Verblüffende Siege
eBook - ePub

Verblüffende Siege

Die größten Überraschungscoups der Kriegsgeschichte

  1. 184 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Verblüffende Siege

Die größten Überraschungscoups der Kriegsgeschichte

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Kriegerische Auseinandersetzungen mit verblüffendem Ausgang, Schlachten, die gegen alle Erwartungen der "Underdog" gewann, hat es immer wieder gegeben, in vorchristlichen Jahrhunderten bis hinein ins 20. Jahrhundert. Ebenso wie es in der Antike den an Menschen, Material und Militärmacht mehrfach überlegenen Persern unter ihren Königen Xerxes und Darius nicht gelang, die Griechen zu besiegen, schafften es 1954 weder die Franzosen, noch danach in den 60er Jahren die Amerikaner, den Krieg in Vietnam für sich zu entscheiden. Woran lag das? Was waren die Gründe, weshalb es in der Militärgeschichte der letzten 2500 Jahre immer wieder vorgekommen ist, dass der vermeintlich Schwächere den mächtigen, zahlenmäßig weit überlegen Gegner bezwingen konnte? Diesen Fragen geht Hans-Dieter Otto in diesem Buch anhand der bedeutendsten Überraschungssiege der Menschheitsgeschichte nach.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Verblüffende Siege von Hans-Dieter Otto im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Geschichte & Weltgeschichte. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2012
ISBN
9783799507974
Auflage
1

Die vergebene Chance

Marne, September 1914

Für Frankreich ist die Marne etwas Besonderes, sie ist sein Schicksalsfluss. Im Ersten Weltkrieg wird an ihren Ufern aus einer sich abzeichnenden französischen Niederlage, die vielleicht den Verlust von Paris und des ganzen Krieges bedeutet hätte, ein überraschender Sieg. Seitdem sprechen die Franzosen vom »Wunder an der Marne«, die Deutschen von der »unseligen Marne«, ein Adjektiv, das so gar nicht zu der friedfertigen und reizvollen, weinseligen Landschaft passt, durch die sie fließt: der Champagne. An ihren Abhängen wachsen die schweren, schwarzen Trauben, aus denen in den Keltereien des Departements der berühmte Champagner gemacht wird. Wie konnte es zu diesem »Wunder« kommen, einem dramatischen Ereignis, das in der gesamten Kriegsgeschichte ohne Beispiel ist? Einem Geschehen, das die Griechen Peripetie nennen, Wendung des Schicksals?
Nach der am 3. August 1914 erfolgten Kriegserklärung an Frankreich ziehen überall in den deutschen Städten singende und jubelnde Menschen durch die Straßen. Aus Tausenden Kehlen erklingt »Es braust ein Ruf wie Donnerhall …«. Die »Wacht am Rhein« wird zur Melodie der Nation. Schaufensterscheiben von ausländischen Geschäften gehen zu Bruch, Ausländer werden verprügelt, und in den Gaststätten verschwinden französische Namen wie »à la carte« oder »Menue« von den Speisekarten. Auch in den französischen Städten singt man begeistert die »Marseillaise«. In den Boulevards rufen sich die Pariser zu: »À Berlin, à Berlin!« Auch hier werden die Scheiben von Geschäften mit deutsch klingenden Namen eingeschlagen. Das Mobiliar des Restaurants Pschorrbräu wird kurz und klein gehauen und auf die Straße geworfen. In London sagt der britische Außenminister Grey nach der Kriegserklärung ergriffen: »In diesem Augenblick gehen in ganz Europa die Lichter aus!« Tag und Nacht rollen in dichter Folge Transportfahrzeuge an die Front. Die deutschen Soldaten sind voller Siegeszuversicht. Sie singen Hasslieder auf den Feind und schreiben mit Kreide auf die Viehwaggons: »Jeder Stoß ein Franzos’, jeder Schuss ein Russ’, jeder Tritt ein Brit’!« Sie sind sich sicher: Wir haben die beste Armee der Welt, und wir haben einen genialen Angriffsplan! Der preußische Feldmarschall Al-fred Graf von Schlieffen hat ihn entwickelt. Die Masse der deutschen Armee soll im Westen, wo der Schwerpunkt des Krieges liegt, vorwärts stürmen, wie ein gewaltiger Keil durch das neutrale Belgien tief nach Frankreich hineinstoßen, über die Seine hinaus, dann hinter Paris nach Osten eindrehen, in einem großen Schwenk die französische Hauptstadt umfassen und die eingekesselten alliierten Truppen vernichten. Dieser rechte Flügel soll dem Feind den Todesstoß versetzen. Noch 1913 auf dem Sterbebett soll Schlieffen beschwörend gesagt haben: »Macht mir den rechten Flügel stark!« Der britische Historiker Liddell Hart nennt den Schlieffenplan einen »Entwurf von napoleonischer Kühnheit«. Er vergleicht ihn mit einer Drehtür: »Je stärker die Franzosen bei ihrer ersten Offensive vorandrängten, mit desto größerem Schwung würde die Tür auf der anderen Seite herumschwingen und sie im Rücken treffen.«
