Erinnerungen und Berichte
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Erinnerungen und Berichte

  1. 200 Seiten
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Erinnerungen und Berichte

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Über dieses Buch

Einen der »letzten Überlebenden einer endgültig versunkenen Epoche, ein Fossil« hat, kurz vor seinem Tod, Manuel Gasser sich selbst einmal genannt. Er hat dabei angespielt auf ein literarisches Genre, das zusammen mit seiner Zeit dahingegangen ist: das Feuilleton, jenes scheinbar leichthin geschriebene Stückchen Prosa, dem keinerlei Mühe des Verfertigens mehr anzumerken ist. Manuel Gasser hat es wie kaum ein anderer gepflegt. Es entsprach im Tiefsten seinem Wesen: seiner Höflichkeit, seiner leise distanzierten Konzilianz. Literarische Feuilletons sind denn auch nicht nur die in diesem Buch versammelten »Berichte«, sondern ebenso die einzelnen Kapitel seiner Lebenserinnerungen, die, obwohl als ganzes unvollendet geblieben, jedes für sich genommen, kleine Meisterwerke in Prosa darstellen.Der Sammelband wird herausgegeben und sachkundig eingeleitet von Klara Obermüller, die längere Zeit mit Manuel Gasser zusammengearbeitet hat und ihn so aus nächster Nähe kennenlernen konnte.»Manuel Gassers Liebe zur Kunst ist eine Kunst der Liebe: Er betrachtet sie nicht wie ein Kritiker, sondern wie ein Liebhaber.« (Friedrich Dürrenmatt)

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783860345436
E R I N N E R U N G E N

Lou Marquès

Ich verließ die Schweiz am 8. November 1929 und fuhr nach Arles-en-Provence. In Lyon, Orange und Avignon unterbrach ich die Reise jeweils um einen Tag. Ich war etwas über zwanzig Jahre alt.
Die Ortswahl Arles war durch die Van-Gogh-Ausstellung der Sammlung Kröller-Müller bestimmt worden, die ich im Herbst 1928 viele Male in der Berner Kunsthalle gesehen hatte. Sinn und Zweck des provenzalischen Aufenthalts hatte ich niemandem plausibel machen können, weil er es mir selber nicht war.
Ich befand mich also in Arles und musste mit meiner Zeit etwas anfangen. Da ich kein Geld hatte, um Bücher zu kaufen, ging ich in die Stadtbibliothek, die im ehemaligen erzbischöflichen Palais untergebracht war. Es gab dort einen großen Lesesaal, dessen Fenster auf die Place de la République, den Obelisk und das Musée lapidaire hinausgingen. Ich war dort meist der einzige Besucher.
Am oberen Ende des Saals saß hinter einem Pültchen, das demjenigen eines Schulmeisters glich, der Bibliothekar. Er war ein feiner alter Herr mit einem Spitzbart, der ihm eine entfernte Ähnlichkeit mit Mallarmé gab. Da die sämtlichen Bestände der Bibliothek in den Regalen aufgereiht waren und jeder sich selbst bedienen konnte, hatte er nichts zu tun. Er las ununterbrochen. Auch stand er mir für Auskünfte, die Bibliothek oder die Sehenswürdigkeiten der Stadt betreffend, stets und mit reizender altväterischer Zuvorkommenheit zur Verfügung.
Nach einigen Tagen vernahm ich, dass M. Jullian – dies sein Name – seine Mannesjahre als Stationsvorsteher von Saintes-Maries-de-la-Mer verbracht und erst nach seiner Pensionierung den Posten des Arleser Bibliothekars angenommen hatte. Und da es in jener Gegend seit Mistrals Tagen fast Ehrensache war, felibre, das heißt Dichter in der provenzalischen Sprache zu sein, dichtete auch M. Jullian.
Eines Tages nun besuchte ich die Alyscamps (Champs-Elysées), die römische Gräberstraße. An ihrem Ende steht die Kirche St. Honoré. Der Heilige soll sie gegründet und dabei eine Kapelle der noch lebenden Jungfrau Maria geweiht haben. So wenigstens wollte es der Kustode wissen.
