ELFTES KAPITEL
Der Briefträger kam. Leopold schwenkte eine Karte in der Hand. Rosa war noch im Morgenrock.
»Emil hat geschrieben!« rief er in die Küche. Emil, der Liliputaner, hatte aus Spanien Grüße geschickt, aber bei den Grüßen gab es auch Klagen: der Zirkus war am Ende. Adolfo, der große Adolfo, sei übergeschnappt – Delirium. Die Elefanten würden weggegeben an irgendwelche Tiergärten. Und viele Grüße, viele Grüße: »Dein Freund Emil.«
Die Karte regte ihn auf, er nahm einen doppelten Schnaps, danach noch einen Doppelten, dann ein Bier, zum Nachspülen.
Rosa reagierte nicht. Auch sie hatte Post, von dem Heim, in dem ihr Sohn Otto untergebracht war. Und das Heim teilte ihr mit, daß auf Grund der gestiegenen Lebenshaltungskosten nunmehr der Preis pro Monat um hundert Mark erhöht werden müsse. Mit einer verbindlichen Floskel schließend, bat das Schreiben um Verständnis.
»Hör mal«, sagte sie, »ich muß was mit dir besprechen …« Aber dann sah sie sein verzücktes Gesicht. Die Nachricht vom Zirkus erregte ihn immer noch. Kein günstiger Augenblick, aber sie mußte ihn aufklären. Noch ein kleiner Aufschub. Im Morgenrock vor dem Küchenherd nahm sie sich fest vor, schon bald von Otto, ihrem schwachsinnigen Sohn, zu sprechen.
Sie sagte: »Wann heiraten wir, Leopold?«
Er sagte: »Er hat geschrieben. Stell dir vor, in Spanien sind sie jetzt. Aber mit dem Zirkus geht es nicht gut.«
»Wann heiraten wir?«
»Das hat doch noch Zeit. – Sie mußten die Elefanten weggeben.«
Die Maler und Anstreicher kamen und belagerten ihn mit ihrem Geschwätz. Seit drei Tagen arbeiteten sie in den Mansarden, die nun auch vermietet werden sollten. Rosa hatte gesagt: »Eine bleibt frei für unsere Wally. Und eine … da muß ich erst noch sehen.«
Sie hatte sagen wollen: Und eine für Otto.
Nachdem die Anstreicher ihr Freibier getrunken hatten, begannen sie mit der Arbeit. Rosa hatte ein bißchen nachgeholfen: »Los! In die Hände gespuckt und nicht herumgestanden!«
Die Bierkutscher kamen, rollten die Fässer in den Keller, standen dann in ihren Lederschürzen vor der Theke, kräftige Männer mit aufgeschwemmten Gesichtern: Freibier und noch ein Freibier, wie es Brauch war.
Der Metzger kam und brachte mit seinem Lehrjungen das bestellte Fleisch. Zwei Entrümpler tranken je einen Schnaps und ein Bier. Sie alle schauten prüfend durch das Lokal, suchten die Frauen: Hier könnten sie Frauen haben, wenn sie es darauf anlegten.
Es hatte sich herumgesprochen. In der Stadt ging der Name »Artistenklause« bei vielen nächtlichen Gesprächen von von Mund zu Mund.
Die Taxifahrer kannten das Lokal und brachten Gäste, die gewisse Wünsche andeuteten.
Es kamen jedoch auch Frauen, die vertraulich taten und Leopold fragten: »Wo ist Rosa? Ich hätte da was mit ihr zu besprechen!«
Während alle diese Besucher zu ihm kamen, ihn musterten, abwägten, kam er sich als Aushängeschild einer unsauberen Firma vor. Der grämliche Zug erschien wieder in seinem Gesicht.
Er sah verblüfft, wie die Frauen kamen, wie sie wieder gingen. Die Miete war wöchentlich zu zahlen – im voraus. Die Damen gaben sich mitunter die Türklinke in die Hand. Und bei all diesen Unternehmungen war er ausgeschaltet.
Er sah, daß sich eine Rangordnung gebildet hatte. An der Spitze kam Rosa, dann die Frauen, je nach Preis gestaffelt. Am Ende dieser Stufenleiter: die Oma. Es war wie in einem Hühnerhof, wo alle auf dem ruppigen Huhn herumpicken. Oma war dieses ruppige Huhn.
