Das geordnete Leben
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Das geordnete Leben

Erzählungen

  1. 180 Seiten
  2. German
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Das geordnete Leben

Erzählungen

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Der Erzähler Morábito versteht es, den Leser in eine phantastische Welt inmitten des Alltäglichen zu versetzen. Seine Prosa schafft prägnante Bilder und Situationen- Sprache als »Zauberwerkzeug«, mit dem die Dinge ihrem gewohnten Raum entzogen und in neuem Licht präsentiert werden. Meister der präzisen Sprache und Beobachtung, lotet er in Das geordnete Leben den Mahlstrom der steten Verunsicherungen und kleinen Katastrophen im Alltag aus. Ob Verwandtenbesuch, Wohnungsbesichtigung oder Geburtstagsfest: allenthalben lauert die Anarchie, unmerklich entfalten sich Kräfte, die die Figuren den Boden unter den Füßen verlieren lassen. Doch unter dem Riss an der Oberfläche tut sich nicht nur der Abgrund auf, sondern auch eine Welt der großen Sehnsüchte im kleinen Leben.von Fabio Morábito außerdem in der Edition diá: Die langsame Wut. ProsaAus dem mexikanischen Spanisch von Thomas Brovot und Susanne LangeISBN 9783860345450

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783860345467

Der Mond und die Ratten

»Warum hast du nicht den Aufzug genommen?«, fragte Señora Consuelo, nachdem sie mich umarmt hatte. Meine Mutter hatte ihr die Schlüssel und Unterlagen der neuen Wohnung anvertraut.
»Ich mag keine Aufzüge«, erklärte ich.
Wir gingen in die Küche, wo sie die Schlüssel von einem Holzbrettchen nahm, das sich an der Wand neben dem Herd befand.
»Da haben sie die ganze Zeit gehangen und auf dich gewartet«, sagte sie.
Ich nahm den Ring mit den drei Schlüsseln, jeder mit einem winzigen Schildchen mit meinem Namen versehen, und dachte, wie ordentlich Señora Consuelo war. Sie verließ die Küche und kam mit einem großen gelben Umschlag zurück, in dem sich die Unterlagen der Wohnung befanden und ein Sparbuch von meiner Mutter.
»Dein Freund war vor einem Monat hier und hat erzählt, du würdest bald entlassen«, sagte sie und setzte einen Kaffee auf. »Sein Name ist mir entfallen.«
»Braulio. Und wohin er ziehen wollte, hat er Ihnen nicht gesagt?«, fragte ich.
»Nein, er sagte nur, dass seine Familie aus Sonora stammt.« Sie zog etwas aus ihrer Schürzentasche und gab es mir: eine Visitenkarte. »Die hat mir deine Mutter für dich gegeben. Bevor du einziehst, wirst du jemanden brauchen, der die Wohnung gründlich putzt. In ihren Briefen hat sie dir bestimmt von Mercedes erzählt.«
Auf dem Kärtchen stand:
»Mercedes Olvera. Injektionen und Reinemachen«. Dann eine Adresse, kein Telefon.
»Ja«, erwiderte ich automatisch, ohne mir sicher zu sein. Während der vier Jahre, die ich im Gefängnis gewesen war, hatte ich nur Mutters erste beiden Briefe gelesen. Ich steckte die Karte in die Tasche und fragte, ob ihr meine Mutter auch die Fotos gegeben hatte, und sie verließ die Küche wieder, ging in ihr Schlafzimmer und kam mit einer Pappschachtel zurück, die sie auf dem Tisch öffnete. Darin lagen alte Fotos von Mutter und einige von mir als Kind und als Jugendlicher. Aber das, worauf es mir ankam, das von mir und Socorro, war nicht darunter.
»Was suchst du?«
»Das einzige Foto von Socorro«, sagte ich. »Es zeigt Socorro und mich. Mutter hat es ganz bestimmt behalten. Sind das alle Fotos, die Sie haben?«
Señora Consuelo war ans Balkonfenster getreten und schaute hinaus.
»Ja«, sagte sie.
»Erinnern Sie sich nicht an das Bild?«
»Doch, aber es war nicht in der Schachtel. Womöglich ist es verlorengegangen, als die Nonnen die Sachen deiner Mutter zusammengepackt haben.«
»Ausgerechnet das einzige Foto von Socorro?« Ich schaute sie erneut an. »Ob sie es verbrannt hat?«
»Wer?«
»Meine Mutter.«
»Weshalb sollte sie es verbrennen?«
»Wegen Socorro.«