Im Vorraum der Kirche gab es einen Postkartenständer, an dem außer Ansichten der Sarkophag-Allee und des Gotteshauses auch Bilder feilgeboten wurden, die Herden schwarzer Stiere und weißer Pferde in einer flachen, steppenartigen Landschaft zeigten. Sie faszinierten mich, ich erwarb einige davon und trug sie anderntags zu M. Jullian, um sie mir erklären zu lassen.
M. Jullian erzählte mir alles, was er über die Aufzucht der Kampfstiere und Hirtenpferde der Camargue wusste. Wenn ich sie in Augenschein nehmen wolle, so brauche ich nur nach Saintes-Maries zu fahren und den ersten Züchter (manadier) des Landes, den Marquis Folco de Baroncelli-Javon, aufzusuchen. Das tat ich dann auch schon anderntags.
Man muss sich vergegenwärtigen, dass damals erst vierzig Jahre seit dem Aufenthalt van Goghs in Saintes-Maries vergangen waren. Das Städtchen stellte sich noch genau so dar, wie er es gezeichnet hatte, und die Fischerboote lagen so bunt wie auf seinem Bild am Strand. Ich nahm den Weg zum Mas de l’Amarée, dem Hof des Marquis, unter die Füße. Es war damals das einzige Haus in der Ebene, die sich vom Städtchen bis zur Mündung der Kleinen Rhone breitet. Es war ein weißes, schlichtes Gebäude, das als einzigen Schmuck eine Sonnenuhr mit der Katharer-Devise »Dios lo vult« trug. Daneben gab es zwei weißgetünchte, schilfgedeckte Hütten, in denen die Stierhirten hausten. Ich wurde von einer altjüngferlichen Dame empfangen, die sich als Tochter des Marquis zu erkennen gab. Ihr Vater sei in X, einer kleinen Stadt des Languedoc, wo morgen ein Stierkampf stattfinde. Es sei der letzte des Jahres, ich täte gut daran, ihn mir nicht entgehen zu lassen.
Ich fuhr nach Arles zurück und begab mich am andern Morgen, einem Sonntag, zeitig nach X. Das Wetter war vollkommen schön, mild, blau und sonnig, das Städtchen in lärmender Feststimmung. Das Stiergefecht sollte auf einem mit Barrikaden abgeriegelten Platz stattfinden. Ich fragte mich nach dem Vorsteher der Veranstaltung durch; dieser stellte mich dem Marquis vor. Der Marquis begrüßte mich mit ausgesuchter Höflichkeit, machte einen Platz neben sich frei, und das Spiel begann.
Wir lehnten uns über die Barrikade, die die Stehplätze der Zuschauer von der Arena trennte, und der Marquis erklärte mir die Regeln des Spiels. Wir waren so ins Gespräch vertieft, dass wir den Stier nicht bemerkten, der auf uns zustürzte und mit einem Horn über die Brüstung fegte. Dabei verletzte er mich an der linken Hand. Die Wunde blutete, war aber nur oberflächlich. Dieser Zwischenfall trug mir die Sympathie der Kampfleitung ein, und ich wurde beim nachfolgenden Bankett an die rechte Seite des Marquis gesetzt.
Der Marquis war ein kleiner kurzgliedriger Mann von sechzig Jahren. Er hatte den Teint der Blonden: Der ständige Aufenthalt im Freien bräunte seine Haut nicht, rötete sie nur. Seine Nase war gebogen, aber wenig vorspringend, die Gesichtszüge waren fleischig, die Hände auffallend klein und zart. Obgleich er sein Leben im Sattel verbrachte, wirkte er nicht sportlich, eher wie ein Stadtmensch, der sich in einer ländlichen Umgebung nicht ohne Mühe anpasst. Er trug die Tracht der Stierhirten oder Gardians: ein gestreiftes Hemd in den Farben seines Hauses, weiß und rot, eine an den Knien enge und am Saum weite Hose aus zähem, hellem Stoff und eine rotgefütterte schwarze Samtjacke. Seine Stimme war hoch, leise und sehr angenehm. Das Auffallendste an ihm waren seine Manieren, die an diejenigen des Hofes von Louis XV. erinnerten und doch vollkommen natürlich wirkten.
