vorbei ist die zeit des erinnerns
ich weine am kommenden tag
worüber ich heute schon weinen sollte.
[von Odonatos Zettel]
»sag mir nur noch, welche Farbe das Feuer hat …«
der Blinde sprach zu der Hand des Jungen, der seinen Körper am Arm stützte, beide angstvoll darauf bedacht, keinen Laut von sich zu geben, um nicht von den riesigen, aus dem Boden schießenden Feuerzungen verschlungen zu werden, die nach dem Himmel Luandas jagten
»könnte ich die Farbe des Feuers beschreiben, alter Mann, wäre ich Dichter, einer der Verse aufsagt«
mit hypnotisierter Stimme folgte der Muschelverkäufer dem Schwanken der Temperaturen und führte den Blinden über mehr oder weniger sichere Wege, wo Wasser aus den geborstenen Rohren strömte und einen Korridor bildete für jene, die noch den Mut hatten, sich durch den Dschungel der vom Wind aufgepeitschten Flammen zu bewegen
»ich bitte dich, sieh, deine Augen sind offen, ich kann es auf der Haut spüren, doch ich will mir die Farben des Feuers auch vorstellen«
der Blinde klang flehend, mit dieser Stimme, die mehr zu befehlen gewohnt war als zu liebkosen, und der Muschelverkäufer spürte, dass es respektlos wäre, diesen so deutlich geäußerten Wunsch nicht zu erfüllen, der mit zärtlicher Stimme nach einer einfachen Auskunft verlangte, nach Farbe,
was schwierig war und vielleicht unmöglich
der Junge holte aus seinem Inneren heiße Tränen hervor, die ihn zurückführen sollten bis in die Kindheit, denn dort, in dem von Gedanken noch unbehelligten Reich, konnte der Keim einer Antwort stecken, lebendig und dem getreu, was er sah
»lass mich nicht sterben, ohne dass ich die Farbe dieses heißen Lichts weiß«
die Flammen brüllten mit Macht, und selbst wer mit den Augen nichts sah, musste ein gelbes Gefühl der Erinnerung spüren, an Grillfisch mit Bohnen in Palmöl, heiße Mittagssonne am Strand, oder den Tag, an dem Batteriesäure ihm die Lust raubte, die Welt zu sehen
»alter Mann, ich warte auf eine Kinderstimme in mir, um dir eine Antwort zu geben«
von weitem und auch aus der Nähe gesehen war die Nacht wie ein Strang, dunkel und dicht, Haut eines nächtlichen Tiers, dem der Lehm vom Leib tropft, und am Himmel funkelten schüchtern die Sterne, die Starre einer besonderen Gischt, Muscheln im Sand knackten vor glühender Hitze, Körper von Menschen, die unfreiwillig verbrannten, die Stadt weinte im Schlaf, ohne, dass der Mond sie umfing
der Blinde zitterte ein trauriges Lächeln auf seine Lippen
»Kind, lass dir nicht zu lange Zeit, unser Leben ist fast schon gegrillt«
keine Wolken, die Sonne abwesend, Mütter, die nach ihren Kindern schrien, und die blinden Kinder sahen nicht das eitle Licht dieser Stadt, die schwitzte und sich unter dem blutrünstigen Mantel bereit machte, am eigenen Leib tiefdunkle Nacht zu empfangen, wie nur das Feuer sie lehren kann
Zungen und Flammen einer sich ausbreitenden Hölle, wie der trotzige Gang eines ermatteten Tiers auf der Flucht vor dem Jäger, rund und entschlossen mit dem stets sich erneuernden Willen, noch weiter zu gehen, noch mehr zu verbrennen, noch mehr Glut zu entfachen, und dann erschöpft nach dem Brennen von Körpern zu verlangen, die schon im Begriff sind, den Takt alles Menschlichen zu verlieren, geatmete Harmonie, Hände, die Haare und sorglose Schädel liebkosen in einer Stadt, in der jahrhundertelang Liebe im Schatten der Brutalität
das eine oder andere Herz zum Bewohnen gefunden hatte
»alter Mann, was war noch einmal die Frage?«
die Stadt blutüberströmt, von ihren Wurzeln hinauf bis zu den Spitzen der Häuser, war gezwungen, sich dem Tod zu ergeben, und die Pfeile, die sein Nahen verkündeten, waren nicht trocken, sondern flammende Speere, die ihr Körper brüllend empfing wie eine erahnte Bestimmung
und der Alte wiederholte seine verzweifelte Bitte
»sag mir nur, welche Farbe das Feuer hat …«
Odonato lauschte der Stimme des Feuers
sah es wachsen in Bäumen und Häusern, erinnerte sich an die Spiele aus seiner Kinderzeit, als Feuer mit niedlichen Linien aus Pulver gemacht wurde, das sie im Geschäft seines Stiefvaters stahlen, labyrinthische Zeichnungen, fein, auf dem Boden, ein Streichholz setzte das gefährliche Spielzeug in Brand, bis er eines Tages aus Neugier und Übermut probiert hatte, etwas davon auf seine linke Handfläche zu geben. ohne zu zögern hatte er die Haut und Schmerzen entzündet – die Narbe, über die er nun strich, während ein weit größeres Feuer die Stadt in einem gigantischen Tanzen von über den Himmel hallenden Gelbtönen verschlang