Die einzige, die ihr half, war die Blonde Inge. Die anderen verjagten sie vom Tisch, sagten: »Hau ab, du verscheuchst uns die Freier, du alte Spinatwachtel!«
Manchmal betrachtete Leopold seine zukünftige Frau und dachte: die Puffmutter! Woher hat sie das? Wieso kann sie eine solche Sache aufziehen, und ich merke gar nicht, wie sie das macht?
Sie entzog sich diesen forschenden Blicken, die sie genau erkannte. Er aber schlich hinter ihr her. In der Wohnung, in der Küche, überfiel er sie dann mit der Frage: »Sag mir die Wahrheit! Du warst auch eine von diesen Weibern! Los, sag die Wahrheit. Warst du eine Hure oder nicht?«
Er überlegte lange, dann wählte er die Schwächste aus: Oma. Er machte ihr Versprechungen, klärte sie flüsternd auf über die Vorteile, die sie bei ihm hätte: dann und wann ein Essen frei, Bier frei, wenn Rosa nicht in der Nähe wäre.
»Ist das ein Angebot oder nicht? Nun sag schon … sag die Wahrheit! War sie eine Hure oder nicht?«
Die magere Frau war durch diesen Vorschlag verwirrt. Sie überlegte, schlug sich jedoch auf die Seite von Rosa, dachte: Sie hat die Hosen an. Sie spielt hier die erste Geige.
Sie näherte sich ihr, flüsterte hinter der vorgehaltenen Hand erste Andeutungen: »Wenn du mal Zeit hast, wenn niemand in der Nähe ist …«
In einer ruhigen Stunde erzählte sie ihr von seinen peinlichen Nachforschungen, fand eine gnädig gestimmte Rosa: »Jedenfalls hast du von jetzt an bei mir einen Stein im Brett. Wenn du mich brauchst, kannst du auf mich zählen. Dein Bier ist ab heute frei.«
Oma empfand diese Gunst als eine Altersversicherung. Jetzt hatte sie wieder das Gefühl, daß sie gestützt lebte in diesem Haus, dessen Bewohner sie so unfreundlich behandelten.
»Das ist ein Wort, Rosa«, sagte sie. »Du weißt natürlich, was ich damit riskiere, denn mit deinem Mann ist ja wirklich nicht gut Kirschen essen, der kann saugrob werden.«
»Natürlich, ich weiß, wie brutal er sein kann. Man glaubt es gar nicht, wenn man ihn so sieht. Aber ich sage dir, er hat Haare auf den Zähnen.«
Bestens gestimmt über Omas Treue und über den Respekt, den ihr Mann genoß, geriet sie in Spendierlaune, brachte Schnäpse an den Tisch, zapfte Bier für sich und Oma. Die beiden Frauen gerieten ins Schwatzen. Rosa sprach wieder von ihrem Engelchen, das nun bald kommen würde. Selbstverständlich war sie bei den frommen Schwestern gut aufgehoben, aber auch hier würde ihr nichts fehlen.
»Und schön ist das Kind! Ich kann dir sagen, so etwas Reines, weißt du. Sie ist viel zu schade für einen Mann. Da werde ich die Hand drüberhalten. Umbringen werde ich das Schwein, das sich an sie heranmacht mit seinem Dingsda! Du, zu einer Hyäne werde ich! Glaubst du mir das?«
»Selbstverständlich.« Oma glaubte es. Sie bestärkte Rosa auch in ihrem Haß gegen den ersten Mann, der dieses liebliche Geschöpf zu irgendeiner Stunde schänden würde. Sie sprachen jetzt darüber, als würde es keiner Frau erspart bleiben, zur Schlachtbank geführt zu werden. Ihr Mitleid erstreckte sich von dieser Tochter auf alle Töchter, die das früher oder später erleiden müßten.
»Eine böse Einrichtung«, sagte Rosa.
»Sehr böse!« stimmte Oma zu. Sie wollte auch noch ihre ersten ekelhaften Begegnungen mit den Männern schildern, aber Rosa wehrte ab. »Brauchst du mir gar nicht zu sagen, über dieses Pack weiß ich alles. Habe ich nicht genug erlebt und mitgemacht? Ah. Ich will das alles vergessen! Ein paar Jahre noch mit Leopold, verstehst du, diese paar Jahre, die will ich noch haben. Na ja, und dann …«
»Und dann?«
»Ja, dann ist sowieso alles vorbei.«
Aber die Erziehung, die mache viel aus, bestätigten sie sich. Und das Engelchen sei ja schließlich fromm erzogen worden. Sie gerieten allmählich in Rührung, schlossen ein Bündnis, in dem sie festlegten, daß sie gemeinsam über das Kind wachen wollten. Vor allem aber müsse es weiterhin im Sinne der Schwestern erzogen werden. Schließlich gestanden sie sich, daß sie beide wieder beteten, zwei alte Frauen, die in der Dunkelheit ihrer Schlafzimmer ganz einfach ihr Leben leugneten, die Hände falteten, sich kindlich machten: Ich bin wieder da, rein wie ein Kind.