Nach Arles zurückgekehrt, setzte ich alles daran, mehr über seine Person zu erfahren. Hier, was mir zu erfahren gelungen und im Gedächtnis geblieben ist:
Die Familie Baroncelli war eine der ältesten und einflussreichsten von Florenz. Ein Baroncelli gehörte zur Pazzi-Verschwörung, die Giuliano de Medici zu Tode brachte. Er wurde gehängt und in diesem Zustand von Leonardo gezeichnet. Seine Sippe suchte Zuflucht im päpstlichen Avignon. Folco war im Palais du Roure, unweit des Papstpalastes, aufgewachsen; das steinerne Eichenlaub im Mauerwerk des Portals erinnert noch heute an seine Erbauer und Namensgeber, die della Rovere.
Der junge Baroncelli war Freund und Schüler Mistrals; er diente der provenzalischen Wiedergeburt zuerst mit der Feder: Er war Herausgeber der Zeitschrift AIOLI und schrieb Verse in der Langue d’oc, die unter dem Titel »Blad de Lune/Blé de Lune« erschienen. Dann fasste er den Plan, die im Absterben begriffene Folklore der Camargue zu retten, und gründete die »Nazioun gardians«, eine Art Schutztruppe für die Reinerhaltung der Kampfstierrasse und der mit provenzalischem Stiergefecht verknüpften Bräuche. Er packte das Problem an der Wurzel, verließ Avignon und wurde Züchter in der Camargue.
Wie ich aus alten Fotos ersehen konnte, hatte die »Nazioun gardians« in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg einen fast mondänen Einschlag; der Marquis und seine Freunde trugen den Stierhüterhabit mit betonter Eleganz, und ihre Damen wohnten den Stiergefechten in der reizenden Tracht der Arleserinnen bei.
Damals spielte eine schöne Frau zweifelhaften Rufes eine große Rolle im Leben des Marquis. Sie hieß (oder nannte sich) Jeanne de Flandresy und wurde von einem steinreichen Industriellen ausgehalten. Baroncelli widmete ihr glühende Gedichte im Tone d’Annunzios. Sie scheint seine verfahrene Situation dadurch gerettet zu haben, dass sie sein Avigneser Palais kaufte und in ein Museum umwandelte. Der Marquise und ihren drei Töchterchen – sie war ihrem Mann nicht in die Camargue gefolgt – wurde immerhin eine Wohnung im Palast der Vorfahren ausgespart.
Die Affäre Flandresy scheint der Skandal der Epoche gewesen zu sein; noch zu meiner Zeit sprach man davon mit einer Mischung aus Abscheu und Bewunderung. Außerdem munkelte man von abseitigen Amouren des Marquis, die sogar gerichtsnotorisch geworden sein sollten …
Alles, was mir so zu Ohren kam, erhöhte nur die Faszination, die die Figur des Stierzüchters auf mein zwanzigjähriges Gemüt ausübte, und meine Erregung war gewaltig, als ich zwei, drei Wochen nach jener ersten Begegnung ein Telegramm folgenden Wortlauts erhielt: »Si sentez affronter 40 km à cheval vous offre conduire taureaux stop venez coucher demain au Cailar Baroncelli.« Es bedeutete, wie mir mein Mentor Jullian erklärte, dass ich die Ehre hatte, mit dem Marquis und seinen Freunden die Stierherde aus ihrem Sommerquartier Le Cailar auf die Winterweiden bei Saintes-Maries zu treiben. Ich fuhr also nach Le Cailar, kam dort bei Einbruch der Nacht an, fand eine festlich gestimmte Gesellschaft von jungen Leuten, unter der auch einige Damen waren, und musste, nach meinen Reiterfahrungen befragt, gestehen, dass ich noch nie im Sattel gesessen hätte. Der Marquis verließ die Tafelrunde und gab mir in der Dezembernacht eine Reitstunde.
