Luise war gerade acht Jahre alt, da entdeckte sie ihren kleinen Finger. Die Entdeckung ihrer Körpers fing mit dem kleinen Finger an. Vielmehr entdeckte sie nicht den Finger selbst, sondern seine mangelnde Funktionsfähigkeit. Sie entdeckte zuerst den Mangel und dann den Finger. Der kleine Finger ihrer linken Hand verfügte nicht über die volle Bewegungsfreiheit. Er ließ sich nicht in gewünschter Weise von der Hand abspreizen. Ihr Körper tat nicht, was er tun sollte und was sie von ihm erwartete. Das waren ja keine Wunderdinge, keine artistischen Verrenkungen, sie wollte lediglich den kleinen Finger ihrer linken Hand abspreizen. Sie wollte eine schöne chinesische Tasse aufnehmen, sie wollte sie zum Mund führen, dabei auf liebreizende Weise lächeln und den kleinen Finger abspreizen. Das Attribut liebreizend verband sich dabei unlösbar mit dem Finger, mit dem abgespreizten Idealfinger, den sie nicht besaß. Ihre Finger krümmten sich auf geradezu groteske Weise um die Tasse, die sie mehr zu umklammern schienen, als dass sie sie nur vorsichtig, fein und umsichtig ergriffen und zum Mund führten. Es sah aus, als saufe ein Pferd aus einem Bottich.
Sie hatte dieses Mädchen am Sonntagnachmittag im Fernsehen gesehen, übertrieben blond zwar, aber in ihrem Alter, wenn auch nicht halb so hübsch. Das Mädchen hatte mit ihren Eltern am Tisch gesessen, eine Tasse in die Hand genommen und dabei den kleinen Finger auf so liebreizende, grazile und anmutige Weise abgespreizt, dass Luise mit offenem Mund dasaß und auf den Fernseher glotzte. Dann war die Mutter gekommen und hatte den Apparat ausgeschaltet.
Luise freute sich auf das Frühstück am nächsten Morgen. Sie schlief mit dem Gedanken an das blonde, aber nicht sonderlich hübsche Mädchen ein. Nach dem Aufstehen zog sie ihre besten Sachen an und setzte sich feierlich zum Frühstück an den Küchentisch. Die Mutter stellte wie jeden Morgen eine Tasse Schokolade und einen Teller mit zwei Scheiben Toastbrot mit Marmelade auf den Tisch. Luise ignorierte den Toast, streckte etwas unbeholfen den Arm nach der Tasse aus und wusste im selben Moment, dass die Angelegenheit zum Scheitern verurteilt war. Es war keine chinesische Teetasse aus feinem, hauchdünnem Porzellan, sondern eine gewöhnliche, eher derbe Schokoladentasse aus dickwandigem Steingut. Das war bei aller Begabung eine kaum zu meisternde Aufgabe. Also kein Wunder, wenn das nicht gut aussah, nicht so, wie es bei einem hübschen Mädchen in ihrem Alter aussehen musste. Luise sah sich wie von außen, sie sah sich sitzen und die Tasse in die Hand nehmen, so wie sie einen Tag zuvor das Mädchen gesehen hatte. Sie sah ihre eigene Hand wie eine fremde und sie sah, dass es furchtbar war. Sie brach in Tränen aus.