Schlieffens Nachfolger als Generalstabschef, Helmuth von Moltke (1848–1916), der Neffe des großen Moltke der Jahre 1870/71, ist der ganze groß angelegte Plan viel zu risikoreich. Nach Schlieffen sollen nur 200.000 Mann in Elsass-Lothringen zur Verteidigung bleiben. Er will die Franzosen notfalls bis nach Bayern hinein marschieren lassen, wenn nur die große Umfassungsschlacht vor Paris gelingt und die Franzosen in die Falle gehen. Sieben Achtel der gesamten Streitkräfte sollen auf dem rechten Flügel massiert sein. Der ängstliche Moltke, der seit 1910 an einer zunehmenden Arterienverkalkung leidet, ist von Natur aus ein Pessimist, ein Schwarzseher. Er verwässert den ganzen Plan. Die Bedrohung durch die Russen im Osten schätzt er viel stärker ein, als sie zu Beginn des Krieges tatsächlich ist. Er nimmt zwei kampfstarke Korps vom rechten Flügel und schickt sie an die Ostfront. Außerdem stellt er in Elsass-Lothringen 450.000 Mann auf. Am Ende ist das Verhältnis zwischen seinem linken und rechten Flügel nicht mehr 1:7, wie von Schlieffen geplant, sondern nur noch 1:3. Und auch auf den Durchmarsch durch die Niederlande, den Schlieffen unbekümmert gefordert hatte, verzichtet Moltke aus moralischen Gründen. Der französische Generalstabschef und Oberkommandierende, General Joseph Joffre (1852–1931), sagt später über ihn: »Die Deutschen hatten ihre Schnellzuglokomotive einem Postkutscher anvertraut.«
Zunächst verläuft auf deutscher Seite alles nach Plan. Drei deutsche Armeen stürmen durch Belgien und Luxemburg und setzen zum Umfassungsangriff an. Bei Brüssel schwenkt die 1. Armee, geführt von Generaloberst Alexander von Kluck (1846–1934), am äußersten rechten Flügel wie vorgesehen nach Süden ein und geht in Gewaltmärschen zwischen Amiens und St. Quentin über die Somme. In ihren Uniformen, deren feldgraues Einerlei nur durch die rote Regimentsnummer auf der Vorderseite der Helme durchbrochen wird, marschieren die deutschen Grenadiere unentwegt vorwärts, in riesigen Scharen, diszipliniert, geordnet und im Vertrauen auf ihre Überlegenheit. Unter einer brennend heißen Augustsonne singen sie im Gleichschritt mit rauer Stimme: »Siegreich woll’n wir Frankreich schlagen, sterben als tapf’rer Held.« Einer von ihnen schreibt später: »Der Krieg war uns wie Wein zu Kopf gestiegen. Kein schönerer Tod ist auf der Welt … Alles, nur nicht zu Hause bleiben.«
Wie erhofft, laufen General Joffres Armeen den Deutschen direkt in die Arme. Sie stoßen nach Belgien und Nordfrankreich hinein und greifen unter schweren Verlusten mit 450.000 Soldaten in Lothringen und mit 360.000 in den Ardennen an. Dem etwa 100.000 Mann starken britischen Expeditionskorps unter Feldmarschall Sir John French gelingt es am 23. August, die Deutschen einige Zeit lang bei Mons aufzuhalten. Sie sind von der Heftigkeit des alliierten Widerstandes überrascht. Der deutsche Vormarsch verlangsamt sich, der Zeitplan kann nicht mehr eingehalten werden. Doch die Armeen dringen weiter vor. Links neben Klucks 1. Armee erreicht die 2. Armee unter Generaloberst Karl von Bülow (1846–1921), einem glänzenden Taktiker, Lüttich und Charleroi und schwenkt ebenfalls nach Süden Richtung Laon ein. Links von ihr dreht die zunächst gegen Dinant gewendete 3. Armee unter Generaloberst Max von Hausen Richtung Reims. Noch weiter links geht die von Herzog Albrecht von Württemberg geführte 4. Armee bei Sedan über die Maas, während die 5. Armee unter Kronprinz Wilhelm an der Festung Verdun vorbei ebenfalls nach Süden eindreht. Am 25. August meint der Chef der Operationsabteilung der Obersten Heeresleitung, Oberstleutnant Tappen, ein trockener, starrsinniger Ostfriese, in sechs Wochen sei die »ganze Geschichte« erledigt. Am 28. August ist das Tor nach Nordfrankreich in der Tat weit aufgestoßen. Die Franzosen werden auf breiter Front auf die Marne zurückgeworfen.
