Die Statistin
  1. 80 Seiten
  2. German
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Über dieses Buch

Sérgio Sant'Anna gilt als Begründer der urbanen Literatur des modernen Brasiliens. In »Die Statistin« beleuchtet er in bildhafter, nuancenreicher Sprache die brasilianische Gesellschaft. Und irgendwie ist alles eine Frage der Perspektive. Sein Blick ist schonungslos, unverstellt, als würde im Hintergrund eine Kamera mitlaufen und er beschriebe als unbeteiligter Beobachter nur objektiv das Gesehene. Schlaglichtartig richtet sich der Blick auf ein Gemälde (»Einsamer Mann auf einem Bahnhof«) oder ein Foto (»Die Statistin«), und der Erzähler entspinnt eine Geschichte zu der Momentaufnahme - die so, aber auch ganz anders gewesen sein könnte. Er zoomt sich quasi an die Bilder und seine Gestalten heran, verleiht den Protagonisten ein Eigenleben, einen Kontext, eine Vergangenheit. Dann wieder offenbaren sich trostlose, ernüchternde, brutale Bilder: die Wanze in »Dämmerstunde«, die nur auf das Verlöschen der Kerze wartet, ehe sie einem Kind den tödlichen Stich versetzt; Liebe und Sexualität fernab von jeglicher Romantik, stattdessen nur Grausamkeit, Macht und Perversion (»Sex ist gar nicht so natürlich«). Ohnmächtig steht der Ich-Erzähler in »Der Tag, an dem ich Bertrand nicht getötet habe« seinem Chef gegenüber, so als existiere er gar nicht. Sind wir etwa alle nur Statisten?Sant'Annas Geschichten bewegen sich zwischen Fatalismus, Verzweiflung und Hoffnung. Virtuos beherrscht er das Spiel der Möglichkeiten und Wirklichkeiten, des Erzählens und Reflektierens, von Nähe und Distanz. All dies mit viel Fantasie und spannend erzählt - und mit dem Leser als Komplizen.Von Sérgio Sant'Anna außerdem in der Edition diá: Amazone. RomanAus dem brasilianischen Portugiesisch von Frank HeibertISBN 978-3-86034-531-3Das kosmische Ei. Drei ErzählungenAus dem brasilianischen Portugiesisch von Frank HeibertISBN 978-3-86034-533-7Die Wahrheit über den Fall Antônio Martins. RomanAus dem brasilianischen Portugiesisch von Enno PetermannISBN 978-3-86034-534-4