»Ach was! Sie hat es sich oft angeschaut, auch wenn sie dabei Socorro sehen musste, aber ich glaube, sie nahm sie gar nicht mehr wahr. Sie hatte sie bereits aus dem Gedächtnis gestrichen. Sie sah nur die eine Hälfte des Fotos.«
Ich stand auf und fragte:
»Wo ist das Heim?«
Es war ein altes, schlichtes Gebäude, einstöckig und mit einem großen Holztor. Eine junge Nonne öffnete und bat mich, einzutreten und eine Minute zu warten. Eine ältere Nonne fragte, ob ich der Fahrer für den Ausflug sei. Ich sagte, ich sei der Sohn von Señora Augusta Beltrán, und aus ihrem Blick schloss ich, dass sie meine Geschichte kannte. Sie wollte meinen Ausweis sehen, und ich zeigte ihr das einzige Dokument, das ich besaß, meinen Lkw-Führerschein Klasse C, der vor vier Jahren abgelaufen war. Sie bat mich herein und führte mich in ein kleines Büro, wo sie mir einen Stuhl anbot. Dann ging sie hinaus, und kurz danach kam eine Nonne im gleichen Alter herein, jedoch größer, die mir den Führerschein zurückgab, sich hinter den Schreibtisch setzte und fragte, was ich wünschte. Ich erzählte ihr von dem Foto, sie schaute in der Akte nach, die sie in der Hand hielt, und sagte:
»Es befindet sich definitiv keinerlei Eigentum Ihrer Mutter mehr im Heim. Señora Consuelo hat alle ihre Sachen mitgenommen.«
Ich wandte ein, das Foto sei vielleicht verlorengegangen, als man die Sachen aus Mutters Zimmer geholt hatte.
»Sollen wir einmal nachschauen?«, fragte sie.
Wir verließen das Zimmer durch eine andere Tür und gingen über einen langen Gang, dessen Fenster auf einen kleinen, verwilderten Garten hinausgingen.
»Wir dachten, Sie seien der neue Fahrer für den Ausflug«, sagte die Nonne und erklärte mir, dass sie jedes Jahr eine einwöchige Fahrt nach Barra de Navidad unternahmen. Wir kamen ans Ende des Gangs, sie öffnete eine Tür, und wir traten in ein geräumiges Zimmer, wo in einem der Betten eine alte Frau lag und uns mühsam den Kopf zudrehte.
»Das ist Conchita«, sagte die Nonne und rief ihr zu: »Raten Sie mal, wer der Herr hier ist.«
Die andere musterte mich aus ihrer unbequemen Lage.
»Der Sohn von der Tita«, antwortete sie schwach. »Sehr erfreut.«
»Sehr erfreut«, sagte ich.
»Ich kenne Sie von den Fotos Ihrer Mutter«, sagte die Alte. »Sie haben sich nicht verändert.«
»Was für Fotos?«, fragte ich.
»Auf einem waren Sie mit einer jungen Dame zu sehen.«
»Genau das suche ich, es ist nicht bei den anderen Fotos meiner Mutter. Wissen Sie, wo es geblieben ist?«
»Nein, ich weiß nicht.«
Die Nonne deutete auf das andere Bett:
»Ihre selige Mutter hat dort geschlafen. Sollen wir unter der Matratze nachsehen?«
»Nein, das ist nicht nötig.« Ich bückte mich, um unter das Bett zu schauen, spähte umher und fragte, ob ich die Nachttischschublade öffnen dürfe. Auf einmal schien es mir lächerlich, dieses Foto zu suchen.
Die Nonne öffnete selbst:
»Sehen Sie, hier ist nichts.«
»Lassen Sie gut sein. Wirklich ein sehr helles Zimmer«, sagte ich, nur um etwas zu sagen.
Señora Conchita fing an, mir von Mutter und Consuelo zu erzählen. Das Sprechen bereitete ihr Mühe, sie fasste sich mit der Hand an die Brust, und schließlich sagte die Nonne, sie solle sich nicht überanstrengen, und zu mir gewandt erklärte sie, Señora Conchita habe eine schlechte Nacht gehabt und müsse sich ausruhen.
»Kommen Sie ein andermal vorbei«, sagte die Alte. »Heute kann ich fast nicht reden.«
Ich versprach ihr wiederzukommen, sagte auf Wiedersehen, nickte ihr zu, die Nonne machte die Tür auf, und wir traten hinaus.
Auf dem Weg zurück zum Büro erzählte sie mir, dass sie den Ausflug wegen Señora Conchita vorverlegen wollten, ihre Tage seien gezählt. Ich fragte nicht, woran sie litt, und schaute durch die Fenster auf den kleinen Garten, wo ein weißhaariger alter Mann die Erde bei ein paar Rosenstöcken umgrub. Vor der Bürotür wusste ich nicht, ob ich ihr die Hand geben oder mich mit einer kleinen Verbeugung zurückziehen sollte, doch sie streckte mir selbst die Hand entgegen und sagte:
»Ich bin Mutter Silvia, die Oberin.«
Ich drückte ihr die Hand:
»Gibt es hier keinen Baum?«