Wäre es nach Schlieffen gegangen, hätte Klucks 1. Armee nun im Rücken von Paris westlich der Stadt vorbeistoßen müssen. Aber nach Moltkes Änderungen ist der lang ausgestreckte rechte Arm dafür zu schwach. Der hochgewachsene Kluck mit dem glatt rasierten, von Pockennarben gezeichneten Gesicht und dem festen, furchteinflößenden Blick ist der wohl beste und fähigste General an der Westfront. Am 30. August 1914 steht er vor einer schwierigen Entscheidung. In heftigen Kämpfen hat seine Armee den Feind Richtung Marne vor sich hergetrieben. Nun will er den fliehenden alliierten Truppen keine Zeit zum Atemholen lassen. Meldungen über die Richtung, in der sie sich zurückziehen, bestärken ihn in der Annahme, dass sich die französische Front nicht so weit nach Westen erstreckt, wie der Generalstab vermutet hat. In Übereinstimmung mit General Hermann von Kuhl, dem Chef seines Stabes, einem hervorragenden Schüler Schlieffens, gelangt Kluck zu der festen Überzeugung, dass er in energischem Zupacken die Front sofort nördlich von Paris aufrollen und sich damit ein weites Ausgreifen seiner geschwächten und dezimierten Einheiten westlich und südlich der Stadt ersparen kann. Das erfordert allerdings eine Schwenkung des Vormarsches aus exakt südlicher in südöstliche Richtung. Mit einem solchen Manöver würde die 1. Armee zugleich die Lücke schließen, die in den letzten Tagen zwischen ihr und Bülows angrenzender 2. Armee immer größer geworden ist. Statt den Kanal mit dem Ärmel zu streifen, will Kluck in direkter Verfolgung General Lanrezacs französischer Armee an Paris auf der inneren, östlichen Seite vorbeistoßen. Nachdem er durch einen abgefangenen Brief auch davon erfahren hat, dass sich die Engländer von der Front absetzen und über die Seine zurückziehen wollen, entschließt sich Kluck, diese Schwenkung nach Südosten zu vollziehen.
Den letzten Ausschlag dafür gibt ein Ersuchen General von Bülows, das am 30. August gegen 18.30 Uhr bei der 1. Armee eintrifft. Bülow bittet Kluck, unverzüglich eine Schwenkung nach innen vorzunehmen, um ihm »zur völligen Ausbeutung des Erfolges« zu verhelfen, den Bülow über die 5. französische Armee errungen hat. Vielleicht hat für Klucks Entschluss auch seine Verärgerung darüber eine Rolle gespielt, dass ihm Moltke für seinen weiteren Vorstoß keine Verstärkung vom linken Flügel zukommen ließ, was in Schlieffens Plan durchaus vorgesehen war. Stattdessen musste Kluck sogar zwei kampfstarke Korps für die Ostfront abstellen. Sie fehlen ihm jetzt beim Vormarsch auf die Marne. Als er die Oberste Heeresleitung über seine bereits eingeleitete Schwenkung informiert, gibt Moltke noch in der Nacht seine Zustimmung. »Die von der 1. Armee eingeleiteten Bewegungen entsprechen den Absichten der Obersten Heeresleitung«, heißt es kurz und knapp in dem Funkspruch, der am 31. August um 2.30 Uhr früh bei der 1. Armee eintrifft. Moltke beunruhigt die immer weiter auseinander klaffende Lücke zwischen den Armeen. Außerdem würde Klucks ursprünglich westlich von Paris vorgesehene Umfassung die Front nochmals um mindestens 80 Kilometer verlängern. Und das erscheint Moltke angesichts der mehr und mehr dezimierten Truppenstärke und des erheblichen Kräfteschwunds der 1. Armee als zu riskant.
