Leben mit der Familie: „Gott behüte mich, daß ich auf Maries Gnaden angewiesen.“
Emerenz lebt 1906 mit Vater und Mutter zwar zunächst in der 1119 Wellington Ave. Das waldlerische Viertel ist in der Wellington Ave. damals wie heute von schmalen, zweistöckigen Gebäuden geprägt. Die Häuser waren zur Zeit der Emerenz weitgehend aus Holz errichtet.
Als noch Unverheiratete geht Emerenz deshalb in die Fabrik und nicht in „dienende Stellung“, um bei ihren Eltern wohnen bleiben zu können. Ihr späterer Mann verdient sein Geld ebenfalls als Fabrikarbeiter. Er hat von 1896 bis 1908 in einer Fahrradfabrik und dann von 1908 bis zu seinem Tod als Stahlpolierer gearbeitet. Doch unmittelbar nach ihrer Heirat im Oktober 1907 wird Emerenz schwanger und die Geburt ihres Sohnes Joseph am 17. Juli 1908 verändert die Situation. Die Eheleute suchen eine geräumigere Wohnung. Nachdem die Eltern der Emerenz 73 bzw. 75 Jahre alt sind, und Emerenz ja einmal gestanden hat, nicht ohne ihre Mutter leben zu können, hoffen sie, gemeinsam in ein Haus ziehen zu können.
1117 W WELLINGTON AVE. IN CHICAGO, 2010 (Archiv Fegert; Foto: Markus Muckenschnabl).
In dieser waldlerischen Wohngegend mit schmalen Zweifamilienhäusern lebt bereits der Vater von Emerenz, als sie und ihre Mutter Ende März 1906 in Chicago eintreffen. Das Haus, in dem sie lebten, stand damals genau hinter dem hier abgebildeten.
Emerenz Meier und ihr Mann Franz Schmöller, der vor der Hochzeit ganz im Süden Chicagos gelebt hat, haben das Glück, in dem Dreifamilienhaus in der 1507 N Clybourn Ave. unterzukommen, in dem bereits die Schwester Anna Gumminger mit ihrem Mann Joseph und ihren vier Kindern wohnt. Dort finden auch ihre Eltern eine Bleibe.
THIRTEENTH CENSUS OF THE UNITED STATES 1910 – POPULATION (Archiv Fegert).
Dieser Eintrag in die Volkszählungsliste von 1910 dokumentiert, dass die Schwestern Emerenz Schmöller und Anna Gumminger mit ihren Kindern zusammen mit den Eltern Meier in dem Haus 1507 N Clybourn Ave. wohnen.
Nach dem Tod ihres Vaters am 19. März 1911 besitzt Emerenz kurzzeitig mit gewissem Stolz „mein Haus“ mit 7 Mietparteien, mit dem sie allerdings „soviel Sorgen und Trubel“ hatte. Auch der Schwager Joseph Gumminger hat eine regelmäßige Arbeit in der Fabrik, in der Franz Schmöller tätig ist, bevor er und seine Familie nach Kansas City ziehen. Der Schwager Georg Maier arbeitet als Packer, zwei Neffen als Drucker und zwei Nichten als Hausangestellte.
Franz Schmöllers Alkoholismus ist immer wieder Anlass zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen ihm und seiner Frau Emerenz: der „echt saubayerische Bauernlümmel“ (EM2 16. Dezember 1920). Umso mehr hängt sie an ihrem Sohn Joseph, den sie liebevoll „Josie“ nennt. Ihre Ehe ist nicht von langer Dauer. Franz Schmöller erkrankt 1911 an Lungentuberkulose. Er liegt seit 12. März 1912 insgesamt 46 Tage im Cook County Krankenhaus, bevor er dann am 27. April 1912 dort im Krankenhaus stirbt.
STERBEURKUNDE VON FRANZ SCHMÖLLER AM 27. APRIL 1912 (Archiv Fegert).
Aus dieser Urkunde ist zu entnehmen, dass Franz Schmöller an Lungentuberkulose verstorben ist. Die Angaben zur Person, Beschäftigung und Eltern macht sein Bruder Georg Schmöller.
WOHNUNGEN DER EMERENZ MEIER IN CHICAGO, 1906–1928 (Entwurf: Fegert, Grafik: Atelier & Friends).