Kennt man das Camargue-Pferd und sein Reitzeug? Der Tradition nach ist es ein Wildpferd, das mit Araberblut gekreuzt wurde. Es kommt dunkel gefärbt, oft schwarz zur Welt und wird nach einigen Jahren milchweiß, wird nie beschlagen und ist Passgänger. Der Sattel hat eine Rückenlehne und korbähnliche Steigbügel an so langen Riemen, dass man sie nur gerade mit den Sohlen berührt. Das hat zur Folge, dass man nur galoppieren oder im Schritt reiten, aber nicht englisch traben kann. Die Schwierigkeit für den Neuling besteht nun darin, dass geübte Reiter ihrem Tier einen weit ausgreifenden »verlängernden Schritt« beibringen, eine vergleichsweise schnelle, sehr angenehme Gangart. Wer sie nicht beherrscht und doch mit dem Partner Schritt halten will, sieht sich zum deutschen Trab veranlasst. Ich sollte das, zum Leidwesen meines Sitzfleisches, anderntags erfahren.
Man brach, rund vierzig Reiter, lange vor dem Morgengrauen auf, stieß vor den letzten Häusern des Dorfes auf die Herde und trieb diese in breiter Phalanx vor sich her. Die paar professionellen Stierhüter und auch einige der jüngeren Gäste bedienten sich dazu langer Lanzen, die in einen eisernen, halbmondförmigen Dreizack mündeten. Nach einiger Zeit ging das karge Weideland in die mit Salikornien besetzte Steppe über, die Sonne ging auf, man fröstelte nicht mehr in Gruppen und zu zweit hinter dem schwärzlichen Gewoge der Herde her. Um den lästigen Hoppeltrab zu vermeiden, blieb ich von Zeit zu Zeit hinter der Gesellschaft zurück, um sie dann im Galopp wieder einzuholen.
Die einzige Unterbrechung des sieben oder acht Stunden dauernden Steppenritts machte die Überquerung des minderen Rhonearmes auf einer Schiffbrücke. Die Stiere scheuten auf den schwankenden Planken, machten kehrt, brachen ins Schilf des Ufers ein. Es kostete einige Zeit und Mühe, bis die ganze Herde das jenseitige Ufer gewonnen hatte. Man langte kurz nach Mittag auf den Winterweiden an. Den Beschluss des Reitvergnügens machte ein Bankett im Mas de l’Amarée, das bis zur Dämmerung währte. Nicht weil es besonders üppig gewesen wäre, sondern weil es mit unendlichen Gesprächen hingezogen wurde. Da man sich ausschließlich des Provenzalischen bediente, verstand ich davon kein Wort.
Ich hatte den Marquis bei einem Fest kennengelernt und sollte noch manches Fest erleben, auf welchem der Mann im Hemd mit den Baroncelli-Farben Mittelpunkt der Feier war. Denn er lebte im nüchternen Sinn des Wortes von den Festen, indem er sie mit ihrem spektakulärsten Ingredienz, den Stieren, belieferte und zu ihrem Glanz das Höchste beitrug: seine Reitertruppe. Zu dieser gehörten auch die Stierhirten seiner eigenen Herde und der eine oder andere befreundete Züchter mit seinen Leuten; aber zur Hauptsache setzte sie sich zusammen aus jungen Leuten aus Arles, Nîmes und Avignon, die sich den Luxus leisten konnten, ein reinblütiges Camargue-Pferd zu erwerben, zureiten zu lassen und mit dem aufwendigen Sattelzeug auszurüsten.
Für den Marquis waren die Feste Arbeitstage, die sich von den Plagen der Woche nur durch ungewöhnliche Anstrengungen unterschieden, denn von der Herde zum Festort waren oft vierzig Kilometer und mehr zurückzulegen, und nach einem mit Aufregungen und Banketten ausgefüllten Tag stand die gleiche Parforce-Leistung noch einmal bevor.
Was es heißt, in der Sonnenglut die Camargue zu durchqueren, erfuhr ich im darauffolgenden Sommer, als mich der Marquis bat, mit ihm neun Pferde von Saintes-Maries nach Arles zu führen. Er nahm fünf Tiere an die Halfter und überließ mir vier. So ritten wir in der Mittagshitze los, eingehüllt in einen Mückenschwarm. Man war den Biestern wehrlos preisgegeben, da man mit der Rechten den eigenen Zügel und mit der Linken die Halfter der Begleitpferde zu führen hatte.