Nun treibt Kluck seine Armee in ungestümer Eile weiter voran. Am Morgen des 31. August ordnen sich die müden, hungrigen und von ununterbrochenen Kämpfen gezeichneten Kolonnen erneut für einen langen Marschtag. Die durchschnittliche Marschleistung beträgt 40 Kilometer, und das mit einem über einen halben Zentner schweren Tornister auf dem Buckel. Kaum ein Infanterist kennt die Namen der Orte, durch die sie kommen. Landkarten haben nur die Offiziere. Deshalb merkt die Truppe nicht, dass die Marschrichtung sich geändert hat. Sie glaubt noch, Paris sei das Ziel. Und das spornt sie an. Am 1. September erleben Klucks Regimenter eine böse Überraschung. Nach dem Überqueren der Oise treffen sie im Waldgebiet von Compiègne auf die Engländer, von denen es in Klucks Kommuniqué noch geheißen hatte, sie seien »ungeordnet über die Marne zurückgegangen«. Aber das ist nicht der Fall, sie werden die Marne erst am 3. September überqueren, ohne die Brücken zu sprengen. Nur wenige werden teilweise zerstört. Die englische Nachhut liefert den Deutschen ein hartes, verlustreiches Gefecht, das den Zeitplan erneut durcheinander bringt. Die deutschen Grenadiere sind am Ende ihrer Kräfte. Einer von Klucks Offizieren schreibt am 2. September in sein Tagebuch: »Unsere Männer sind ganz erschöpft. Sie stolpern dahin, die Gesichter staubbedeckt, die Uniformen zerfetzt. Sie sehen aus wie lebendige Vogelscheuchen …, marschieren mit geschlossenen Augen und singen im Chor, um nicht einzuschlafen … Nur die Gewissheit eines baldigen Sieges und des triumphalen Einzuges in Paris hält sie noch aufrecht.« Die Offiziere wagen nicht, ihnen die Wahrheit zu sagen.
In der Nacht des 2. September trifft bei der 1. Armee aus dem Großen Hauptquartier, das inzwischen über Berlin und Koblenz in ein Schulhaus nach Luxemburg, noch immer weitab vom Frontgeschehen, verlegt worden ist, ein Befehl Moltkes ein. Darin heißt es: »Der Feind hat sich dem Umfassungsangriff der 1. Armee und 2. Armee entzogen, und ein Teil seiner Streitkräfte hat sich mit den Streitkräften von Paris vereinigt.« Der Feind habe starke Kräfte nach Westen verlegt, die rechte Flanke des deutschen Heeres sei bedroht. Deshalb müssten beide Armeen »verhalten und sich gegen die östliche Front von Paris wenden«. Kluck schüttelt den Kopf. Den marschierenden Flügel auf der Schwelle des Sieges anzuhalten, das leuchtet ihm nicht ein. Ihm kommen Zweifel, ob die weit entfernte Oberste Heeresleitung die Lage überhaupt noch richtig einschätzen kann. Und dann folgt in dem Befehl ein Satz, der Kluck zutiefst kränkt. Seine Soldaten sollen »gestaffelt der 2. Armee folgen und den Flankenschutz des Heeres übernehmen«. Das verletzt Klucks Stolz mehr als eine Unterstellung unter den Befehl Bülows, die die Oberste Heeresleitung schon einige Male erwogen hat. Kluck denkt gar nicht daran, sich hinter Bülow zu halten, denn er ist diesem einen Tagesmarsch voraus. Um Moltkes Befehl zu befolgen, hätte er zwei Ruhetage einlegen müssen. Das hätte seiner Armee zwar gut getan, nicht aber der stürmischen Offensive, in der sie sich noch immer befindet. Deshalb befiehlt Generaloberst von Kluck seiner Armee sofort, am nächsten Tag den Marsch über die Marne fortzusetzen, um die Franzosen nach Osten abzudrängen. Es ist ein bisschen so, als führe in diesen schicksalsschweren Tagen hier jeder seinen eigenen Krieg. Zum Schutz seiner gefährdeten rechten Flanke gegen einen französischen Ausfall aus Paris lässt Kluck lediglich zwei seiner schwächsten Einheiten zurück.
