räder eines andern. Sie stieg aus und kam per pedes an mit 2 Jungen, die ihren Koffer trugen.«1
Der angebliche Hauptzweck ihrer Reise, bei einem Bekannten Geld aufzutreiben, schlägt fehl. Jenny erwähnt die Episode in ihren Erinnerungen: »Um den fast unerträglich gewordenen Zuständen ein momentanes Ende zu machen, reiste ich um Weihnachten 1862 nach Paris, um dort bei einem frühern Bekannten … Hilfe zu suchen. In bittrer Kälte und von Sorgen erdrückt, kam ich bei dem guten Freunde an, um ihn vom Schlage berührt, kaum kenntlich wiederzufinden. Er starb einige Tage nach meinem Kommen. Ich kehrte hoffnungslos heim und hörte beim Eintritt in unser Haus die Schreckens- und Schmerzenskunde, dass unsre gute, liebe, treue Marianne, die Schwester Lenchens, einige Stunden vor meiner Heimkehr an einem Herzleiden sanft und selig wie ein großes Kind dahingeschieden war.«2
Die junge, 27-jährige Frau, eine kräftige Bauerntochter – geboren 1835 –, arbeitete mindestens schon seit ihrem zwölften Lebensjahr im Haushalt von Jennys Mutter.
Jenny bittet Lina Schöler in ihrem Brief vom 17. Dezember 1847, die Freundin möge Mutter Caroline von Westphalen »eine ganz wohlfeile Schürze für ihr Mädchen« schicken, »(worauf Du für Marianne zu schreiben hättest)«.3
Jenny erwähnt in ihren erhalten gebliebenen schriftlichen Äußerungen Helenes Halbschwester, Marianne Creutz, neunmal.
Helene hat sechs Vollgeschwister. Sie selbst ist das fünfte der sieben Kinder, die ihre Eltern – Maria Katharina, geborene Creutz, und Michel Demuth – zwischen 1809 und 1826 miteinander bekommen. Der Vater stirbt am 17. Mai 1826, kurz nach der Geburt des jüngsten Kindes. Am 27. Juni 1835 brachte Maria Katharina Demuth im 43. Lebensjahr ihr achtes Kind zur Welt, ihre Tochter Marianne. Da ihr Ehemann schon 9 Jahre tot war und sie den Vater des Kindes nicht angab, wurde es im Geburtsregister der Bürgermeisterei von St. Wendel unter dem Namen Anna Maria Creutz eingetragen.4
Um ihr 10. Lebensjahr wird Marianne im Haushalt von Caroline von Westphalen in Trier eingestellt, übernimmt dort die Position Helenes, die im Frühjahr 1845 zu Jenny und Karl nach Brüssel gegangen ist. Marianne bleibt bei Caroline bis zu deren Tod 1856 und kommt 1857 zu Jenny nach London. Sie arbeitet von da an bis zu ihrem Tod 1862 im Marxschen Haushalt.
»Am 28. April 1857 beantragte ›Maria Kreutz, Magd, St. Wendel, 22 Jahre alt‹ in St. Wendel einen Pass nach London, ›um dort in Dienst zu treten‹. Schließlich konnte aufgrund der Geburtsangaben in London die Todesurkunde einer ›Mary Kreuz‹ gefunden werden, wonach sie dort am 23. Dezember 1862 gestorben ist. Ihr Alter ist mit 26 Jahren, ihr Beruf als Hausgehilfin angegeben.«5
Im Nekrolog sagt Jenny von ihr: »Das gute, treue, fleißige, sanfte Mädchen war seit 5 Jahren bei uns. Ich hatte sie liebgewonnen und hing so sehr an ihr, daß ihr Verlust mich tief und innig schmerzte. Ich verlor an ihr ein treues, anhängliches, freundliches Wesen, das ich nie vergessen werde.«6
Die nebulösen Formulierungen um den Tod von Marianne decken nicht sehr gekonnt ein Ereignis zu. Anstatt: »wie ein großes Kind« – »sanft und selig« – »an einem Herzleiden« – »dahingeschieden«, hätte es heißen müssen: ein schon zu großes Kind, das sie unter ihrem Herzen trug, ist ihr durch einen unsanften Eingriff genommen worden, der ihr Blut vergiftete, wonach sie langsam starb.
Eine zweite außereheliche Schwangerschaft im eigenen Haus unter seinen »Mädchen« wollte Karl nicht riskieren. Einmal war ihm das Vertuschen geglückt. Seine ehelichen Kinder waren 1850/51 noch klein gewesen, die beiden Ältesten Jenny und Laura sind nun, 1862, halberwachsene Frauen. Wieder Friedrich der Vater, der in Manchester zurzeit mit zwei Geliebten lebt? Das hätte niemand noch einmal geglaubt, auch die eigenen Töchter nicht.
