PIRATEN IN DEN LÄNDERN
BERLIN UND DIE ANDEREN
Gibt es sie, die Vormachtstellung der Berliner Piraten gegenüber den anderen Landesverbänden? Existiert das oft beschworene innerparteiliche Nord-Süd-Gefälle der Landesverbände tatsächlich. und wenn ja, wie wirkt es sich aus? Fest steht bisher nur, dass das mediale Erscheinungsbild der Piraten zwischen Berlin und Baden-Württemberg unterschiedlicher kaum sein könnte – mit der Einschränkung, dass der enorme Mitgliederzulauf – das ungesunde Wachstum – seit der Berliner Abgeordnetenhauswahl zu Annäherungen und einer in Teilen beginnenden Verwischung geführt hat.
Deutlich erkennbar ist aber auch, dass sich die politischen Vorstellungen und die Auseinandersetzungen mit bestimmten Sachfragen nicht von den wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen in den verschiedenen Bundesländern trennen lassen. In einer strukturschwachen ländlichen Region ist die Piratenpartei mit anderen Problemen konfrontiert als in jenen Teilen der Republik, in denen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise bisher noch nicht alle anderen Themen dominieren. Diese Unterschiede machen sich – gefühlt – auch in der Mitgliederstruktur bemerkbar. In der medialen Wahrnehmung der Piratenpartei, die sich allzu oft auf die Berliner Sichtweise stützt, werden diese Unterschiede bisher kaum wahrgenommen. Sie sind aber für das Verständnis der Partei und bei der Einschätzung ihrer politischen Entwicklungspotentiale von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
DIE ERSTEN IM PARLAMENT
DIE FRAKTION IM BERLINER ABGEORDNETENHAUS
Der Jubel war unbeschreiblich an jenem Abend des 18. September kurz nach 18 Uhr. Eine Mischung aus Euphorie und Fassungslosigkeit machte sich breit in der Kreuzberger Szene-Location »Ritter Butzke«. So zumindest nahmen anwesende Journalisten die Horde vorwiegend verschwitzter junger Männer wahr, die sich Piraten nannten und eine riesige Überraschung feierten. Gerade waren die ersten Prognosen zur Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus über die Bildschirme geflackert, und sie ließen keinen Zweifel daran, dass die Piraten das Landesparlament geentert hatten. »Geil« entfuhr es dem damaligen Bundesvorsitzenden Sebastian Nerz. Spitzenkandidat Andreas Baum wünschte den Anwesenden eine »geile Party« und ließ sich dann fortzerren zu einer Tour durch die Medien. Alle wollten ihn sprechen, ausfragen, vorstellen. Endlich mal ein neues, junges sympathisches Gesicht, das war viel interessanter als die ewig gleichen Leute von SPD, CDU, Linken und Grünen. Von der FDP, die an diesem Abend auf 1,8 Prozent abstürzte, war ohnehin keine Rede mehr.
Andreas Baum hatte sich am späten Nachmittag auf zum Abgeordnetenhaus gemacht. Über seine Gefühle hielt er seine Mitwelt per Twitter auf dem Laufenden. »zittert. Aber sonst geht es mir wie immer. Also ganz gut :)«, postete er von unterwegs. Kurz vor 18 Uhr stellte er fest: »nein, ich habe keine prognose mehr«. Nach der Bekanntgabe schilderte er dann kurz den Trubel der Medien: »jetzt wird an mir gezerrt. Das hatte ich so alles nicht bestellt! :) aber noch ist alles gut, ausser schlechtem netzempfang«. Später dann: »ich nehme das grad wie einen film wahr jetzt zdf« und »ich werd verrückt«, bevor er sich dann im Ritter Butzke ankündigte, um nun endlich auch feiern zu können.232
Schon bald folgte das erste Aufwachen für die Politneulinge. Sie hetzten atemlos hin und her und wurden gehetzt von den Medien. Keiner der neuen Abgeordneten hatte bis wenige Wochen vor der Wahl damit gerechnet, dass er jemals im Abgeordnetenhaus sitzen würde. Doch ausscheiden, alles hinwerfen, das war seit der ersten Wahlprognose klar, konnte niemand. Die Piraten hatten nur 15 Kandidaten für die Landesliste gewählt, genauso so viele, wie die Wähler schließlich auch ins Abgeordnetenhaus schickten. Wenn einer sein Mandat abgibt, steht kein Nachrücker bereit, sein Platz bleibt leer. Streitigkeiten untereinander, Ärger mit den Ex-Abgeordneten der FDP, die ihre Büros nicht für die anrückenden Piraten freimachten, klassische Anfängerfehler wie der Versuch der 19-jährigen Susanne Graf, ihren Lebensgefährten für einige Monate als Mitarbeiter einzustellen, sorgten für hämische Kommentare der anderen Parteien und Medien. Ein Fest für die Bild-Zeitung war es, als der 24-jährige Simon Weiß wenige Wochen nach der Wahl ein Foto von sich twitterte, auf dem er sich scheinbar Kokain in die Nase zieht – in Wahrheit war es Salz, und Weiß hatte das Ganze nur simuliert.