Ihre Mutter bekam einen Schreck, als ihre Tochter zu weinen begann. Sie nahm Luise an der gesunden Hand und ging mit ihr zum Arzt. Der sprach in geradezu herablassender Weise von Wachstumsschmerzen. Luises Mutter war mit der Diagnose durchaus nicht zufrieden. Wachstumsschmerzen war eine Allerweltsdiagnose, wie sie jeder Trottel stellen konnte. Dazu musste man nicht Medizin studieren. Vielleicht war das die einzige Krankheit, die er kannte, und wie ihre Tochter in den Funktionen ihres Bewegungsapparats eingeschränkt war, war dieser Kinderarzt es in seinen diagnostischen und therapeutischen Fähigkeiten. Luise durfte zu Hause bleiben und konnte den ganzen Tag spielen und fernsehen. Am folgenden Tag versuchte die Mutter es mit einem Arzt für Erwachsene, der allerdings auch nicht in wünschenswerter Weise auf die Schmerzen ihrer Tochter reagierte. Sie versuchte es noch mit anderen Ärzten, mit sogenannten Spezialisten, die alle nicht viel herausfanden, weil sie eben nur auf etwas Bestimmtes spezialisiert waren und nicht den Menschen als Ganzen im Blick hatten und die alle miteinander überhaupt die Verantwortung und die Einschränkungen immer nur beim Patienten suchten und nie bei sich selbst. Nichts schien diese Erkrankung treffend zu beschreiben und die Ärzte brauchten immer erst die langwierige und umständliche Beschreibung des Krankheitsbildes, sie wollten immer zuerst eine Diagnose stellen, bevor sie zur Therapie übergingen, schön der Reihenfolge, statt der Wichtigkeit nach.
Die Jahre vergingen, Luise wurde zwölf, dann vierzehn und sechzehn. War zu Beginn nur der kleine Finger einer Hand betroffen, weitete sich das auf andere Organe aus, auf Arme, Schultern und Gesicht. Sie blies die Backen auf und streckte die Zunge heraus. Sie zog Grimassen und Fratzen und lächelte abgründig, gehässig, einvernehmlich und dann lächelte sie rätselhaft oder leichtfertig, gleichgültig, hochnäsig, kritisch, skeptisch. Jeden Moment veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Ihre Haltung wurde schlechter, sie ging mal aufrecht, dann gebückt oder gebeugt. Sie schlich durch die Wohnung, sie kroch. Sie schrie. Sie schrie sich die Seele aus dem Leib, fünf Minuten, eine Stunde oder zwei. Wenn das Geschrei vorüber war, schaute sie fröhlich, als sei nichts gewesen. Dann hatte sie erneut den offenen und klaren Blick eines jungen Mädchens, das neugierig auf die Welt war und gerne lachte. Die sich vor Lachen bog, die sich auf die Schenkel klopfte, die sich die Seele aus dem Hals lachte und seufzte. Die seufzte bis zur Heiserkeit. Und immer wieder dieselbe Szene: Luise griff nach einer Tasse, indem sie einen komplexen Bewegungsablauf durchlief von der ersten neuronalen Zuckung im Gehirn, der Umarbeitung eines Gedankens, einer bloßen Absicht in biochemische Prozesse, in die Enervation der Armmuskulatur, dann das Ergreifen des anvisierten Objekts, das Zusammendrücken von Daumen und Zeigefinger am Henkel desselben, das gezierte Abspreizen des kleinen Fingers mit einer Krümmung von mindestens fünfundvierzig Grad, denn das war die kritische Grenze, die das Gezierte vom Affektierten unterschied.
Eines Morgens, sie war noch nicht lange achtzehn, wachte sie sehr früh auf. Sie wusste, dass sie vor allem den kleinen Finger abspreizen wollte, dass sie schluchzen und seufzen und schreien und lachen wollte. Sie packte ihre Sachen und in der folgenden Nacht verließ sie ihr Elternhaus. Sechs Wochen später war sie dort, wo sie hingehörte. Da kannte sie bereits den Namen ihrer Erkrankung und wusste auch, dass es kein Mittel dagegen gab. Sie war unrettbar verloren. Sie wusste das und alle, die sie an diesem Ort ausführlich begutachtet hatten, wussten das ebenfalls. Luise war, wie alle anderen, nach einer langen Leidensgeschichte hierher gekommen, nach unzähligen Arztbesuchen, Spezialisten aller Provenienz und Couleur. Es war immer das Gleiche und am Ende fiel ein- und derselbe Satz, dass ihnen auf dieser Welt nicht mehr zu helfen wäre. Und dann versuchten sie einen entsprechenden Gesichtsausdruck.