Am 3. September legen Klucks Soldaten unter sengender Sonne und immerblauem Himmel bei 30 Grad im Schatten mehr als 40 Kilometer zurück. Alle Versorgungszüge und auch die Artillerie lassen sie weit hinter sich. Am Abend erreichen die Regimenter die Ufer und Brücken der Marne und bilden die ersten Brückenköpfe. Einen Tag später gehen auch die Spitzen der 3. Armee von Hausens über den Fluss. In den Kämpfen der folgenden Tage leisten die Franzosen auf einer 300 Kilometer langen Front, vornehmlich auf der Hochebene südlich der Marneniederung, heftigen Widerstand. Ein bedrückendes Zeugnis dafür ist die Schilderung des italienischen Kriegsberichterstatters Luigi Barzini: »Die weite Ebene ist mit Leichen übersät. Es sind Franzosen. Hunderte und Aberhunderte, ja, Tausende menschlicher Körper liegen da, so weit der Blick reicht … Sie bilden eine lange, gewundene Linie, die fern verblasst, schmaler wird und verschwimmt. Sie liegen alle in einer Richtung gelagert, wie niedergemähtes Gras. Der Tod hat sie in wütendem Sturmlauf überrascht. Sie sind in ausgeschwärmter Linie gefallen, alle das Gesicht nach vorne … Fast alle Toten liegen mit offenem Munde da, das bleifahle Gesicht auf der Erde, in die Stirne oder in die Brust ge-troffen.«
Otto_Schlachten_Marne.eps
Auch die Soldaten der sächsischen 3. Armee sind 20 besonders heiße, regenlose Tage ohne Ruhetag marschiert, die meisten davon unter dauernden Kämpfen und auch bei Nacht. Generaloberst von Hausen beschließt daher, seiner Armee für den 5. September, einem Samstag, die dringend benötigte Erholung für Mann und Pferd zu gönnen, um die Kampfkraft der Truppe zu heben. Er selbst und auch ein Teil seines Stabes sind seit diesem Tag von einer folgenschweren kräftezehrenden Krankheit betroffen, die hochansteckend ist und sich schnell ausbreitet. Sie rumort so kräftig in den Därmen, dass Hausen für einige Zeit aus-fällt. Wenig später ist es klar: In der 3. Armee greift eine Typhusepidemie um sich. An diesem 5. September, den Hausen als Ruhetag für seine Sachsenarmee bestimmt, erscheint in der Reichshauptstadt das »Berliner Tageblatt« mit der Überschrift: »Kanonendonner vor Paris«. Nähere Einzelheiten werden zwar nicht mitgeteilt, aber der Artikel erweckt den Eindruck, dass die deutschen Truppen kurz davor sind, Paris einzunehmen. Tatsächlich kommt am 4. September eine aus elf Mann bestehende Patrouille des Schweren Reserve-Reiterregiments Nr. 1 bis auf sechs Kilometer an den Festungsgürtel der Stadt heran, und ein paar Tage später können Klucks Soldaten am Horizont die Silhouette des Eiffelturms erkennen. In der Nacht vom 2. zum 3. September ist Raymond Poincaré, der Präsident der französischen Republik, mit einigen Kabinettsmitgliedern heimlich nach Bordeaux geflohen, ebenso das Personal der Bank von Frankreich und einige andere Behörden sowie einige reiche Familien, die in Monaco Unterschlupf finden. Als das in Paris bekannt wird, strömen Tausende aufgebrachter Pariser auf den Place de la Concorde und zum Elyséepalast und bewerfen die geräumten Regierungsgebäude mit Steinen.