das Feuer brüllte
Odonato hatte schon nicht mehr die Kraft, auch nur das geringste Anzeichen von Staunen auf seine Lippen zu malen, nicht einmal ein schlichtes Lächeln, die Hitze stieg ihm in die Seele, seine Augen brannten von innen heraus
Weinen hatte schon nichts mehr mit Tränen zu tun, war eher die Metamorphose von inneren Regungen, die Seele besaß Wände – poröse Texturen, die Stimmen und Erinnerungen zu verändern vermochten
»Xilisbaba …«, er schaute auf seine Hände, aber sah sie nicht, »wo bist du, meine Geliebte?«
im ersten Stock des Gebäudes hatte Xilisbaba ihren Körper mit Wasser getränkt, um sich vor dem Feuer zu schützen, atmete schwer, hustete langsam, als wolle sie keinen Laut von sich geben
in der Hand hielt sie ein Stück Sisal, wie es auch um den linken Knöchel ihres Mannes gebunden war, Schweiß und Xilisbabas Bewegungen zerfaserten es zu durchnässten Flusen, die sich auf ihre Füße legten, die anderen schauten, geleitet von den Geräuschen und dem wogenden Bild ihrer Haare, in ihre Richtung draußen brüllten die Stimmen von Menschen
die Hände der Frauen suchten einander, eine zarte, fast heimliche Geste, mehr um die Ängste miteinander zu teilen als Wärme
MariaComForça, der große Kraft nachgesagt wurde, spürte, dass sie, um die Tränen der Gevatterin zu besänftigen, andere Stärken hervorholen musste
in Xilisbabas Gesicht flossen Tränen in regelmäßigen Strömen, MariaComForça versuchte, ihr Gesicht zu erkennen, erriet ihre Züge – Salzklüfte –, spürte ihre Traurigkeit frei in der Luft, wollte sie am Handgelenk fassen, doch das Pumpen von Xilisbabas Herz in Gedanken an ihren Mann oben allein auf dem Dach des Gebäudes war nicht mehr als ein lautloses Murmeln der Venen
»Maria … ich will meinen Mann noch ein letztes Mal sehen … um ihm die Dinge zu sagen, über die man ein Leben lang schweigt« MariaComForças Hand drückte beruhigend, und Xilisbaba ließ sich die Wand hinab gleiten, ihre Kleidung, ihre Schuhe, ihre Haare und ihre Seele
»ganz ruhig, Gevatterin, Feuer ist wie der Wind, er brüllt, doch mit ganz kleiner Stimme.«
das Haus hatte sieben Stockwerke und atmete wie ein lebendiges Wesen
man musste seine Geheimnisse kennen, die nützlichen und auch die unangenehmen Eigenschaften der Zugluft, die Funktion seiner uralten Rohre, der Stufen und der ins Nirgendwo führenden Türen. Einbrecher hatten bereits am eigenen Leib die Erfahrung gemacht, wozu dieses verzwickte Labyrinth wirklich imstande war, mit seinen untereinander verbundenen, selbstständig handelnden Durchgängen, und selbst die Bewohner achteten voller Respekt jede Ecke, jede Wand, jeden Treppenabsatz
im ersten Stock verschreckten geborstene Rohre und eine unglaubliche Dunkelheit jeden Verirrten oder Eindringling
Wasser im Überfluss und zur vielfältigen Verwendung versorgte von dort das gesamte Gebäude, wurde eimerweise gehandelt, um damit Wäsche und Autos zu waschen,
OmaKunjikise war eine der wenigen, die das überschwemmte Gebiet trockenen Fußes durchqueren konnten, ohne auszurutschen
»ein Fluss ist das«, sagte sie stets auf Umbundu, »nur Fische fehlen noch und Krokodile«
die alte Frau war wenige Tage nach dem Tod von Xilisbabas leiblicher Mutter nach Luanda gekommen und, weil sie den Hunger nicht mehr ertragen hatte, bei deren Trauerfeier aufgetaucht, hatte dort unter Tränen die Dringlichkeit ihres Bedürfnisses dargelegt, sich für ihr Eindringen entschuldigt und in tiefstem Umbundu, dabei Xilisbaba tief in die Augen schauend, gesagt
»wer auch immer gestorben ist, ich kann für den Tod beten. meine Stimme reicht bis auf die andere Seite …«
Xilisbaba, die das Leben bereits von seiner allzu wirklichen Seite zu lesen imstande war, hatte die alte Frau mit einem Glas Rotwein begrüßt, ihr ihren Platz überlassen und einen Teller mit Essen kommen lassen, dem besten Calulú der Trauerfeier, und ausdrücklich gesagt, man solle ihr bloß kein gestrecktes Funji servieren, die Dame brauche wie sie gutes Maismehl, um den Irrsinn und den Rhythmus Luandas ertragen zu können
»deine Mutter lacht«, hatte die Alte gesagt
»meine Mutter bist jetzt du«, hatte Xilisbaba geantwortet
während der Trauerzeit und erst recht nachdem alle Rechnungen für das zum Gedenken der alten Dame gereichte Essen und Trinken beglichen waren, war Odonato weit über die Grenzen des üblichen Elends hinaus abgemagert
Xilisbaba fiel auf, dass ihr Mann stiller geworden war, sich zwar mit den ...