Engelsberg
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Engelsberg

Roman

  1. 200 Seiten
  2. German
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Über dieses Buch

Havanna im 19. Jahrhundert. Eine Stadt, die von Sklaven, Mulatten, Freigelassenen und Entlaufenen wimmelt. Und von einer unüberschaubaren Kinderschar, in die Welt gesetzt von niemand anderem als dem Bischof der Stadt, dem tatsächlichen "Engel" vom Engelsberg. Hier treibt's der Don mit der Mulattin, die Doña aus Rache mit dem schwarzen Koch. Cecilia will einen weißen Mann, Leonardo sein Vergnügen und Isabels Geld. Und die Engländer wollen, dass endlich Schluss ist mit der Sklaverei. Bigotterie und Grausamkeit bestimmen das tägliche Leben in Havanna, dazwischen aber scheint jeder Einzelne auf der Suche zu sein nach dem idealen geliebten Wesen, das letztendlich doch ein Spiegelbild seiner selbst sein müsste.Reinaldo Arenas zeichnet mit fast magischer Fabulierkunst und bitterbösem Humor ein Sittengemälde der havannischen Gesellschaft. Ein Generalangriff auf alle Konventionen und Vorurteile der damaligen Zeit und zugleich die traurig-schöne Geschichte von Menschen voller Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe.Von Reinaldo Arenas außerdem in der Edition diá: Der Palast der blütenweißen Stinktiere. RomanAus dem kubanischen Spanisch von Monika LópezISBN 9-783-86034-529-0Reise nach Havanna. Roman in drei ReisenAus dem kubanischen Spanisch von Klaus LaabsISBN 9-783-86034-519-1Rosa. Roman in zwei ErzählungenAus dem kubanischen Spanisch von Klaus LaabsISBN 9-783-86034-520-7Wahnwitzige Welt. Ein AbenteuerromanAus dem kubanischen Spanisch von Monika LópezISBN 9-783-86034-530-6

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783860345283

Kapitel 1
Die Mutter

Von ihrem Schlafzimmer aus, dem der ganzen Familie, hört Rosario, neben sich ihre gerade erst geborene Tochter, eine Kalesche vorfahren. Doña Josefa öffnet die Tür, und Rosario lauscht, wie ihre Mutter mit dem Mann spricht, der ihr Liebhaber war, Don Cándido de Gamboa.
»Ich bin gekommen, um die Kleine zu holen.«
»Wohin wollen Sie sie bringen?«
»Ins Waisenhaus. Ich werde mich darum kümmern, dass es ihr an nichts fehlen wird. Aber niemand darf wissen, dass ich ihr Vater bin.«
»Und Rosario?«
»Sie muss verstehen, dass es die einzige Lösung ist. Sie wird ja wohl nicht so verrückt gewesen sein, sich einzubilden, ich würde die Kleine als meine Tochter anerkennen.«
Don Cándido und Josefa betreten jetzt das Schlafzimmer. Sie nehmen den Säugling, der wie widerwillig weint und sofort verstummt.
»Rosario«, sagt Josefa, schon mit dem Enkelkind auf dem Arm in der Tür, »es ist das Beste für alle …«
Rosario sagt nichts. Sie schließt die Augen und scheint zu schlafen. Doch so, mit geschlossenen Augen, kann sie noch besser ihr ganzes Leben überschauen: Enkelin einer Sklavin und eines weißen, unbekannten Mannes; Tochter einer dunkelbraunen Mulattin und eines weißen, unbekannten Mannes; sie selbst Mulattin, Geliebte eines weißen Mannes, der sie nun verlässt, und Mutter eines Mädchens, das ebenfalls nicht wissen wird, wer sein Vater war. Jetzt versteht sie, dass sie nur Gegenstand der Lust des Mannes war, der ihre Tochter mit sich nimmt, und dass Elend, Verachtung und Verlassenheit alles sind, was sie besitzt. Und sie versteht noch mehr, sie versteht, dass in dieser Welt, in der sie lebt (oder wohnt), kein Platz ist für sie, nicht einmal im Vergessen.
Denn sie wird auf die Straße hinaustreten müssen, arbeiten und gerade diejenigen sehen und ihnen dienen müssen, von denen sie verachtet und erniedrigt wird. Heuchlerisch wird sie voller Demut die Hand küssen müssen, die sie lieber abgeschnitten sähe oder selber abschneiden würde.
Jetzt öffnet Rosario die Augen und schaut zu dem kleinen Altar, wo die vom Flammenschwert durchbohrte Muttergottes mit dem Kinde steht.
»Welcher Trost«, fragt sie, oder fragt sie sich, »wird mir helfen können weiterzuleben?«
(Weil das Schlimmste von allem nicht war, dass man ihr die Tochter wegnahm, sondern dass es der Kindesvater selbst war, der sie ihr wegnahm, der Mann, den sie geliebt hatte und immer noch liebte. Und als er es tat, sah er sie, die Mutter, dabei nicht einmal an.)
»Der Wahnsinn, der Wahnsinn«, meinte sie von fern ein besänftigendes, einwiegendes Gurren zu vernehmen, als wäre sie selbst es, die ihren Geliebten oder wenigstens die Frucht dieser Liebe mit ihrem Gurren einwiegte.
»Der Wahnsinn, der Wahnsinn …«, echote jemand mit noch sanfterer, weicherer Stimme.
Und Rosario Alarcón verlor den Verstand.