Im Raum Paris scheint sich der totale Zusammenbruch abzuzeichnen. Die Lage in der Stadt ist verzweifelt. Auf Befehl des Militärgouverneurs von Paris, General Gallieni, werden im Umkreis der Befestigungswerke alle Häuser niedergerissen, um freies Schussfeld zu bekommen. Gallieni will in Paris alle Brücken sprengen, wenn die Deutschen in die Stadt eindringen. Auch der Eiffelturm soll nicht verschont werden. Die Männer, die in Paris bleiben, arbeiten an der Verteidigung. Sonderzüge befördern »600.000 nutzlose Esser«, wie eine Zeitung schreibt, kostenlos nach Süden. Im Bois de Boulogne und im Park von Longchamps lagern Tausende von Rindern. Sie sollen der Bevölkerung während der erwarteten Belagerung als Nahrung dienen. Auf den Plätzen und Boulevards erheben sich überall hohe Heufuder für die Tiere, und an den Ufern der Seine steht eine Viehtränke neben der anderen.
Die allgemeine Panik greift auch auf Sir John French (1852–1925) über, den klein gewachsenen Kommandeur der britischen Expeditionsarmee, dessen Verhältnis zu den Verbündeten von Anfang an gespannt ist. French hegt gegenüber den Absichten der Franzosen tiefstes Misstrauen, er befürchtet, ausgenutzt zu werden. Am 29. August hatte ihn Joffre inständig gebeten, die Stellung zu halten. Aber French ist dazu nicht bereit. In den Rückzugsgefechten der letzten Woche habe er 15.000 Mann verloren, erklärt er Joffre. Seine Truppe brauche nun dringend zehn Tage Pause, weshalb er sich noch weiter bis hinter die Seine westlich von Paris zurückziehen werde. Dass er daran denkt, seine Truppen ganz aus der Front herauszuziehen und bis in den 400 Kilometer entfernten Hafen von St. Nazaire an der Loiremündung marschieren zu lassen, um sie dort einzuschiffen und zurück nach England zu bringen, sagt er dem französischen Oberbefehlshaber nicht. Damit würde sich in der Front eine riesengroße Lücke bilden. Die Möglichkeit, den Krieg zu verlieren, ist in diesen Stunden größer als je zuvor. Frankreich hätte den Briten diese »Fahnenflucht« wahrscheinlich nie verzeihen können. Der britische Kriegminister Lord Kitchener eilt nach Paris, tritt French in seiner blauen Marschallsuniform gegenüber, was der überempfindliche French sofort als Beleidigung auffasst, und erreicht in einer hitzigen Auseinandersetzung, dass die britischen Truppen an die Front zurückkehren. Am letzten Tag der Marneschlacht werden sie in die 45 Kilometer große Lücke zwischen der 1. und 2. deutschen Armee hineinstoßen und, wie Winston Churchill es ausgedrückt hat, »in die deutsche Leber eindringen«.
Marschall Joffre entscheidet sich am 6. September dafür, Paris nicht aufzugeben und die Armeen nicht ins Innere Frankreichs zu retten, sondern sie in einer letzten beharrlichen Kraftanstrengung aus dem Rückzug umzudrehen und den Deutschen erneut entgegenzuwerfen, um zu versuchen, sie aufzuhalten. In einem verzweifelten Gegenangriff will Joffre dem Feind dort entgegentreten, wo er nach Joffres Überzeugung alle Kräfte zum letzten Stoß auf Paris massiert hat: an der Marne. Seit dem 3. September weiß Joffre von Klucks Schwenkung. Und auch General Gallieni erkennt sofort die Chance, als er im Stabszimmer seines Deuxième Bureau auf die Landkarte mit den aufgesteckten Nadeln blickt: »Sie bieten uns ihre Flanke! Sie bieten uns ihre Flanke!« Die letzten Reserven werden aus Paris hinausgepumpt, immerhin 12.000 Mann, die der Armee General Manourys gegen Kluck zur Hilfe kommen sollen. Um sie schnellstmöglich nach Norden an die Front zu transportieren, lässt Gallieni sämtliche Taxis von Paris beschlagnahmen. Jedes dieser 600 Vehikel kann fünf Mann befördern. Eine geniale, glänzend organisierte Improvisation, die in die Kriegsgeschichte eingeht. Zum ersten Mal begeben sich motorisierte Regimenter an die Front. Die deutschen Beobachter können sich die endlose Reihe von sich bewegenden Lichtpunkten, die plötzlich auftauchen und dann wieder verschwinden, nicht erklären, als sie durch ihre Ferngläser schauen.