Gleichwohl richteten sich in den ersten Wochen nach ihrem Auftauchen im Abgeordnetenhaus die Scheinwerfer grell auf die neue Partei. Die hatte ja auch laut getönt, sie wollen vieles anders machen, vor allem transparenter. Das wollte man nun sehen, und so drängelten sich zahllose Journalisten in den ersten offenen Fraktionssitzungen, schrieben viele und lange Artikel und fanden das alles unglaublich spannend. Das große Interesse ließ allerdings schon bald nach, es zeigte sich schnell, dass eine Fraktionssitzung im Normalfall sehr ermüdend und unspektakulär ist. Am Selbstbewusstsein der Piraten kratzte das keineswegs. Bei der Ausschreibung von Stellen für Fraktionsmitarbeiter stellte man den Bewerbern in Aussicht, dabei zu sein, wenn Geschichte geschrieben werde. Das mit der Geschichte kam dann allerdings sehr stockend in Fahrt, denn die Fraktion tat sich unendlich schwer damit, ihre Mitarbeiter auszuwählen. Die Folge war, dass es bis ins neue Jahr hinein dauerte, bis sich die Piraten endlich mit eigenen Sachthemen einmischen konnten.
Je mehr die Piraten an Bedeutung gewinnen, desto dringlicher werden die Fragen von Journalisten, ob Koalitionen mit der Partei überhaupt machbar seien. Der Berliner Fraktionsvorsitzende Andreas Baum lässt daran keinen Zweifel: »Auch bei uns ist es möglich, zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen.« Um den Wahrheitsgehalt seiner These zu unterstreichen, verweist Baum in solchen Momenten gerne auf § 13, Absatz 2 der Satzung der Piratenfraktion. Darin heißt es, dass sich die Abgeordneten der Piratenpartei bei ihrer Meinungsfindung am jeweiligen Wahlprogramm, der Mehrheitsmeinung in der Fraktion, den Parteitagsbeschlüssen der Berliner Piraten und an den Beschlüssen des Berliner Landes-LiquidFeedback orientieren sollen.233
Schaut man nun in der Praxis, wie die Meinungsbildung innerhalb der Fraktion verläuft – jedenfalls soweit diese Meinungsbildung im öffentlichen Teil der Sitzungen erfolgt –, so ist zu beobachten, dass die meisten Fraktionsbeschlüsse mit deutlicher Mehrheit getroffen werden. (Eine Ausnahme macht der fast immer aus der Reihe tanzende Fraktionsfundamentalist Gerwald Claus-Brunner, der oftmals eine andere Meinung vertritt.) Das war angesichts der heftigen Grabenkämpfe speziell in der Berliner Piratenpartei – die erst im Februar 2011 ihren gesamten Landesvorstand ausgetauscht hatte – keineswegs zu erwarten. Hinzu kam die von einigen Beobachtern geäußerte Prophezeiung, die Politik der Fraktion würde durch das Landes-LiquidFeedback gesteuert. Von einer »Steuerung« der Fraktion durch die Basis aber kann bislang nicht die Rede sein. Allerdings hat sie im November 2011 einem Antrag der Linkspartei unter ausdrücklicher Bezugnahme auf eine Entscheidung in ihrem Landes-LiquidFeedback zugestimmt.234 Die Fraktionsmitarbeiterin Monika Belz235 hat die Aufgabe, Abstimmungsvorlagen zeitnah ins Landes-LiquidFeedback einzupflegen, damit die Abgeordneten sich an den Meinungsbildern orientierten können.236
Inhaltlich haben sich die Mitglieder der Piratenfraktion in den ersten sechs Monaten ihrer Arbeit zunächst ganz klassisch mit den Kernthemen der Partei auseinandergesetzt. Der Staatstrojaner und der Schultrojaner wurden im Parlament medienwirksam von Alexander Morlang angeprangert, während sich Susanne Graf für die Herabsetzung des Wahlalters stark machte. Damit wurden wichtige erste Akzente für eine nach außen wahrnehmbare, effektive Parlamentspräsenz gesetzt. Neuerdings beginnt die Fraktion, sich verstärkt mit Strukturproblemen in der Berliner Bildungslandschaft, mit der Gentrifizierung und mit der Modernisierung des in Berlin chronisch störanfälligen öffentlichen Personennahverkehrs zu befassen. Um die Einführung des ticketlosen Nahverkehrs – einer der Wahlkampfschlager – voranzutreiben, wurde inzwischen sogar ein vor allem für dieses Thema zuständiger Mitarbeiter eingestellt. Mit dieser inhaltlich breiten Aufstellung unterstreicht die Fraktion ihren Anspruch, als vollwertige politische Partei wahrgenommen zu werden.