Die Höhepunkte des Jahres waren indessen nicht die offiziellen Feste, sondern die kleinen Feiern, wie etwa das Mittagessen, das der Marquis seinen Reiterfreunden zu Beginn des »Stiermonats« August in Le Cailar gab. Er besaß dort ein Haus, denn hier hatten seine Stiere und Pferde im Sommer, wenn die Camargue ausgebrannt war, kein Futter.
Es war sehr heiß an diesem Tag, man hatte die Läden des großen Raumes zu ebener Erde, der Aufenthaltsraum und Küche in einem war, bis auf einen Spalt geschlossen, so dass kühles Halbdämmer herrschte. Das Mahl war frugal, es gab nur Brot, gekochte Wurst, Zwiebeln, weißen Käse, Oliven und Wein. Auch waren keine Gedecke aufgelegt; jeder schnitt sich Wurst und Zwiebel mit dem eigenen Messer auf dem sauber gescheuerten Tisch.
Man kann sich kein heitereres Bild denken als die Schar von jungen Männern in ihren bunten Hemden, mausgrauen Reithosen und kurzen, schön verzierten Stiefeln, die Gesichter glühend vom Wein und der Erwartung des bevorstehenden Stiergefechtes. Und am Tischende der Marquis, der das von ihm in Szene gesetzte Bild mit dem Ausdruck innigster Zufriedenheit betrachtete.
Dem an Verehrung grenzenden Zuspruch, den der Marquis vonseiten der Stierfreunde erfuhr, stand die skeptische Haltung des kleinen Mannes gegenüber. Man hielt ihn für einen Kauz, für einen Narren sogar. Und tatsächlich war sein Gebaren nicht von dieser Zeit. Zwar brachte er jedem weiblichen Wesen, ob Dame oder Fischweib, eine ausgesuchte Höflichkeit entgegen, doch duzte er unbekümmert jedermann, den er zum Volk zählte.
Einmal begleitete ich ihn bei einem Einkauf im Kramladen von Saintes-Maries. Als er seine Ware erhalten hatte, warf er ein paar Münzen auf die Theke und verließ das Geschäft, während ich meinerseits etwas erstehen wollte und zurückblieb. »Der gute Marquis«, jammerte die Händlerin, »er hat mir wieder einmal viel zu wenig gegeben.« Ich wollte für ihn gutstehen, aber die Frau winkte ab: »Einmal gibt er zu wenig, dann wieder zu viel. Mit der Zeit gleicht es sich aus.«
Ich sah den Marquis zum letzten Mal im März 1941. Von einer Reise zu Mitarbeitern in Marseille und an die Riviera zurückkehrend, machte ich in Arles halt, fuhr nach Saintes-Maries hinunter und ging zum Mas de l’Amarée hinaus. Es war ein trüber Tag, Wind und Regen schlugen mir ins Gesicht. Der Marquis war alt und müde geworden. Er empfing mich freundlich wie immer. Wir tranken die Flasche Châteauneuf-du-Pape, die ich trotz der Misere irgendwo ergattert hatte, zur kargen Mahlzeit, die er zu bieten hatte, und sprachen über die tristen Zeitläufte. Am frühen Nachmittag musste ich mich verabschieden. Er begleitete mich bis zur Straße nach Saintes-Maries und stand dann, ein kleiner Mann im rot-weißen Wollhemd, noch lange winkend und traurig lächelnd in der ungeheuren Landschaft.
Ein Jahr darauf ist er gestorben. Eine seiner Töchter beschrieb mir sein Ende in einem langen Brief. Er hatte einen Sturz vom Pferd getan, die Wunde wurde brandig und führte zum Tode.

Das provenzalische Jahr

Arles war damals eine verschlafene Kleinstadt, die sich seit van Goghs Zeiten kaum verändert hatte. Ich war der einzige Fremde am Ort und darum bald so bekannt wie ein roter Hund. Schon zwei oder drei Wochen nach meiner Ankunft wurde ich dann auch in ein Komitee gewählt, das kurz vor Weihnachten von Haus zu Haus zog, um die schönsten Krippen auszuwählen und zu prämieren. Am meisten Eindruck machte mir ein bethlehemischer Stall, über dessen Giebel eine von Kinderhand kalligraphierte Banderole befestigt war: »Tu enfanteras avec douleur« stand da geschrieben.
