Ellens Geschichte
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Ellens Geschichte

Roman

  1. 260 Seiten
  2. German
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Ellens Geschichte

Roman

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Über dieses Buch

Solange Ellen Tote zurückdenken kann, träumt sie nachts immer wieder, wie ihre Mutter zum nahe gelegenen Fluss geht, hineinwatet und darin untertaucht. Es kommt Ellen so vor, als würde ihre Mutter ertrinken. Warum, so fragt sie sich, geht Mama mitten im Winter zu dem vom Regen angeschwollenen Fluss?Dieses Rätsel beschäftigt Ellen immer noch, selbst jetzt, im Alter. Ihre eigenen Kinder sind mittlerweile erwachsen, ihre beiden Ehemänner und all ihre Geschwister sind inzwischen gestorben. Ellen blickt zurück in ihre Jugendzeit, versucht, die Bruchstücke ihrer Erinnerung zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Was dabei entsteht, ist das Bild einer Kindheit in bitterster Armut, der innere Kampf eines kleinen Mädchens, das angesichts der Bedrohung durch Gewalt innerhalb der Familie, durch Lieblosigkeit, Entwurzelung, Unverständnis und äußere Not ein wenig Würde und Eigenständigkeit zu gewinnen sucht.So entsteht ein schonungslos ehrliches und erschütterndes Bild einer Kindheit, die einen schwachen Menschen unweigerlich zugrunde richten würde. Als sich die Erinnerungsteile endlich zusammenfügen, löst sich für Ellen das Rätsel ihres Traums. Auf dem Weg dorthin entsteht eine bewegende und meisterhaft erzählte Geschichte zwischen Angst und Hoffnung.Von Jim Grimsley außerdem in der Edition diá: WintervögelISBN 9783860345115Das Leben zwischen den SternenISBN 9783860345122DreamboyISBN 9783860345139