Im Winkel zwischen dem Nord-Arm des Chicago River und dem Michigan-See liegen die verschiedenen Wohnorte der Emerenz in der Wellington Ave. sowie die Hochzeitskirche St. Michael. Bei ihrem Sohn in der W Draper Street ist Emerenz Meier 1928 gestorben.
WOHNUNGEN DER EMERENZ MEIER IN CHICAGO 1906–1928
Quellen: 1List or Manifest of Alien Passengers for the U. S. Immigration Officer at Port of Arrival, New York, March 26th 1906; 2Thirteenth Census of the United States: 1910 – Population, State: Illinois, 5.5.1910 (freundliche Überlassung: Kenneth Madl); 3Selected Marriages St. Michael’s Church 1866–1915; 4Certificate and Record of Death, 5891/27160/12174, 27.04.1912; 5Brief Emerenz Meier an Auguste Unertl, 13.12.1919; 6Fourteenth Census of the United States: 1920 – Population, State: Illinois, 8.1.1920 (freundliche Überlassung: Kenneth Madl); 7Brief Emerenz Meier an Auguste Unertl 14.8.1920; 8Brief Emerenz Meier an Auguste Unertl, 10.11.1926.
Nach dem Tod ihres ersten Mannes heiratet Emerenz nach dem Kriegseintritt Amerikas gegen Deutschland, also um 1917 – zunächst nur als Versorgung für ihr Kind gedacht und als Schutz für sich selbst als Deutsche – den um 1873 geborenen John Lindgren, der 1899 aus Schweden eingewandert war und 1906 „naturalisiert“, also eingebürgert worden ist. In einem Brief an ihre Freundin Auguste beschreibt sie fast rührend, wie sie den Schweden kennengelernt hat:
„Wenn ich und mein Mann [John Lindgren] manchmal so abends beisammen sitzen, dann kommen wir immer wieder darauf zu sprechen, daß es die Frithiofs-Saga war von [dem schwedischen Nationaldichter] Tegnér, die uns beide eigentlich zusammengeführt. Mein erster Mann, mit dem ich in glückloser Ehe lebte, hatte diesen schwedischen Riesen einmal von einem Saloon (einem Wirtshaus) mitgebracht. Beide waren schwer betrunken, doch während mein Mann sich als echt saubayerischer Bauernlümmel aufführte, blieb der andere ruhig, reserviert und äußerst höflich. Ich fragte ihn nach seinem Heimatland. Er antwortete in korrektem Deutsch. Auch nach seinen heimatlichen Dichtern befragte ich ihn, da fing er an, von der Frithiofs- Saga zu erzählen, aber in Schwedisch. Er ging darauf fort, aber ich hatte den Menschen nicht vergessen und als mein Mann starb, (zu meiner Erlösung aus Leid und Elend) da suchte ich gleich mit ihm in Fühlung zu kommen. Er ist ein Entgleister von draußen, wohnte in einer Wirtschaft, in der er all sein Geld draufgehen ließ. Resolut nahm ich ihn weg von jener Bande (die auch Bayern waren), bot ihm Wohnung und Kost gegen Ablieferung seines wöchentlichen Verdienstes und heiratete ihn später. Und ich habe es noch keinen Augenblick bereut. Er es aber auch nicht. Er sagt heute noch, er könne mir nie genug danken, daß ich ihn aus dem Sumpf gerettet und daß ihm durch mich das Leben erst wieder wert geworden wäre. Wir 3 leben sehr glücklich zusammen. Wir haben zwar nicht mehr als wir brauchen, aber Not leiden wir schon gar nicht.
(EM2 16. Dezember 1920)
JOHN V. FARWELL COMPANY, UM 1910 (John V. Farwell, 1911; Archiv Fegert).
In diesem Großhandelsunternehmen an der 102 South Market Street, direkt am South Branch des Chicago River, hat Emerenz Meiers zweiter Mann John Lindgren eine gesicherte Stelle als Angestellter gefunden.
John Lindgren hat ein geregeltes Einkommen als Expedient bei John V. Farwells Compagnie, einem der amerikaweit bedeutendsten Großhandelsunternehmen für Textilien, Kleider und Wohnungseinrichtung mit 1000 Beschäftigten in der Zentrale in Chicago. In John Lindgrens Totenschein, den sein 16-jähriger Stiefsohn Joe bezeugt, wird als Beruf „dry goods clerk“ angegeben, was bedeutet, dass er als Büroangestellter einer Abteilung für Textilien und Oberbekleidung des bedeutenden Großhandelshauses mit 20 Millionen Dollar Jahresumsatz gearbeitet hat.