Sie erörterten das nicht genau, denn Oma hätte dann erklären müssen, daß sie mit dem, was sie als Herrgott empfand, so sprach, als wäre es ein Freier, dem sie mitunter sogar vorhielt: »Ich habe ja nichts anderes gelernt, als zu huren.«
Leopold traf die beiden, als er von seinem Spaziergang zurückkam, seinem Weg entlang am Bahndamm.
»Ihr seid ja beide besoffen!« rief er. »Das hört mir auf! Los, marsch in die Küche!«
Rosa stand auf; Tränen in den Augen, maulte sie: »Siehst du, wie brutal er mit mir ist? Jetzt siehst du es wieder mal.«
»Umbringen …«, lallte die Oma. »Alle Männer umbringen.«
Sie torkelte aus dem Gastzimmer und schleppte sich nach oben, wo der Haß sie zu Tränen trieb und die Angst vor der Zukunft ihr wieder Gebete aufzwang, in denen sie sich dem Wesen Gott unterwarf, ihn anbettelte, mit ihm feilschte, als wäre er der Erzvater aller Zuhälter. Dabei erkannte sie bitter, daß sie gezwungen war, auch dieses Wesen als Mann zu sehen.
»Heute kommt er!« jubelte Dodo. »Heute kommt er von der Reise zurück!«
Sie saßen im Gastzimmer und tranken Bier. Leopold stand schläfrig hinter der Theke und brütete über einem Unternehmen, das er demnächst in Angriff nehmen würde: der Flohzirkus. Vielleicht würde er damit Erfolg haben. Dann würde er die Weiber hinauswerfen, und das Lokal wäre wieder sauber.
»Wie weit ging denn diese Reise?« fragte die Rote Else spitz.
»Halt’s Maul!« drohte Dodo. Aber dann sah sie das Grinsen in den Gesichtern von Oma, Inge, Tilly und Sonja. Ihre Freude war so groß, daß sie jetzt freigiebig die Wahrheit verschenkte: »Na schön, er war im Gefängnis. Eine kleine Sache, die schon lange zurückliegt. Wir haben es immer wieder aufgeschoben. Aber jetzt hat er es hinter sich.«
»Das ist doch nicht schlimm!« sagte Tilly. »Ein richtiger Kerl muß auch mal im Knast gewesen sein. Ich werde meinen Schauspieler bald abservieren und mir etwas Handfestes suchen. Was soll ich denn mit dem alten Knacker?«
«Hast du auch ordentlich angeschafft?« fragte die Rote Else mißgünstig. »Er will doch Kohlen sehen, wenn er jetzt ’rauskommt. Also ich, ich würde mich nicht von so einem ausnehmen lassen. Sag doch selbst, was macht so ein Kerl? Der steht an der Theke und säuft sich voll, dann schläft er bis in die Puppen, danach hebt er seinen faulen Arsch aus dem Bett und sagt als erstes: Wieviel? Und wenn du nicht genug gemacht hast in der Nacht, dann kriegst du noch eine in die Fresse.«
»Da hast du wohl oft eine in die Fresse gekriegt«, sagte Dodo grinsend.
»Ich? Von wegen! Rausgeschmissen habe ich das Schwein. Das ist schon fast ein Jahr her. Kommt doch der Dreckskerl morgens besoffen nach Hause und sagt: Los, Alte, geh ’runter und bezahle das Taxi. Ich hatte nicht mehr genug Geld in der Tasche. – Was! sagte ich. Du Mistkrücke, dein Taxi soll ich bezahlen? Du kannst mir mal den Buckel ’runterrutschen! Und klatsch, da hatte ich eine. Hier …« Sie deutete auf einen ihrer Schneidezähne. »Hier, da habe ich jetzt einen Stiftzahn. Den hat er mir damals ’rausgeschlagen. Also, da war es bei mir alle! Ich griff nach unserer blauen Vase, so eine richtig schöne Kristallvase war das, und die hau’ ich ihm über den Schädel. Ich k...