Kapitel 2
Der Vater

Verrückt, natürlich. Rosario muss völlig verrückt gewesen sein zu glauben, ich, Don Cándido de Gamboa y Lanza, künftiger Graf des Hauses Gamboa – ein Titel, den ich schon teuer genug den Königen von Spanien höchstselbst bezahlt habe –, würde öffentlich ein uneheliches Kind anerkennen, das ich ungewollt von einer fast schwarzen Mulattin habe wie ihr, der Rosario.
Aber mit den Negern geht das nie gut; gibst du ihnen die Knute, bist du ein Despot, gibst du sie ihnen nicht, bist du ein Trottel, und sie stehlen dir sogar die Glut aus dem Herd. Ich bin wirklich einfach zu gut gewesen. Wer sonst auf dieser Welt kümmert sich schon um eine natürliche Tochter, die er aus purer Lust von einer Negerin hat? Kein Mensch. Einzig Cándido Gamboa. Wer hat es denn ermöglicht, dass unsere Tochter, Cecilia, Mulattin und alles, im Armenhaus eine Erziehung bekommen hat und dass es ihr an nichts fehlte, genauso wenig wie ihrer Großmutter und ihrer Mutter? Für alle habe ich gesorgt, mit meiner Arbeit, mit meinem Vermögen. Und immer noch reden sie schlecht von mir! Was wollen sie? Soll ich Cecilia bei mir aufnehmen, noch eine Tochter? Soll ich sie in meinem Haus zusammen mit meinen anerkannten Kindern leben lassen? Soll die Tochter einer Negerin mit meinen weißen Töchtern zusammenleben, und mit meinem Sohn Leonardito? Soll meine eigene Gattin, die Señora Doña Rosa de Gamboa, eine künftige Gräfin, mit der kleinen Mulattin im Tilbury ausfahren, als ob es ihr leibliches Kind wäre? Was würden da die Leute sagen! Und womöglich ist Cecilia gar nicht von mir, sondern von einem Neger aus der Baracke! Das wäre erst was!
In einem Land von Negern und Mulatten muss man mit dem Schlimmsten rechnen. Das beste Beispiel liefert ja zu allem Unglück Cecilia selbst, die jetzt schon zwölf Jahre alt ist – ja, zwölf Jahre ist es her, dass Rosario den Verstand verloren hat –, Cecilia ist fast schon eine Frau, und sie tut nichts anderes, als sich auf den Straßen und Plätzen herumzutreiben, Tag und Nacht herumzustromern, zu spielen, mit den Negern wie auch mit den Mulatten und Weißen. Das nimmt bestimmt kein gutes Ende mit ihr … Natürlich, wenn man erfährt, dass ich ihr Vater bin, wird es heißen, ich wäre ein Unmensch, weil ich sie nicht als legitimes Kind anerkannt habe. Dabei besuche ich jede Woche ihre Großmutter und gebe ihr eine Unze Gold für die Pflege der Kleinen. Eine Unze Gold! Und ich dränge darauf, dass sie sich nicht mit den Negern abgibt, und auch nicht mit den Mulatten, und dass sie früh nach Hause kommt. Aber bei ihrer Großmutter, wie kann es anders sein bei einer Negerin, gehen die Worte in das eine Ohr rein und aus dem anderen wieder raus.