Am bangen Morgen des für den Gegenangriff vorgesehenen 10. September fühlen französische Kundschafter Richtung Marne vor. Sie reiben sich verwundert die Augen, als sie den Fluss erreichen und vergeblich nach deutschen Soldaten Ausschau halten. Sie sind nicht mehr da, sind ganz unerwartet einfach verschwunden, haben augenscheinlich kehrtgemacht, zurück über die Marne, so kurz vor dem greifbar nahen Ziel. Die Franzosen glauben zunächst an eine Falle, eine Kriegslist. Aber dann wird immer deutlicher, dass es sich um einen echten Rückzug handelt. Die Nachricht vom »Wunder an der Marne« eilt wie eine Erlösung durch das ganze Land. In dem Augenblick, da die Franzosen das Schlimmste befürchten, ist das Schlimmste für sie schon vorbei. Sie wissen nicht, dass auf deutscher Seite ein rangniederer und recht un-bekannter Oberstleutnant mit dem Namen Hentsch (1869–1918) in das Rad des Schicksals eingegriffen hat.
Generalstabschef Helmuth von Moltke hat im Gegensatz zu Joffre nie Vertrauen in seinen guten Stern gehabt. Seiner Frau, einer überzeugten Spiritistin, die aus der Geisterwelt erfahren haben will, Deutschland werde den Krieg verlieren, schreibt er am 29. August, von denselben dunklen Ahnungen und der angeborenen Ängstlichkeit befallen, im Hauptquartier begreife niemand den Ernst der Lage. Die Hurra-Stimmung, in der der Kaiser schwelge, sei ihm auf den Tod verhasst. Und zu seinem Staatssekretär Helfferich sagt er ernst und bedrückt am 4. September: »Wir wollen uns nichts vormachen, wir haben Erfolge gehabt, aber wir haben noch nicht gesiegt. Sieg heißt Vernichtung der Widerstandskraft des Feindes. Wenn sich Millionenheere gegenüberstehen, dann hat der Sieger Gefangene gemacht. Wo sind unsere Gefangenen?« Am 8. September sitzt Moltke, Hunderte Kilometer vom Geschehen an der Front entfernt, in seinem luxemburgischen Hauptquartier und hat nur ein lückenhaftes, verschwommenes Bild von der Lage. Telefonverbindungen zu den Armeekommandos kommen so gut wie nie zustande. Gelegentlich gelingt es, Funksprüche aufzufangen, die Truppenteile an der Front untereinande...

Inhaltsverzeichnis

  1. NAVIGATION
  2. HAUPTTITEL
  3. INHALT
  4. David gegen Goliath – ein Vorwort
  5. Das Ende einer Weltreichvision: Salamis, 28. September 480 v. Chr.
  6. Das Tor nach Asien: Granikos, Frühjahr 334 v. Chr.
  7. Tödliche Umfassung: Cannae, 2. August 216 v. Chr.
  8. Caesar versus Pompeius: Pharsalos, 9. August 48 v. Chr.
  9. Markstein einer Zeitenwende: Lechfeld, 10.–12. August 955
  10. Der Untergang der Panzerreiter: Crécy, 26. August 1346
  11. »Nun danket alle Gott!«: Leuthen, 5. Dezember 1757
  12. Desaster am Delaware: Trenton, New Jersey, 24.–26. Dezember 1776
  13. Der Weg ins Verderben: Russland, 24. Juni–23. Dezember 1812
  14. Die vergebene Chance: Marne, September 1914
  15. Entscheidung an der Maas: Belgien und Nordfrankreich, 10.–15. Mai 1940
  16. Katastrophe am Yalu: Korea, November 1950–Januar 1951
  17. David und der »Krieg der Sterne« – ein Nachwort
  18. Quellen- und Literaturverzeichnis
  19. ÜBER DEN AUTOR
  20. ÜBER DAS BUCH
  21. IMPRESSUM
  22. HINWEISE DES VERLAGS