Ich wohnte während der ersten Monate im Hôtel du Sauvage, einem bescheidenen Haus. Das Gebäude mochte aus dem 17. Jahrhundert stammen und hatte fünf oder sechs Meter hohe Räume. Mein Zimmer ging auf einen Hofgarten hinaus. Darin stand ein prächtiger Mispelbaum. An die Gartenmauer war ein Eselstall angebaut. Ich hielt das ohrenbetäubende Wiehern des Esels lange Zeit für das Quietschen einer Wasserpumpe.
Für das Mittagbrot hatte ich mich in der Pension Sérail eingeschrieben, die in derselben Straße in einem säkularisierten Kloster untergebracht war.
Mademoiselle Sérail war eine betagte und beleibte Dame, die stets die Arleser Tracht mit dem schwarzen Samtkäppchen trug. Ihre Züge, die von einer sehr langen, leicht gebogenen Nase beherrscht wurden, strahlten ein Gemisch von mütterlicher Besorgtheit und Schlauheit aus. Sie war eine vorzügliche Köchin und gab mir fürs Leben den Geschmack an zugleich bodenständiger und elaborierter Küche mit. Von ihren Kostgängern, die um den ovalen, von ihr präsidierten Refektoriumstisch saßen, sind mir ein pensionierter Weinbauer, eine Gymnasiallehrerin, ein jüdischer Handlungsreisender und eine Eingeborene aus Neu-Kaledonien in Erinnerung geblieben. Der alte Weinbauer behauptete, Mademoiselle Sérail pansche den Wein, und trank deshalb doppelt so viel wie üblich. Die gelehrte Dame setzte sich nach dem Essen ans Klavier und sang Romanzen aus dem vorigen Jahrhundert. Einmal im Monat besuchte sie ihre alte Mutter, die in Marseille lebte. Anderntags erzählte sie dann das Neueste aus der Großstadt. Ihre erste Erfahrung mit dem Tonfilm etwa: wie man beim Öffnen eines Fensters Glockengeläute gehört habe und dass das Löffelchen beim Umrühren richtig geklirrt habe. Wir hörten mit offenem Mund zu; denn in Arles regierte noch der Stummfilm. Die schokoladebraune Neukaledonierin, ein junges Ding, das bei einer Hutmacherin arbeitete, behauptete, in Wirklichkeit weiß zu sein. Zu ihrem Unglück aber hätte sie bei der Durchfahrt durchs Rote Meer zu lange an der Sonne gelegen; wir möchten aber etwas Geduld haben, in wenigen Wochen sei die unerwünschte Bräunung gewiss verschwunden.
Der Commis voyageur erzählte Witze, die niemand hören wollte. Mich, seinen Tischnachbarn, enervierte er außerdem durch die Gewohnheit, die Käserinde viel zu dick abzuschneiden, was dem haushälterischen Schweizer gegen den Strich ging.
Am ersten Abend suchte ich das gelbe Haus van Goghs an der Place Lamartine auf. Das ganze Untergeschoss wurde damals von einem Café eingenommen. Rechterhand waren der Eingang und die Bar, linkerhand ein ziemlich tiefer Saal mit einem Billardtisch. An der Rückwand hing die ovale Uhr mit dem gewellten, schwarzen Rahmen, die auf einem Bild van Goghs den gleichen Platz einnimmt. Das Café war leer bis auf einen jungen Mann im blauen Überkleid, der mit sich selber Billard spielte. Er forderte mich auf, mit ihm zu spielen. Ich gestand, noch nie einen Queue berührt zu haben. Er meinte, er werde es mich schon lehren. Von da an ging ich j...

Inhaltsverzeichnis

  1. Über dieses Buch
  2. Klara Obermüller: Manuel Gasser (1909–1979)
  3. Erinnerungen
  4. Berichte
  5. Quellen
  6. Impressum