Gestern war Cecilia sogar hier. In meinem eigenen Haus! Meine Töchter haben sie auf der Straße vorbeigehen sehen und zum Spielen eingeladen. Tausend Fragen stellten sie ihr und waren entzückt vom Kraushaar der kleinen Mulattin. Ich habe heimlich einen Blick auf sie geworfen und bei mir gedacht: meiner Tochter Adela wie aus dem Gesicht geschnitten … Ich glaube, sogar meine Frau, der Teufel soll sie holen, bemerkte die Ähnlichkeit und wurde ernst. Sollte sie erfahren, dass dieses Mulattenmädel meine Tochter ist, wäre das für die Familie und den Ruf des Hauses Gamboa eine Katastrophe. Dabei hat hier jeder was vom Kongo, wenn nicht vom Kalabar! Wie sollte das auch anders sein, wo doch diese halb nackten Negerinnen sogar auf dem Weg von der Küche ins Speisezimmer tausendmal mit dem Arsch wackeln! Diese Körper, diese Hüften … Ich aber habe nichts von einem Neger, zum Glück bin ich nicht mal Kreole. Waschechter Spanier, mein Vermögen habe ich im Schweiße meines Angesichts gemacht.
Ich war Maurer und Zimmermann, habe mit Holz und Ziegeln gehandelt, und vor allem habe ich mein Vermögen und manchmal sogar die eigene Haut riskiert, um Kohlensäcke herbeizuschaffen, Neger aus Afrika, und sie hier den Plantagenbesitzern zu verkaufen, womit ich zur Entwicklung dieser Insel und dieses undankbaren Volks beigetragen habe. Es stimmt schon, dass mir auch die Heirat mit Rosa zuträglich war, sie besaß Vermögen. Aber ich habe es durch meine Arbeit verdreifacht. Mir gehört eine Zuckermühle samt Plantagen, eine Kaffeepflanzung und eine Baracke voll neuer Neger. Im Zentrum von Havanna besitze ich ein Stadthaus mit großer Kutschenvorhalle und mehreren Tilburys. Mein Sohn lernt am Seminar von San Carlos. Und ich habe mir alles, meinen gesamten Besitz, hart erarbeitet. Dann heißt es noch, ich wäre ein schlechter Mensch und würde meinen Sklaven den erstbesten Gegenstand, der mir in die Hände kommt, an den Kopf schmeißen! Von wegen! Ich zerschlage an ihren Köpfen nur Tonteller, Glasglocken, Kupfertöpfe oder Küchenstühle. Wertloses Zeug.