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783860345320

In der Gegenwart

Eines Sonntags wachte ich früh auf und hoffte wie so oft, Mama würde mich in die Kirche gehen lassen. Es war April, der Krieg war vorbei, und wir hatten auf Mr Taylors Tabakfeldern gearbeitet, was Mama so ermüdet hatte, dass sie am liebsten bis lange nach Sonnenaufgang im Bett geblieben wäre.
Ich erwachte vor Nora und stand auf, um die Glut im Ofen zu schüren, entfachte ein kleines Feuer, das später größer werden würde, dann lief ich schnell mit dem Wassereimer nach draußen. Der Brunnen stand neben dem Haus, und ich setzte ihn in Gang und pumpte, während der Himmel langsam etwas aufklarte. Zu dieser frühen Stunde war der Wind schneidend, fegte über die Felder und wirbelte Staub auf.
Der Sonntagmorgen hatte etwas Besonderes an sich, selbst um diese Zeit. Für mich entstand dieses Gefühl aus der Möglichkeit, dass Mama mich heute vielleicht aus dem Haus ließ, dass ich vielleicht mein gutes grün kariertes Kleid oder sogar meinen neuen blauen Rock und die weiße Bluse anziehen und zur Kirche gehen durfte. Wenn Mama mir die Erlaubnis gegeben hatte, ging ich los, sobald das Frühstücksgeschirr gespült war, oder jedenfalls zum größten Teil. Daddy sagte nie Nein, nur Mama.
Im letzten Rest von Dunkelheit trug ich den Nachttopf von der hinteren Veranda über den Pfad bis zum Abort. Sachte, damit nichts von der Brühe auf mich spritzte, drückte ich den Deckel fest zu und versuchte, die stinkenden Schwaden zu ignorieren, die daraus aufstiegen. Jeden Schritt setzte ich vorsichtig, ertastete den Boden mit meinen Fußsohlen. Der Duft vom blühenden Geißblatt ballte sich am Wegrand dick in der Luft zusammen, dicht und schwer, ein Geruch, der mich immer an diesen Pfad erinnern würde, weil er sich so unverkennbar mit dem Gestank aus dem Topf und vom Abort vermischte. Ich kippte das Zeug in die Grube, das Geräusch fiel mit dem Krähen eines Hahnes irgendwo zusammen, aus einer der Hütten tiefer im Wald, wo farbige Leute wohnten.
Ich wusch mir die Hände an der Pumpe und ging wieder nach drinnen.
Nora hatte mich gehört und stand in der Küche, zupfte an ihrem Kleid, wo es eng um die Rippen saß. Ihre Brüste wurden etwas platt gedrückt. »Hast du ’n Eimer Wasser geholt?«
Ich nickte und holte einen zweiten Eimer voll, ohne extra aufgefordert zu werden. Nora stocherte im Feuer.
»Du bist schon ganz heiß drauf, heute in die Kirche zu kommen, wie?«, fragte sie.
Ich habe diesen Morgen noch so im Gedächtnis, als läge er in der Gegenwart, dabei habe ich seit Jahren jeglichen Morgen dieser Art weit hinter mir gelassen, ich brauche keinen Holzofen mehr anzufeuern, keine Handpumpe mehr zu bedienen, um Wasser aus einem Brunnen zu bekommen. Ich betrete den Pfad zum Abort, den Nachttopf an der Hand, ich bin zehn Jahre alt, Nana Rose ist gestorben, und ich muss wieder zu Hause wohnen, aber am Sonntagmorgen darf ich, wenn ich brav bin, in meinen besten Kleidern aus dem Haus gehen und in dem sauberen Raum auf einer der gestrichenen Bänke sitzen, unter all den ruhigen, nachdenklichen Menschen, die regelmäßig gemeinsam singen und beten. Die Erinnerung durchfährt mich wieder; ich komme auf dem Weg zum Abort außer Atem und versuche zugleich, die Luft anzuhalten, damit ich den Geruch des Nachttopfs vermeiden kann; ich passe höllisch auf die tückischen Stellen des Weges auf, wo sich die Baumwurzeln ohne Vorwarnung aus dem Boden erheben wie Schlangen zu meinen Füßen. Ich erinnere mich so genau, dass ich jetzt aus meinem Haus treten könnte und den Pfad zum Abort finden würde, der mich wieder erwartet.
An diesem Fenster habe ich gestanden, eine Hand auf der Brust, mit festem Druck. Plötzlich fällt mir wieder ein, wie ich an jenem Frühlingsmorgen Brötchen gebacken habe, wie sehr ich mir wünschte, die Arbeit hinter mich zu bringen, wie ich da stand und den Brötchenteig knetete, während mir Nora ins Ohr flüsterte: »Das Einzige, was dich interessiert, ist diese Kirche. Hoffentlich sitzt du da auf den Bänken, bis du verrottest.« In der Gegenwart mache ich mir nur meinen Kaffee und eine Scheibe Toast zum Frühstück, aber meine Handgelenke sind schwer, und ich kann mich kaum bewegen, so stark ist die Erinnerung an den Brötchenteig und das süße Schmalz, das meine Finger überzieht.
»Wenn du nicht alles so eilig machen würdest, könntest du es auch richtig hinkriegen«, sagte Nora, »aber das Einzige, was dich interessiert, ist diese Kirche. Hoffentlich sitzt du da auf den Bänken, bis du verrottest. Du kannst ja schon an nichts anderes mehr denken.«
»Du magst meine Brötchen doch sowieso nicht, egal, was ich tue«, sagte ich.
»Na, mit dieser Schüssel voll Pampe wirst du mich kaum dazu bringen, meine Meinung zu ändern.«