Die Ehe mit dem gebildeten Akademiker, der vier Sprachen fließend spricht, darunter auch Deutsch, verläuft recht glücklich, und er hat viel Verständnis für den Sohn aus erster Ehe. Ihr „Mann, der Schwed“, ist sehr sparsam und damit zufrieden, Fisch zu essen, den es billiger als Fleisch gibt, um Geld für die Familie zu sparen (EM2 16. April 1923). Trotzdem sind ihnen, wenn es um die Ausbildung des Sohnes geht, Grenzen gesetzt:
„Mein Bub ist nun 14 ½ Jahre alt aber bereits erwachsen, trotzdem er noch die Volksschule besucht. Andere Ausbildung seiner übrigens nicht geringen Intelligenz kann ich ihm bei meiner Armut nicht zuteil werden lassen. Also – ein weiterer Proletarier“
(EM2 16. April 1923)
Emerenz und John Lindgren wohnen mit ihrem Sohn Joe damals in 1239 W Wellington Ave. bei ihrer Schwester Mary. Die Schwester wohnt oben, sie wohnen unten. Um ihre wirtschaftliche Situation aufzubessern, hat sie einen 32-jährigen Untermieter aufgenommen, der in Chicago geboren ist, aber deutsche Eltern hat. Bereits am 20 Februar 1916 hat Mary ihren 47 Jahre alten Mann verloren und so wird sie auch im Bevölkerungszensus von 1920 als Witwe geführt. Sie hatte ein weiteres Haus, das sie aber bereits 1919 wieder verkauft hat, um das in der 1239 W Wellington Ave. schuldenfrei zu bekommen. Später ziehen Emerenz und ihr Mann mit ihrer Schwester Mary ein paar Häuser weiter in die 1254 Wellington Ave.
BRIEF DER EMERENZ AN AUGUSTE UNERTL, 13.12.1919 (StA Waldkirchen).
Hier übermittelt Emerenz ihre neue Adresse, was ihr aber bald leidtun wird.
1254 W WELLINGTON AVE. IN CHICAGO, 2000 (Archiv Fegert, Foto: Cornelia Zetzsche).
In diesem Backstein-Mietshaus ihrer Schwester Mary Jacklin lebt Emerenz Meier mit ihrer Familie im Jahr 1920. „Ich bewohne die Mansarde mit vier allerliebsten Zimmern, mit erkerartigen Fenstern, durch welche grüne Baumwipfel gucken.“ (14. August 1920).
In dieser Zeit feiert Emerenz auch ihren 50. Geburtstag, zu dem ihr auch ihre Schwester Anna Gumminger 12 Dollar zum Geschenk macht. Sie berichtet davon ihrer Freundin Auguste Unertl:
„Blumen und Bücher erhielt ich zu meinem Geburtstage. Mein Mann machte sich arbeitsfrei um nach Lust feiern zu können. Mein Bub brachte mir wieder einmal seinen ersten Zahltag heim. Er hat nämlich Anstellung in einer Maschinenwerkstatt gefunden mit 20 Dollar Anfangslohn per Woche. Ein großes Salair für einen Buben, der letzten 17. Juli erst 16 Jahre alt geworden. Wie wohl mir diese neue Hilfe tut, die mich, wenn alles gut geht, bald aus der ewigen Geldmisere herausreißen wird, kannst Du Dir denken.“
(EMP = Emerenz Meier in PRAXL, 20. Oktober 1924)
Der Umgang in Emerenz‘ eigener Familie hat sich durch die Wiederverheiratung mit John Lindgren grundlegend geändert. Wo lautstarke Auseinandersetzung die Regel war, tritt jetzt – trotz hartem Kampf ums wirtschaftliche Überleben und dem daraus resultierenden Verzicht aufs Schreiben – Ruhe und Geborgenheit ein. Sie schreibt über ihren „große[n] bayrische[n] Schwede[n]“, der trotz besonderer körperlicher Attraktivität für andere Frauen in absoluter Treue zu Emerenz lebt:
„Ich war ja so zufrieden mit seiner [Johns] Liebe und seiner Gesellschaft. Denn keine Sorgen ließ er an mich herankommen und wenn ich krank war, pflegte er mich wie mit Engelshänden.
(EM2 8. Oktober 1927)
„Anstatt hier oder dort ein trautes Wort, ein liebes Lachen, ein frohes Ausruhn zu finden, be...