KOMMUNALPIRATEN
PRAGMATIKER VOR ORT
Auch wenn die Titelseiten der Printmedien nur selten davon Notiz nehmen – Politik wird nicht nur auf der großen Bühne des Bundestages und in den Landesparlamenten gemacht. Und über den Erfolg oder Misserfolg der Partei wird auch die Frage entscheiden, welche politischen Akzente die Piraten auf kommunaler Ebene setzen können. Gerade in ländlich strukturierten Gegenden spielt die Kommunalpolitik eine wichtige Rolle, denn bestimmte Beschlüsse wirken sich unmittelbar auf den Lebensalltag der Bürger aus. Frust und Unzufriedenheit mit »der Politik« haben ihren Ursprung häufig dort, wo Bürger ganz unmittelbar von politischen Entscheidungen und Verwaltungsakten betroffen sind. Bei vielen Politikern sind die Mandate auf Kommunalebene eher unbeliebt: Die Medien nehmen kaum Notiz, der Arbeitsaufwand ist groß, die Gestaltungsmöglichkeiten sind begrenzt.
Das Volk soll laut Artikel 28 des Grundgesetze in Kreisen und Gemeinden Vertretungen haben, die aus unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen sind. Diese Vertretungen haben die Aufgabe, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der geltenden Gesetze eigenverantwortlich zu regeln. Vor der Saarlandwahl diskutierten Politikwissenschaftler, ob die Piraten eine Großstadtpartei seien, die nur in Metropolen wie Berlin funktioniert. Dabei bietet das weite Feld der Kommunalpolitik eine Vielzahl konkreter Anknüpfungspunkte für eine basisdemokratische Partei, zu deren Hauptanliegen Bürgerbeteiligung und Transparenz gehören. Die Piratenpartei übte Ende Mai 2012 zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses 182 Mandate in kommunalen Parlamenten aus.295 Davon wurden 164 Mandate in Wahlen errungen, 29 kamen durch Übertritte aus anderen Parteien hinzu. 51 Sitze in Berlin (51 Mandate von insgesamt 182 entspricht 28 Prozent der Piraten in Kommunalparlamenten), 31 Sitze in Hessen (31/182 entspricht 17%). 59 Sitze hält die Partei in Niedersachsen (59/182 entspricht 32 %), jenem Bundesland, wo am 20. Januar 2013 die nächste planmäßige Landtagswahl stattfinden soll.
Die Regeln für Kommunalpolitik werden in der Bundesrepublik Deutschland von den Ländern in Eigenregie gestaltet.296 Dabei hat sich in der Bundesrepublik in den letzten zwanzig Jahren fast überall ein aus Süddeutschland übernommenes Modell etabliert, nach dem die direkt gewählten Bürgermeister in Amtsunion gleichzeitig Verwaltungschefs und politische Repräsentanten sind. Sie verfügen über umfangreiche Entscheidungsbefugnis, während die Einflussmöglichkeiten der Gemeindeparlamente deutlich beschnitten wurden. Gleichzeitig wurden die Mitsprachemöglichkeiten der Wählerinnen und Wähler durch das Instrument des Bürgerentscheids gestärkt, für die in der Regel eine bestimmte Mindestzustimmung (Quorum) erforderlich ist. Die Kombination beider Modelle sollte zu einer Verbesserung kommunaler Entscheidungsabläufe bei gleichzeitiger stärkerer Einflussnahme der Bürger führen. Ob der Bürger etwas davon bemerkt hat, darf allerdings bezweifelt werden. Die Machtfülle der Verwaltung wurde größer. die Mitgestaltungsmöglichkeiten der Kommunalparlamente verringerten sich. Während die Spitzen der Kommunalverwaltung im Normalfall die Rückendeckung der sie tragenden Parteien genießen, haben sich die Einflussmöglichkeiten der Bürger unter dem Strich verringert. Denn zu Bürgerentscheiden kommt es nur verhältnismäßig selten. Der enorme Aufwand, dessen es bedarf, um solche Entscheide auf den Weg zu bringen, kann von einzelnen Bürgern kaum gestemmt werden, weder zeitlich noch finanziell. Der Eindruck, in bestimmten Konfliktsituationen willkürlichen Entscheidungen ausgesetzt zu sein, wird durch die mangelnde Transparenz der Abläufe innerhalb der verschiedenen Behörden zusätzlich verstärkt.