Kapitel 3
Cecilia

Sie war zwölf Jahre alt, und ihre Leidenschaft war es umherzuwandern, besser gesagt, zu stromern: sich unter dem Geklapper der Holzsohlen ihrer Sandalen im Wirrwarr der Straßen Havannas zu verlieren. Von der Hafenbehörde bis zum Monserrate-Tor zu gehen und wieder zurück, Plätze und Kirche zu betreten mit laut hallendem Schritt.
Manchmal, ohne dass ihre Großmutter es wusste, lief sie bis hinter die Stadtmauer und spazierte durch ganz Manglar. Sie klopfte sogar an die Tür irgendeines Hauses, und bevor sie Antwort erhielt, rannte sie, eine hoch aufwirbelnde Staubwolke hinter sich herziehend, fort. Andere Male schlüpfte sie ohne Erlaubnis in den Innenhof des Klosters der Patres von Bethlehem und sorgte bei den Geistlichen für großen Aufruhr, ob jung oder alt.
»Cecilia, Cecilia«, schien sie die Stimme ihrer Großmutter zu hören, die vom Haus in der Gasse San Juan de Dios nach ihr rief. Doch sie, Cecilia, unterhielt sich gerade mit den Töchtern von Cándido Gamboa, vor allem mit seinem Sohn, der nicht die kleinste Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ, sie zu zwicken oder sie bis zum Markt auf dem alten Platz zu begleiten, wo freigelassene Schwarze, Mulatten und selbst Spanier aus vollem Halse alle möglichen Waren anpriesen, vom Messer bis zum Pfau, von Gummihosenträgern bis hin zum transportablen Galgen.
Doch ihre Leidenschaft war noch nicht Leonardo, sondern die Straße. Es schien sie nirgendwo zu halten. In der prallen Mittagssonne, wenn sich alle in der Stadt, bis auf die Sklaven, ein Nickerchen gönnten, hallte das Geklapper ihrer Sandalen ungestüm auf dem Kopfsteinpflaster, den Holzbrücken und sogar auf den Tonziegeln der Dächer wider, die zu dieser Stunde unter ihrem Schritt zerbrachen – sehr zum Ärger der Hausbesitzer und der Sklaven, die ihr auf Befehl ihres Herrn durch die ganze Stadt hinterherjagen mussten, ohne sie je einzufangen.
»Cecilia«, riefen sie die schwarzen Frauen, um ihr eine frisch von der Kochplatte genommene Tortilla zu schenken, und die Mädchen, um sie an den Haaren zu ziehen, und die Jungen, damit sie mit ihnen Ball spielte, und die Greisinnen, um sie zu fragen, wie es der alten Josefa gehe. Doch sie antwortete nicht. Es machte ihr nicht Spaß, irgendwo anzukommen, sondern weiterzuziehen, weiterzurennen. Immer weiter.
Sie wusste, wenn sie stehen bliebe, würde es unausweichlich mit der Fragerei losgehen. Bist du Schwarze oder Weiße? Wer ist dein Vater? Wer sorgt für dich? Was ist deine Geschichte? Stimmt es, dass du im Findelhaus warst?
Und ihre Geschichte war, zumindest für sie, ein Rätsel. Alles, was ihr bei des Rätsels Lösung weiterhelfen könnte, waren eine Mulattengroßmutter, von der niemand wusste, wie sie ihren Lebensunterhalt bestritt, eine schwarze Urgroßmutter, von der es hieß, sie sei eine Hexe, eine Narbe auf der rechten Schulter sowie der Familienname Valdés, auf den im Findelhaus die Kinder unbekannter Eltern getauft werden.
Alle anderen haben Geschwister, Eltern, jemanden zum Hassen oder Lieben, zum Ähnlichsehen oder Verfluchen. Sie hat die Straßen, die Torwege und den hellen Tag. Sie hat nur sich selbst, und darum weiß (oder ahnt) sie, dass sie, wenn sie aufhört zu lärmen, aufhört zu sein.