»Nein. Das bisschen Garten, das wir haben, sehen Sie durch die Fenster im Gang. Hat Ihre Mutter Ihnen geschrieben, wir hätten Bäume?«
»Nein, aber immer habe ich mir diesen Ort voller Bäume vorgestellt.«
Es war schon dunkel, als ich zu der Wohnung kam. Erfreut stellte ich fest, dass es einen Aufzug gab. Ich würde ihn zwar nie benutzen, doch steigert er den Wert eines Gebäudes, verleiht ihm etwas Solides. Ich ging die vier Treppen hinauf, öffnete die Wohnungstür und schaute hinein, ohne einzutreten. Durch die Fenster fiel das Licht der Straßenlaternen und beleuchtete das kleine Wohnzimmer und einen Teil des Flurs. Wo der Flur anfing, befand sich die Nische mit dem Gasboiler, deren Türchen offen stand. Durch die Öffnung für das Abzugsrohr schien weißes Licht herein. Mir wurde klar, dass ich den Mond sah, der sich durch den Schlitz in mein Zimmer geschlichen hatte. Der Schein erlosch nach wenigen Minuten, aber dass der Mond mich in meinem neuen Heim willkommen hieß, schien mir ein gutes Zeichen.
In den nächsten beiden Wochen stieg ich noch vier-, fünfmal hinauf, immer im Dunkeln. Doch der Mond und ich, wir sahen uns durch die Öffnung nicht wieder. Ich stieß die Tür auf, blieb stehen, schaute mir das Innere im schwachen Laternenschein an und ging nach zwei Minuten wieder, froh, eine Wohnung zu besitzen, in die ich noch keinen Fuß gesetzt hatte.
Tagsüber las ich die Zeitung und sah die Stellenangebote durch. Ich strich einige an, ging jedoch nie zum Vorstellen, denn ich hatte noch ein wenig Erspartes. Mir war immer bewusst, wie weit ich von der Wohnung entfernt war, und ab und zu fuhr ich mit der Hand an die Hosentasche, um mich zu vergewissern, dass ich die Schlüssel nicht verloren hatte.
Zufällig geriet ich in die Straße, in der Mercedes lebte. In der Tasche hatte ich noch die Visitenkarte, die mir Señora Consuelo gegeben hatte, und wenn ich Geld herausholte, um etwas zu bezahlen, kam zusammen mit den Geldscheinen manchmal auch die zerknitterte Karte hervor, so dass ich mir die aufgedruckte Adresse inzwischen gemerkt hatte. Es war eine ruhige Straße, und die Hausnummer gehörte zu einem Grundstück zwischen zwei niedrigen Gebäuden mit abgeblättertem Putz. Als ich an die Metalltür klopfte, machte mir eine junge Frau auf, die ich nach Mercedes Olvera fragte.
»Und Ihr Name?«
»Ich bin der Sohn von Señora Augusta«, erwiderte ich.
Sie sagte »einen Augenblick«, kam dann zurück, ließ mich eintreten und führte mich durch einen schmalen gemauerten Gang zu einem gemeinsamen Hof. Sie klopfte an eine der Türen, stieß sie auf, und ich trat in ein geräumiges Zimmer, wo eine Frau um die vierzig gerade einen Kinderschlafanzug vom Boden aufhob. Ich erriet, dass sie in den zwei Minuten, die ihr zwischen der Ankündigung meines Kommens und meinem Eintreffen in der Wohnung geblieben waren, versucht hatte, Ordnung zu schaffen, damit es anständig aussah. Sie lächelte, gab mir die Hand und bot mir den einzigen Sessel an. Dann brachte sie den Schlafanzug ins Nachbarzimmer, kam zurück, setzte sich mir gegenüber und zog den Rock glatt, der um ihre Schenkel spannte. »Kinder werfen immer alles auf den Boden«, sagte ich. Sie hatte den Mund nicht aufgemacht, und durch die Art, wie sie mir zustimmte, ohne einen Ton von sich zu geben, begriff ich, dass sie nicht sprach. Sie merkte es, denn ihr Lächeln erstarb. Offenbar war sie so gut mit Mutter bekannt gewesen, dass sie es für selbstverständlich hielt, in ihren Briefen erwähnt zu werden, und so hatte sie angenommen, ich wüsste, dass sie stumm war. Als ich ihr nun das Gegenteil signalisierte, musste sie denken, dass ich Mutters Briefe nicht gelesen oder sie ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Über dieses Buch
  2. Das Arrangement
  3. Der Mietvertrag
  4. Der umgestürzte Baum
  5. Die Schlüssel
  6. Stadt, Land, Fluss
  7. Der Mond und die Ratten
  8. Michi Strausfeld: Die innere Unordnung
  9. Bibliographie
  10. Impressum