»Komm doch mit in die Kirche.«
Sie brauchte offenbar einen Moment, bis sie begriffen hatte, was ich meinte. Erst warf sie mir einen Blick zu, dann schaute sie wieder auf die Schüssel. »Wozu soll ich denn in die Kirche? Da sitzt doch bloß ein Haufen alter Weiber, die nichts Besseres zu tun haben, als sich über einen lustig zu machen, wenn man nicht so gut angezogen ist wie sie.«
»So sind sie gar nicht alle«, sagte ich. »Sie singen Kirchenlieder und erzählen Geschichten von Jesus. Versuch’s doch mal.«
»Ich war schon in der Kirche, ich weiß, wie das ist.«
»Du könntest es doch noch einmal versuchen, vielleicht gefällt es dir jetzt.«
Sie nahm mir die Schüssel mit dem Brötchenteig ab und streute mehr Mehl hinein. Dann musterte sie den Hefeteig, als müsste er vor ihren Augen aufgehen. Ich wusste, sie wollte mitkommen. Ich wusste, sie würde ablehnen. »Diese Brötchen sehen aus wie Brei, Ellen, du musst mehr Mehl reintun. Ich verstehe nicht, warum ich dir das jedes Mal sagen muss.«
Ich stand blinzelnd da.
»Geh und wasch dir die Hände und putz den Siruptopf ab, damit Mama ihr Brötchen eintunken kann.«
»Sei doch nicht immer so rechthaberisch«, sagte ich, aber ich machte ein Tuch nass und wischte erst den Siruptopf und dann meine klebrigen Finger ab.
Danach verschwendete ich meine Zeit nicht mehr damit, Nora vom Kirchgang zu überzeugen. Ich konzentrierte mich darauf, die Arbeiten zu tun, die erledigt sein mussten, bevor Mama aufwachte. Wenn das Wasser auf dem Herd kochte, benutzte ich es zum Teil dazu, das Geschirr zu spülen, das vom Vorabend eingeweicht dastand, dann füllte ich den Eimer wieder auf, und während ich ihn am Henkel ins Haus schleppte, schepperte er gegen meinen Oberschenkel.
Jetzt, wo ich in meiner Küche sitze, packt mich die Wut, eine stille Wut, aber stark genug, um mir die Brust und den Atem abzuschnüren. Als würde jemand auf mich warten, dass ich für ihn koche, ihm etwas bringe, als hätte mich einer meiner Brüder oder Männer oder Onkel oder mein Daddy oder mein Großvater oder der Sheriff oder irgendein anderer Mann gerade aufgefordert, ihm etwas zu bringen, das vermutlich direkt in seiner Reichweite steht. Bring mir eine Tasse Kaffee. Hol mir ein Brötchen. Such meine Hosenträger, die Hose hängt durch. Du musst mal Wäsche machen, damit ich was Sauberes anzuziehen habe. Die Stimmen warten auf mich, allzeit bereit. Ich habe sie mein ganzes Leben lang gehört.
Ich gehe hinaus, schüttle den Kopf, um wieder klar denken zu können. Ich habe einen kleinen Garten und gehe darin umher, ich bewundere die Blüten meiner Azaleen und hebe die Blütenblätter, die abgefallen sind, auf und stecke sie in eine Plastiktüte. Mein Nachbar denkt, ich bin verrückt, so etwas zu tun, aber ich hasse den Anblick von Blütenblättern, die am Boden verwelken, während die Blumen darüber noch am Leben sind. Ich werfe die Blätter hinter den Schuppen, wo kleine Häufchen verrotteter Rosen, Hartriegelblüten und die Überreste einiger Kamelien liegen. Der Duft der Rosen überlagert alles andere, sogar das Geißblatt. Ich sauge ihn tief ein. Doch vor meinem inneren Auge sehe ich immer noch Noras Hände, die den Brötchenteig kneten, an einem lange vergangenen Morgen.
Als Mama barfuß in die Küche walzte, ihren Morgenmantel schlaff um die Schultern gehängt, fragte ich sie, ob ich in die Kirche gehen dürfte. Sofort mischte sich Nora ein: »Du hast aber eine Menge Hausarbeit noch nicht erledigt, Fräuleinchen.«
»Ich weiß, dass ich alles fertig machen muss, bevor ich gehe.« Mit einem Gesichtsausdruck, den ich mir als redlich und appellierend vorstellte, wandte ich mich Mama zu. »Ich verspreche, dass ich alles vorher erledigen werde.«
»Das kann ich heute Morgen nicht gebrauchen, dass du mir hier mit deiner Kirche auf die Nerven fällst.«
»Bitte, Mama, lass mich doch gehen, ich möchte es so gerne.«
»Ich hab gesagt, lass mich damit in Ruhe, sonst kriegst du hier das Feuerholz zu spüren.« Sie wedelte mit einem Holzscheit in meine Richtung, da sie gerade vor dem offenen Ofen stand und nach dem Feuer sah. Instinktiv wich ich zurück; sie hatte mir oft genug ein Stück Holz übergezogen. »Ich bin heute Morgen mit Kopfweh aufgewacht.«
Nora fügte hämisch hinzu: »Da steht ein Topf voll Bohnen auf der Spüle, die sind zu waschen. Also setz mal deinen kleinen Arsch in Bewegung.«
Als ich nicht schnell genug zu den Bohnen sprang, haute mir Mama eine herunter, als Warnung. Das überraschte mich, und ich zog mich blinzelnd zu den Bohnen zurück.
Die waren über Nacht eingeweicht und jetzt aufgequollen. Ich wusch sie und holte sie heraus, eine Handvoll nach der anderen, wobei ich den Ausschuss, die dunklen Bohnen und die deformierten, herauslas. Die duldete Nora nicht auf ihrem Teller, und jedes Mal fand sie garantiert das einzige Exemplar, das mir entgangen war. Während ich arbeitete, ließ sie mich keine Sekunde aus den Augen.