Ab 19. August 1862 sind Jenny, die Töchter und Helene im Seebad Ramsgate. Jenny schildert in ihrem Brief vom 20. Februar 1859 an ihre Schwägerin, Louise von Westphalen, wie ihre Urlaube ablaufen, die sie in gleicher Personenverteilung auch 1860 und 1862 verlebt: »… an der See waren und den glühend heißen August sehr heiter und vergnügt verlebten. Ich selbst ging erst allein auf 8 Tage nach Ramsgate … Nach einer Woche brachte Lenchen die 3 Mädchen her … Während Lenchens Abwesenheit vom Hause hatte ihre jüngere Schwester [Marianne Creutz], die ich zur Hilfe von St. Wendel hatte kommen lassen und die nun schon seit 2 Jahren bei uns ist, den Haushalt geführt.«7
Karl bringt die Familie, besucht sie oder holt sie ab, so von Jenny auch für den Sommer 1863 beschrieben: »… an der See … Karl holte uns von da ab …«8 Die meiste Zeit, die die Familie »an der See« verlebt, bleibt Karl in London, ist endlich ungestört, arbeitet – und nicht nur das. Marianne teilt mit ihm das Haus. 1858, 60, 62 ist sie 23, 25, 27 Jahre alt.
Nach der Abreise von Jenny, Helene und den Töchtern (19. August 1862) jubelt Karl am nächsten Tag: »Wie froh war ich heute, daß Frau und Kinder fort …«9
Karl fährt am 28. August 1862 nach Holland, später weiter nach Deutschland zu Geldbittstellungen, kommt am September nach London zurück. Die Familie ist »von Ramsgate« ebenfalls »zurückgekehrt …«10 Karl wird noch im selben Monat von einem Anfall starker Familienvaterverantwortung übermannt und macht sein erstes und einziges Stellengesuch – bei einem Eisenbahnbüro.
Die Abtreibung des Kindes von Marianne lässt sich aus Karls Brief vom 24. Dezember 1862 errechnen, sie geschieht am Mittwoch, dem 17. Dezember 1862. Marianne »fing am Tage der Abreise meiner Frau an, unwohl zu werden. Dienstag Abend, 2 Stunden vor der Ankunft meiner Frau, war sie tot. Ich übernahm mit Lenchen zusammen während der sieben Tage die Krankenwartung.«11 Der Eingriff misslingt – das Übliche: Komplikation im schwierigen vierten Monat, Dr. Allen oder einem Engelmacher unterläuft ein Fehler. Sofort ist die prekäre Situation klar: »Allen had misgivings from the first day.«12 Dr. Allen hatte also Befürchtungen vom ersten Tag an gehabt.
Jenny war auf eine schlecht vorbereitete Reise geschickt worden, sollte Geld bei einem alten Mann, »einem frühern Bekannten« eintreiben und einen Verleger für die französische Übersetzung des bald zu erwartenden »Kapitals« gewinnen. Offenbar war Jenny bei dem Bekannten nicht einmal angesagt gewesen. Und die Verlegerkontakte wurden bislang zumeist schriftlich unterhalten, so mit Becker, Brockhaus, Duncker, Leske, Meissner … Es ging jetzt auch erst einmal nur um eine Eventualität: »Sobald meine Schrift heraus, wird sie französisch publiziert werden.«13
Die Zwecke zu Jennys Unternehmung wirken hergeholt. Kurz vor Weihnachten, da Friedrich die Familie Marx mit Sonderrationen überraschen wird, soll sich Jenny wegen dringenden Geldmangels auf einen unsicheren Bittgang weit weg von London begeben? Friedrich hat schon im August 5 Pfund und im September 10 Pfund geschickt14, im November für Karl eine an Lassalle fällige Rückzahlung von 60 Pfund übernommen, die Karl im Herbst von Lassalle erhielt.15 Friedrich hat am 15. November auf Karls Bitte hin eine Fünf-Pfund-Note für »Kohlen … und ›Lebensmittel‹« geschickt, am selben Tag 24 Flaschen Wein angekündigt16 und Ende November den Marxens 10 Pfund geschenkt, deren erste Hälfte Karl am 20. November bestätigt.17 Karl ist zwischen dem 5. und 13. Dezember in Manchester bei Friedrich und in Liverpool, kehrt frisch versorgt mit Barem in Höhe von etwa 20 Pfund nach London zurück18, »verteilt« am 15. Dezember 15 Pfund unter seinen Gläubigern.19
Friedrich bremst zwar in seinem Brief vom 15. November 1862 Karls Unersättlichkeit20, will dessen inflationäre Forderungen stoppen. Das macht er zwischendurch immer wieder einmal21, unterbricht den Fluss kurz, um ihn dann erneut in Gang zu setzen. Und mitten in einer normalen Zeit des Friedrichschen Fließens »schickt« Karl sofort nach seiner Rückkehr aus Liverpool und Manchester Jenny auf die Reise zu einem dubiosen Helfer?
Es sieht nach Überstürzung aus. Verborgene Absichten scheinen durch. Die Mission klingt auch in Jennys Worten nicht überzeugend: Den nur »fast unerträglich gewordenen Zuständen« soll »ein momentanes Ende« gemacht werden.22 Jennys Reisekosten haben das Haushaltsgeld beträchtlich reduziert.
Und auf »tragikomische« Weise steuert während der Reise alles in Gefahren hinein, als ob die Dinge mitsprächen und Jenny etwas sagen, ja sie alarmieren wollten. Sie wäre mehrmals beinahe verletzt oder sogar getötet worden: Ihr Schiff ging in »großem Sturm« fast unter, dann »passierte Pech mit der Lokomotive … Später stürzte ein Omnibus, mit dem sie fuhr«. Und schließlich »geriet in London der Cab, worin sie saß, in die Räder eines andern«23.
Jenny hat eine schöpferische Nähe zu ihrem Unbewussten. Ihr unbewusster Zugang zur Welt ist direkt...