Kapitel 4
Die Großmutter

Wenn Cecilia, stets spät in der Nacht, nach Hause kommt, liegt Doña Josefa noch wach und wartet auf sie. Sie hat Angst, das Mädchen könnte eines Tages nicht zurückkehren. Sie hat Angst – sieht schon voraus –, dass ihre Enkeltochter ein Schicksal so trostlos wie das ihre oder das ihrer Tochter Rosario oder das ihrer eigenen Mutter erwartet.
Cecilia würde sich in einen weißen Mann verlieben, der sie als Geliebte benutzen würde, eine Frau, die man heimlich besuchte, wenn man sich zu erholen wünschte.
Tatsächlich war Cecilia bereits in einen weißen Mann verliebt, auch wenn sie es selbst vielleicht nicht wusste. Doch sie, die Großmutter, hatte die elegante Gestalt eines jungen Herrn gesehen, der mit ihrer Enkelin am Fenstergitter plauderte. Sie sprachen mit leiser Stimme, und offensichtlich war es nicht das erste Mal, dass sie sich trafen. Womöglich war dieser Mann, wenn sie, die Großmutter, nicht da war, schon im Haus gewesen; vielleicht waren sie bereits ein Liebespaar.
Geräuschlos wie ein Schatten, in der für sie schon typischen Art, war Doña Josefa zur Wohnstube gehuscht und hatte den schmucken Burschen erkannt. Es war Leonardo Gamboa, der Sohn Don Cándidos: Cecilias Bruder. Er war es, der ihr den Hof machte. Und er war der Mann, den Cecilia liebte, und zwar nicht wie einen Bruder.
Kein Zweifel, es ist ein Fluch oder ein böser Streich, dachte die Großmutter, als sie sich in ihr Zimmer flüchtete und die vom Flammenschwert durchbohrte Muttergottes anschaute, die im Licht einer Kerze in ihrer Andachtsnische schimmerte. Cecilia Valdés’ Herkunft war so geheim gehalten worden, dass sich, ohne dass er es wusste, ausgerechnet ihr eigener Bruder in sie verliebt hatte. Und sie sich in ihn. Das war das Schlimmste.
Was würde Don Cándido sagen, wenn er es erführe? Denn früher oder später wüsste er davon. Womöglich würde er befehlen, seine Tochter zu töten, zumindest aber sie aus der Stadt vertreiben; ihr würde er die Unterstützung entziehen, und sie würden beide verhungern.
War es schließlich – dachte Doña Josefa weiter – nicht logisch, dass sich Cecilia einen weißen Mann suchte? Was für eine Zukunft erwartete sie denn, wenn sie in einem Sklavenland einen Mulatten oder einen Neger heiratete? Dienstmädchen, Straßenverkäuferin, Schneiderin oder Köchin. Wenn überhaupt. Sie war schon achtzehn Jahre alt. Niemand konnte beim ersten Hinschauen denken, dass sie schwarzrassig war. Vielleicht würde sie sogar einen weißen Mann heiraten können, Kinder haben. Um ihr nicht zu schaden, würde sie, die Großmutter, sie nie wiedersehen. Was Rosario Alarcón anging, nach den Worten der Nonnen vom Frauenhaus eine bedauernswerte Geisteskranke, so würde sie sich niemals um ihre Tochter kümmern. Cecilias Vergangenheit bestand nur aus einer halbmondförmigen Narbe, die Doña Josefa ihr eingeritzt hatte, um sie unter den vielen Kindern namenloser Väter im Findelhaus wiederzuerkennen.
Wenn es Cecilias Schicksal – und Wunsch – war, mit einem weißen Mann zu leben, durfte dieser Mann natürlich nicht ihr eigener Bruder sein, sagte sich Doña Josefa und beschloss, trotz allem, unverzüglich Don Cándido Gamboa aufzusuchen, um zu sehen, wie sie dieser Angelegenheit, ohne schlimmere Folgen und ohne dass Doña Rosa davon erführe, ein Ende machen könnten.