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783860345412

Die Statistin

Es ist ein Bild in einem Band mit Fotografien des alten Rio, das die Ecke der Rua da Assembléia mit der Avenida Rio Branco im Stadtzentrum zeigt, Ende der Zwanzigerjahre – das genaue Datum ist nicht angegeben –, das alte Rio mit seinen Straßenbahnen und den kleinen Bussen, wenige Autos, die meisten mit hochgeklapptem Verdeck, auf den Gehwegen mittelgroße Bäume, die Laternen mit schönen Leuchten, die Gebäude noch bescheiden, Läden, Cafés, ein Kino.
Wenn man die damalige Zeit in Betracht zieht, ist die Menschenansammlung bereits erstaunlich, sie besteht in ihrer überwiegenden Mehrzahl aus Männern – die Gesellschaft der Machos. Einige stehen in lockeren Gruppen auf dem Bürgersteig und reden, andere schreiten geschäftig aus, einem heutigen Blick erscheinen sie allesamt als altmodisch mit ihren Schnurrbärten, ihren feierlichen dunklen Anzügen, ihren Hüten, manche mit Spazierstöcken, wie im Bestreben vereint, sich hier in den heißen Tropen den Europäern anzugleichen. Selbst der eine oder andere Straßenverkäufer, der auf dem Gehweg seine Waren feilbietet, zeigt sich im schlichten Jackett, und einer von ihnen hat sogar eine Fliege um.
Doch wir interessieren uns für keinen dieser Männer, sondern für eine Frau, die wie durch Zauberei, wie durch eine geheimnisvolle Kraft unseren Blick auf den Bürgersteig in der rechten oberen Ecke der fotografierten Szene gelenkt hat. Ja, diese Anziehung ist in der Tat magisch, nicht nur weil sie einen Abstand von mehr als siebzig Jahren überwindet, sondern weil die Gestalt unserer Statistin auf dem Bild ziemlich klein ist und es vielleicht eher einer Wunschvorstellung entspringt, dass wir sie für hübsch halten.
Sie trägt einen dunklen, knöchellangen Rock und eine weiße Bluse, die ihren Hals mit einem spitzenbesetzten Kragen bedeckt, deren Ärmel aber nur bis zu den Ellbogen reichen und ein winziges Stück ihrer Arme entblößen, nur ein winziges Stück, denn die Frau trägt lange weiße Handschuhe und an den Füßen Stiefel. Am rechten Arm hat sie eine Tasche, und mit der linken Hand hält sie ein Paket, vermutlich mit Einkäufen. Vielleicht können wir an dieser Stelle schon resümieren, dass ihre Kleidung in jeder Hinsicht der einer verheirateten jungen Frau entspricht – elegant und dezent zugleich, in einer Epoche, in der die Kleidung der Damenwelt sich erste Kühnheiten erlaubt.
Aber wir müssen noch den Hut erwähnen, den wir uns absichtlich bis zum Schluss aufgespart haben, weil er mit einem kleinen Schleier versehen ist, der einen Schatten auf das Gesicht der jungen Frau wirft, ohne es indes zu verbergen, was eher einen ordinären Appell an die fremde Neugier darstellen würde als ein weiteres Mittel zum Ausdruck ihrer diskreten Eleganz.
Für einen fantasiebegabten Beobachter wäre es nicht schwer, sie sich als die noch relativ junge, knapp dreißigjährige Ehefrau eines höheren Regierungsbeamten vorzustellen, die den Nachmittag, während die Kinder, vielleicht zwei, in der Schule sind, genutzt hat, um, wie sie es ihrem Mann angekündigt hatte, zum Einkaufen in die Stadt zu fahren, die Abholung des Nachwuchses dem Dienstmädchen überlassend.
Unsere Fantasie reicht jedoch weiter und malt sich aus, dass die Frau den Hut, den sie trägt, gerade in einem Modegeschäft in der Rua da Assembléia erworben hat, was hervorragend zu unserer zuvor aufgestellten Hypothese passen würde, dass sie ins Zentrum gefahren ist, um Einkäufe zu machen, nützlichere vielleicht als diesen (in dem Paket in ihrer Hand befinden sich möglicherweise Kleidungsstücke für ihre Kinder), und dass sie einem so hübschen Hut nicht widerstehen konnte, den sie ihrem Mann am Abend stolz zeigen und ihn fragen wird, ob sie ihn nicht noch einmal für ihn aufsetzen soll, was er natürlich bejaht, wenn auch etwas zerstreut: Er hat viel gearbeitet, möchte ein bisschen Radio hören und früh zu Bett gehen.