Dann macht Luise einen Gesichtsausdruck der Hilflosigkeit. Weil sie wissen will, wie sich das anfühlte. Und weil hier alle solche Gesichter machen. Hier, wo man sich im unablässigen Selbstgespräch befindet. Wo man wie die Unschuld vom Lande aussieht oder wie die Sünde selbst. Wo man seine Lust oder seinen Überdruss mit spitzen Fingern hält wie ein Insekt. Wo man schreiend auf der einen Seite hereinkommt und auf der anderen Seite wieder hinausgeht. Wo man betreten zu Boden oder gen Himmel schaut, sich sträubt oder nachgibt, zustimmt oder ablehnt. Wo man hin oder her überlegt. Wo man sich zurücklehnt. Wo man mit dem Stuhl wippt. Man wippt vor und man wippt zurück. Man trommelt mit den Fingern auf der Tischplatte. Man beginnt vorsichtig, sehr taktvoll, man steigert sich, man hämmert auf dem Tisch herum. Man hält den Kopf abgewandt, die Augen voller Abscheu, die Lippen geschürzt, die Ohren gespitzt, die Nase gerümpft. Man stürmt nach vorne. Man lässt sich zurückfallen. Man fällt um. Man fällt aus der Reihe. Man schüttelt sich. Man schüttelt sich vor Kälte, vor Abscheu, vor Ekel. Man zieht ein Bein nach. Man schiebt das andere voraus. Man betrügt seinen Mann, seinen Liebhaber, sich selbst. Man ist eine treue Seele oder ein Triebtäter. Man ist glücklich oder geläutert, man lacht, man weint. Man schreit um Hilfe. Man wird ohnmächtig. Man bettelt. Man betet. Man flucht. Man langweilt sich. Man sehnt sich. Man ist seelenlos. Man ist selig. Man ist säumig. Man schämt sich. Man ist bigott und verhärmt. Man ist betrübt, betrunken, betroffen, betreten. Man tut dies oder jenes. Man lässt es. Man lässt es bleiben. Man gibt auf. Man resigniert: Alles, was man tut, hat etwas anderes zur Folge. Man möchte einmal etwas tun, das ohne Folgen bleibt. Folgen machen die Dinge unschön. Wirklich schöne Dinge stehen ganz für sich allein außerhalb aller Zusammenhänge. Das Schöne hat keinen Sinn. Nicht einmal das Leben hat einen Sinn. Man kann sich ebenso gut aufhängen. Das ist vielleicht das Sinnvollste. Wenn Selbstmord allerdings sinnvoll ist, dann ist das Leben ja auch nicht vollkommen sinnlos. Es gewinnt einen Sinn, indem man sich tötet. Dann konnte man ja getrost weiterleben. Aber das Leben ist sinnlos und dann kann man sich ebenso gut aufhängen. Hängt man sich aber auf, kann man nicht weiterleben, hängt man sich nicht auf, kann man sich ebenso gut aufhängen! Es ist zum Verzweifeln! Es ist zum Aufhängen!