Kapitel 5
Doña Rosa

Doña Rosa Sandoval y de Gamboa war als gute Ehefrau eifersüchtig und misstrauisch. Daher glaubte sie von Anbeginn nicht den Worten ihres Gatten Don Cándido Gamboa, wenn dieser, um die Nächte außer Haus zu verbringen, eine dringende Versammlung mit Plantagenbesitzern oder Sklavenhändlern vorschob. Mit viel Geschick fädelte sie es ein, dass der Sklave Dionisios, der als Chefkoch arbeitete (und zu dem sie verhältnismäßig großes Vertrauen hatte), in mancherlei aufwendiger Verkleidung ihrem Manne nachspionierte.
Das Ergebnis dieser Nachforschungen ließ nicht lange auf sich warten:
»Der Herr hat ne Liebschaft mit ner bildschöne Mulattin. Se wohnt inner Gasse San Juan de Dios und hat ihm grad n Mulattentöchtel geborn, wirklich n Goldkind. Bei meine Seel, wenn Se diss sehn tätn. Schaut genauso aus wie Ihr Töchtel Adela!«
»Da hat also Don Cándido eine Tochter mit einer Negerin …«
»Mit ner Negerin nich, Señora, ner Mulattin.«
»Das ist dasselbe, Dummkopf!«, unterbrach ihn Doña Rosa, ließ ihre Augen nicht ab von ihrem schwarzen Koch und befahl ihm: »Mach die Tür zu und zieh dich auf der Stelle aus!«
»Aber Herrin! Was hab ich bös getan? Hab nur Ihre Befehle gehorcht, und was ich sag, is de Wahrheit. Warum wolln Se mir de Peitsche gehm?«
»Niemand wird dir die Peitsche geben, Dionisios«, erwiderte Doña Rosa. »Ich habe dir lediglich befohlen, dich auszuziehen.«
Noch ängstlich zog sich Dionisios die weiten, abgetragenen Hanfhosen aus und rechnete damit, dass jeden Moment der Ochsenziemer auf seine...

Inhaltsverzeichnis

  1. Über dieses Buch
  2. Über das Werk
  3. Erster Teil: Die Familie
  4. Kapitel 1: Die Mutter
  5. Kapitel 2: Der Vater
  6. Kapitel 3: Cecilia
  7. Kapitel 4: Die Großmutter
  8. Kapitel 5: Doña Rosa
  9. Kapitel 6: Engelsberg
  10. Kapitel 7: Die versammelte Familie
  11. Zweiter Teil: Die Schwarzen und die Weißen
  12. Kapitel 8: Der Ball
  13. Kapitel 9: José Dolores
  14. Kapitel 10: Nemesia Pimienta
  15. Kapitel 11: Dionisios
  16. Kapitel 12: Das Duell
  17. Kapitel 13: Von der Liebe
  18. Dritter Teil: Die Weißen und die Schwarzen
  19. Kapitel 14: Isabel Ilincheta
  20. Kapitel 15: Eine Tilburyausfahrt
  21. Kapitel 16: Der Paseo del Prado
  22. Kapitel 17: Das Zusammentreffen
  23. Kapitel 18: Dolores Santa Cruz
  24. Kapitel 19: Das Rendezvous
  25. Kapitel 20: Der Generalkapitän
  26. Kapitel 21: Die Freundschaft
  27. Kapitel 22: Von der Liebe
  28. Vierter Teil: Auf dem Lande
  29. Kapitel 23: Auf der Kaffeepflanzung
  30. Kapitel 24: Die Dampfmaschine
  31. Kapitel 25: Die Romanze im Palmenhain
  32. Kapitel 26: Die Verwirrung
  33. Kapitel 27: Cirilo Villaverde
  34. Kapitel 28: Das Weihnachtsabendmahl
  35. Fünfter Teil: Die Rückkehr
  36. Kapitel 29: Das Wunder
  37. Kapitel 30: Von der Liebe
  38. Kapitel 31: Der Ball in der Philharmonischen Gesellschaft
  39. Kapitel 32: Die Hochzeit
  40. Sechster Teil: Schlüsse
  41. Kapitel 33: Von der Liebe
  42. Kapitel 34: Von der Liebe
  43. Ottmar Ette: Lesen, Leben, Lieben
  44. Impressum