Augenfällig ist, dass der Graben zur SPD tiefer zu sein scheint als der zwischen den Piraten und allen anderen Parteien im Abgeordnetenhaus. Eine erste Bilanz nach sechs Monaten Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus zog der Chef der Berliner Senatskanzlei, SPD-Mitglied Björn Böhning – sie fiel, kaum überraschend, ausgesprochen negativ aus. Böhning, ein enger Vertrauter des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit und bisher selbst nie Mitglied in einem Parlament, warf den Neulingen Untätigkeit vor. Aber Böhning leitete aus seiner Diagnose auch eine grundsätzliche Kritik am neuen politischer Gegner ab. »Die Piraten machen nun alles besser? Im Gegenteil. Ihre polemische, anti-staatliche Grundhaltung und das fadenscheinige Infragestellen von Prozessen sind reiner Selbstzweck und könnten am Ende unserer Demokratie eher schaden als nützen. Wer es nicht glaubt, dem empfehle ich zehn Stunden Anschauungsunterricht im Berliner Abgeordnetenhaus. Die Piraten greifen, eine schwarz-weiße Brille tragend, Politik und Parlament pauschal an, polemisieren und arbeiten sich an Formalien parlamentarischer Prozesse ab. Sie propagieren, den Bürgerinnen und Bürgern würde von Parteien und Parlament die Teilhabe an Entscheidungen verweigert.«237 Es sei »auffällig, mit welcher Selbstüberschätzung sie die parlamentarische Arbeit angreifen und damit die Komplexität von politischen Entscheidungen bewusst verkennen«, schimpfte der Mann aus der Verwaltung. Und er warnte: »Die Piraten lassen Enttäuschte zurück, wenn die Welt am Ende doch nicht so einfach ist, wie sie glauben machen.«
Das konnte Christopher Lauer, der innenpolitische Sprecher der Piratenfraktion, nicht auf sich sitzen lassen und konterte Böhning mit einer scharfen Erwiderung aus. »Wir Piraten greifen das Parlament nicht an; wir kritisieren es da, wo es nicht mehr funktioniert. Das haben wir direkt in der ersten Sitzung des Plenums mit Änderungsanträgen zur Geschäftsordnung getan. Die Anträge sollen dem einzelnen Abgeordneten mehr Rechte geben, zum Beispiel die Möglichkeit, Anträge oder große Anfragen allein stellen zu können.«238 Wenn Böhning davon spreche, dass die Piraten noch keinen Gesetzestext ins Haus eingebracht hätten, dann sei das schlichtweg falsch. Sie hätten Änderungen zum Petitionsgesetz (mehr Rechte für Bürger), Änderungen zum Wahlalter (mehr Rechte für im Moment nicht Wahlberechtigte) und gemeinsam mit der Opposition eine Änderung zum Fraktionsgesetz eingereicht.
Lauer nannte auch ein Beispiel aus dem parlamentarischen Alltag: »Wenn sich Herr Böhning im Kulturausschuss auf unseren Antrag hin zum Prestigeprojekt Musicboard äußern muss, geht das so: Erst versucht der Vorsitzende des Aussch...