Luise rennt hinaus. Sie holt zwei Tische und einen Stuhl. Sie rennt erneut hinaus und holt ein Seil. Sie wirft es hoch oben über einen Balken, bindet den Stuhl am Seil fest und zieht ihn dann in die Höhe. Unter dem weit oben baumelnden Stuhl stellt sie die zwei Tische übereinander. Sie klettert auf den ersten Tisch und von dort klettert sie vorsichtig auf den Tisch darüber. Dann zieht sie den darunterliegenden Tisch weg und stellt ihn auf den Tisch auf dem sie steht. Sie klettert auf diesen darüberstehenden Tisch und zieht erneut den darunterliegenden weg, den sie wieder auf den Tisch stellt, auf dem sie steht, und auf den sie erneut hochklettert, um den darunterliegenden Tisch wegzuziehen und darüber zu stellen. Sie stapelt solange die zwei Tische übereinander, bis sie ganz oben auf der Höhe des Stuhls angekommen ist. Sie bindet den Stuhl vom Seil, stellt ihn auf den obersten Tisch, erklettert auch den Stuhl noch und knüpft balancierend eine Schlaufe, steckt den Kopf hinein, zieht sie sorgfältig, beinahe liebevoll zu, atmet tief ein und aus, atmet ein weiteres Mal ein und dann tritt sie den Stuhl beiseite, der in die Tiefe fällt und eine lange Reihe Tische mit sich reißt. Ihr Körper, der einen kaum bemerkbaren Moment lang in der Luft hängt, fällt nach unten, das Seil strafft sich und das eigene Gewicht bricht ihr mit einem Krachen das Genick, es reißt ihr den Kopf von der Wirbelsäule, die Nervenstränge werden durchtrennt, die Adern zerreißen, minutenlang kämpft sie erstickend vor sich hin röchelnd mit dem Tod. Als sie dann endlich tot ist, bindet sie sich los, rennt erneut hinaus, holt sich ein Gewehr, da sich das Brechen des Genicks nicht so anhört, wie sie sich das vorgestellt hatte, und diese Art zu sterben nicht die erwünschte und erträumte ist, oder weil ihr im Fall aufgefallen war, dass sie die Dinge lebenslang falsch bewertet hatte und das Leben einfach wunderschön ist. Sie legt das Gewehr über den Stuhlrücken, setzt sich auf die Sitzfläche, verbindet den Abzug durch einen Faden mit ihrem Zeh, schließt die Augen und schießt sich in den Mund, weil sie das Geräusch mag, das die doppelläufige Flinte mit dem abgesägten Lauf hinterlässt, wenn die beiden Patronen ihr in einer grandiosen Dekapitation den Kopf vom Rumpf herunterreißen. Die Klasse tobt vor Begeisterung. Stehende Ovationen! Bravorufe!
Nach drei Jahren geht ihre Ausbildung mit diesem Selbstmord zu Ende und sie erhält mit allen anderen ihres Jahrgangs das Diplom der Ernst-Busch-Hochschule für Schauspielkunst in Berlin. Luise bekommt einen Händedruck vom Direktor oder von dem, der an diesem Tag den Direktor spielt, der ihr alles Gute im Leben wünscht und dem sie versprechen muss, dass sie nicht ins normale Leben zurückkehrt, wo die Worte nur Worte sind und niemals eine dramatische Ebene bekommen werden, wo das Leben nur ein dürres Gerippe ist, über dem seelenlos ein Totenschädel aus hohlen Augen in die nicht minder hohle Welt glotzt.
Es war wie im Irrenhaus gewesen. Es war ein Irrenhaus! Aber Luise hatte viel über das Leben und den Tod gelernt. Im sogenannten normalen Leben hätte sie sich kaum mehr zurechtgefunden. Sie suchte sich einen Agenten, sie ging zu Castings, es kamen einige kleinere Engagements. Es war nicht leicht, sich über Wasser zu halten, aber sie versuchte es. Zuerst, wo sie alles versuchte: vor dem Spiegel. Sie kämpfte mit dem Ertrinken, sie kämpfte mit dem Leben oder mit dem Tod und gab gurgelnde, röchelnde, ringende Laute von sich. Es kam eine kleine Rolle in einer Fernsehproduktion. Sie übte Rollen und Emotionen und Dialoge. Sie übte überall, wo es sich üben ließ. Sie übte ein Gefühl. Sie übte zu Hause und im Park. Sie übte das Gefühl, zu Hause und im Park zu sein. Und dann übte sie das Gefühl im Park zu Hause zu sein.
Ich kam gerade von der Uni, ich schob mein Fahrrad durch den Park an der Bank vorbei, wo ich ein Jahr zuvor meinen Mantel vergessen hatte. Überall lagen die Menschen in der Sonne und obwohl ich die Parks in Berlin nicht mag, legte ich mich auf den Rasen. Ich muss für einen Moment die Augen zugemacht haben und eingeschlafen sein. Als ich wieder aufwachte, stand sie direkt vor mir. Sie sah m...