Während die Politik lange davon ausging, die Öffentlichkeit würde sich für ihre Arbeit nicht hinreichend interessieren, müssen Bürger, die ihrerseits mehr über bestimmte politische Entscheidungsabläufe erfahren wollen, nicht selten feststellen, dass die dazu notwendigen Dokumente unter Verschluss gehalten und die Sitzungen politischer Gremien unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Das führt zu wachsendem Unmut bei den betroffenen Bürgern. Politikverdrossenheit und der aus dieser Enttäuschung resultierende Wille, bestimmte Strukturen nachhaltig und basisdemokratisch zu verändern, entstehen keineswegs nur durch die große Politik, durch gebrochene Wahlversprechen und spektakuläre Affären. Der Frust vieler Bürger fängt schon vor der eigenen Haustür an.
INTERNET IM DORFGEMEINSCHAFTSHAUS
»Ich hab früher immer gesagt, man kann nichts mehr wählen«, sagt Jens Knoblich297 und erinnert sich noch gut, dass es Zeiten gab, da hätte er am liebsten eine eigene Partei gegründet. Bei der Kommunalwahl im September 2008 als Einzelbewerber in die Stadtverordnetenversammlung von Strausberg bei Berlin gewählt, zählt Knoblich heute zu den dienstältesten Kommunalpolitikern der Piratenpartei. Der Blogger Knoblich hörte ein paar Monate nach seiner Wahl durch Zufall von den Piraten. Wenig später, im Januar 2009, wurde er Mitglied – zu diesem Zeitpunkt gab es in ganz Brandenburg erst 17 weitere Mitglieder. Bis heute ist Knoblich der einzige Pirat geblieben, der in Brandenburg über ein Mandat verfügt. Genauer gesagt sind es sogar zwei Mandate, denn Knoblich amtiert auch als Ortsvorsteher in Hohenstein. Erst waren seine Wähler skeptisch, schließlich hatten sie ihn nicht als Pirat gewählt. »Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich die Akzeptanz dafür gefunden habe«, sagt er. Und dass die Piratenpartei in Brandenburg keinen Erfolg haben könne, wenn sie neben dem Internet nicht auch über die klassischen Printmedien die Bevölkerung zu erreichen versucht. In den ersten Monaten nach seiner Wahl, damals noch als Einzelkämpfer in der Stadtverordnetenversammlung, merkte Knoblich, wie schwierig es ist, Dinge zu verändern: »Alleine reißt man nicht viel raus.« Inzwischen hat sich der Pirat mit einem FDP-Abgeordneten, einem Grünen und mehreren Einzelbewerbern zu einer »Offenen Fraktion« zusammengeschlossen. In der geht es, nach seinen Worten »sehr piratig« zu, soll heißen: Es wird viel diskutiert, und es gibt keinen Zwang. Als Stadtverordneter erhält er Einsicht in Dokumente, die ein Normalbürger nie zu sehen bekäme, sagt er. Die Bürger wollten mehr Transparenz, und zwar vor allem bei den Themen, die sie direkt betreffen. Deshalb liege ihm das Thema Open Data, also der freie Zugang zu den Daten öffentlicher und öffentlich finanzierter Einrichtungen, auch besonders am Herzen, sagt Knoblich.
Selbstverständlich spiele das Internet auch auf dem Lande eine Rolle. Jetzt sei das Breitbandprojekt im Land Brandenburg in die Gänge gekommen. Knoblich träumt davon, wenn das Internet endlich da ist, Sponsoren für einen Zugang zum Dorfgemeinschaftshaus zu legen. In seiner Zukunftsvision gibt es Rechner für alle und ein ...