Aber diese unsere Fantasie schwingt sich noch höher hinauf und glaubt zu bemerken, dass die junge Frau, obwohl unbeweglich auf einer Fotografie, aussieht, als blickte sie in die eine und die andere Richtung, wie um zu prüfen, ob sie in der Nähe ein bekanntes Gesicht entdeckt, jemanden, den sie höflich grüßen müsste – ihr Mann hat viele einflussreiche Freunde –, wie es sich für eine verheiratete Frau in der Stadt gehört, es sei denn, sie hätte zufällig eine Freundin getroffen und wäre mit ihr ins Gespräch vertieft. Da sie niemanden erkennt, das vermuten wir jedenfalls, blickt die Frau sich um, weil sie eventuell unschlüssig ist, ob sie die Straßenbahn zurück nach Hause, nach Botafogo, nehmen oder noch ein wenig durch die Stadt schlendern soll, um vielleicht weitere Geschäfte aufzusuchen oder am Tresen einer Konditorei ein Salzgebäck und eine Limonade zu bestellen, wo sie sich auch gern im Gastraum an einen Tisch setzen würde, wenn sie nicht allein und so etwas nicht unschicklich wäre.
Schließlich entscheidet sie sich, oder wir für sie, und geht in Richtung Rua Sete de Setembro, wobei sie gelegentlich stehen bleibt und Schaufenster betrachtet. Sie betritt ein Schuhgeschäft und probiert ein Paar Schuhe an, will es aber nicht kaufen, zumindest nicht heute.
Kurioserweise ist sie bei ihrem Bummel – wir stellen uns das weiter vor – einmal ums Karree gelaufen und an den Punkt zurückgekehrt, wo sie fotografiert wurde, der, nebenbei bemerkt, der einzige Punkt ist, von dem wir sicher sein können, dass sie dort war, und ist erneut stehen geblieben, als wartete sie auf jemanden, und daher kommt vielleicht dieser Ausdruck eines Menschen, der sich nach allen Seiten umsieht.
Doch – und jetzt geht alles auf unsere Rechnung – als begänne der Film plötzlich zu laufen, setzt die junge Frau sich fast mit einem Sprung in Bewegung, um die breite Allee zu überqueren, entrinnt nur knapp einem Ford und betritt auf der anderen Seite ein Gebäude in der Rua da Assembléia, als wäre das von Anfang an ihr Ziel gewesen. Eine Wanduhr in der Eingangshalle zeigt genau drei Uhr, und angesichts einer so genauen Uhrzeit ist zu vermuten, dass sie einen Termin bei einem Zahnarzt oder irgendeinem anderen Spezialisten hat, was die Entschlossenheit, mit der sie den Führer eines der Fahrstühle mit Ziehharmonikatür bittet, sie in die fünfte und letzte Etage zu bringen, nachdrücklich zu bestätigen scheint.
Als wir mit der jungen Frau im Flur des fünften Stockwerks aussteigen, der etwas dunkel ist, wie es die Flure dieser alten Gebäude waren, eilen wir ihr fast voraus, um auf eine Tür zuzusteuern, auf deren Schild Dr. Clóvis Marques, Kieferchirurg steht, aber da bemerken wir, dass die Frau zögert – und sogar ihren Schleier richtet, als ein Paar vorbeikommt, obwohl sie es gar nicht kennt. Sie wirkt ein wenig hilflos und mustert die Türen, bis sie auf eine von ihnen mit dem Hinweis Dr. Alfredo Pires Júnior, Rechtsanwalt zugeht und, statt zu klingeln, schüchtern dreimal mit dem Fingerknöchel anklopft.
Sofort öffnet ein noch junger Mann die Tür, um unsere Heldin einzulassen. Seine Kleider ähneln in nichts denen eines Anwalts, sondern eher denen eines Dandys: eine schmale Krawatte und ein ausgesprochen helles, gestreiftes Jackett. Zuerst schließt er die Tür, dann nimmt er die rechte Hand der Frau, küsst sie auf den Handschuh und sagt:
»Ich fühle mich sehr geschmeichelt, dass Sie gekommen sind, Dona Eduarda.«
Der Ton ihrer Antwort lässt erkennen, dass sie eine gewisse Förmlichkeit bewahren möchte, und sie errötet sogar:
»Ich gestehe, dass ich einige Zweifel und Vorbehalte hatte, Senhor Lucas. Aber ich konnte dem Wunsch, die Reproduktionen zu sehen, nicht widerstehen.«
»Ah, ich zeige sie Ihnen gleich. Bitte, setzen Sie sich«, und er deutet auf einen Stuhl, der vor einem Tisch steht.
Gehen wir ein paar Tage in der Zeit zurück und stellen uns vor, dass Lucas und Eduarda sich bei einem Wohltätigkeitskonzert im Haus der Vilhenas – er Bankdirektor – kennengelernt haben, welches an einem Donnerstagnachmittag und deshalb ohne nennenswerte Beteiligung von Ehemännern stattfand. Es geschah, unmittelbar nachdem Meister Serrone, Klavierlehrer mehrerer der anwesenden jungen Damen, sei...

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  4. Der Tag, an dem ich Bertrand nicht getötet habe
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