Heute, bei mir zu Hause, stehe ich an der Spüle und lasse Wasser über einen Topf voll trockener weißer Limabohnen laufen und denke nach, beinahe laut. Ich sollte keine Bohnen kochen, davon kriege ich bloß Blähungen. Außerdem habe ich doch heutzutage viel Besseres zu essen als Bohnen. Ich habe einen Laib lockeres, sauberes Weißbrot, zum Teil im Gefrierschrank, weil es neulich bei Food Lion ein Sonderangebot gab, ich habe ein Schweinskotelett, das gerade auftaut, und Sandwichfleisch, Schinken und Truthahn. In meinem Haus gibt es kein Gramm Rückenspeck oder Billigsalami. Ich habe Gemüse aus dem eigenen Garten eingefroren, und in der Speisekammer stehen Einmachgläser voll Tomaten. Und ich habe gelernt, wie man eingelegtes Gemüse macht, ein, zwei Sorten. Inzwischen brauche ich Bohnen nur dann zu essen, wenn ich Lust drauf habe, wie heute zum Beispiel. Und so stehe ich am Abfluss der Spüle und fahre mit den Händen durch die schweren weißen Bohnen im Wasser.
Ich lese den Ausschuss heraus, die dunklen und die deformierten. Ich dulde nicht eine deformierte Bohne auf meinem Teller. Ich muss verlesen und sortieren, bis ich auch die allerletzte gefunden habe.
Doch die Erinnerung an jenen Sonntagmorgen lässt mich zögern: Das Schwebende des Gedächtnisses ist wie Rauch, und wenn man es auffängt, duftet es. Ich stehe in meiner sauberen weißen Küche. Ich trete an die Hintertür, wische mir die Hände an einem Handtuch ab und halte inne, wo ich die Rosenblüten neben dem Schuppen sehen kann. An meinen Händen hängt der Geruch von Bohnen und Wasser, dazu gesellt sich das betäubende Aroma des Geißblatts am Zaun. Die lebhafte Gegenwart beschwört die lebhafte Vergangenheit herauf, und einen Augenblick lang stehe ich wieder in der schäbigen Küche von damals, meine Hände im Topf, der Haufen Bohnen glänzt in der Schüssel mit dem Sprung, und das Wasser ist schlierig.
Ich schüttele den Kopf und schaue auf meine Rosen, Jahre später, und ich frage mich, was die beiden Zeiten miteinander verbindet, doch im selben Augenblick durchflutet mich die Erkenntnis, dass ich es schon weiß. Der Duft des Geißblatts. Durch meinen hinteren Garten, genau wie durch die dunkle Küche des lang vergangenen Sonntags, strömt der Duft des Geißblatts in voller Blüte, der schwere, betäubende Duft schwebt herein und ist sogar stärker als der Geruch der halb ranzigen Würstchen, die Nora gerade in die Pfanne getan hat.
Wieder schüttele ich den Kopf, und diesmal habe ich mich den Rosen genähert, ich gehe, verblüfft, als wüsste ich gar nicht, wie ich hierhergekommen sein kann.
Ich denke, ich möchte in die Kirche gehen. Ich möchte mit einem sauberen Kleid in der Bank sitzen. Mir doch egal, wenn mich jemand begleiten muss. Wir werden Kirchenlieder singen, und wir werden an den Herrn im Himmel denken, und wir werden beten. Vielleicht sehe ich Tante Addis, und sie setzt sich zu mir. Vielleicht kommt Carl Jr. mit, der kann auf der hintersten Bank schlafen wie immer. Und während ich die Bohnen verlese, denke ich an das heilige Antlitz Christi, das ich manchmal in der Kirche sehe. Alma Laura hat es auch schon gesehen. Seine Pracht schwebt über uns wie ein großer Ballon. Alma Laura wird ohne mich gehen, wenn Mama mich nicht fortlässt. Ich finde es nicht fair, dass Alma Laura so viele Freiheiten hat und ich nicht. Aber Alma Laura würde die Sache wahrscheinlich anders sehen.
»Morgens ist mir immer kalt«, brummelte Mama und stellte sich so nah an den Ofen, als wollte sie sich rösten.
»Ich bin fertig mit dem Kessel«, sagte ich, »soll ich die Brötchenpfanne spülen?«
»Ich hab ja gerade mal die Brötchen gemacht«, sagte Nora mit einem Seitenblick. »Kannst schon nicht mehr still sitzen, wie? Das wird aber mit dem Frühstück nicht schneller gehen, nur weil du auf- und abhüpfst, um in deine Kirche zu kommen.«
Carl Jr. schlurfte herein und kratzte sich am Kopf. »Was habt ihr denn dagegen, dass Ellen in die Kirche gehen will? Ich geh mit ihr, ihr wisst doch, dass Daddy sie nicht alleine gehen lässt. Falls ich ein sauberes Hemd finde.«
»Du hast bloß ein sauberes Hemd, und das ist nicht gebügelt.«
»Dann bügelt es Ellen, und ich kann gehen«, sagte Carl Jr., und ich griff schon nach den Bügeleisen, um sie am Herd aufzuheizen.
»Guck mal, wie schnell sie jetzt in Bewegung kommt«, sagte Nora verächtlich.
Einen Moment lang machte mich ihr Gesichtsausdruck sprachlos, wie böse sie mich anschaute, und gleichzeitig wurde mir klar, dass sich ihr Körper verändert hatte, gerundet. Das Baumwollkleid schmiegte sich an ihre Brüste und Schenkel. Ich musterte Nora in ihrer Bosheit, und daran kann ich mich ebenso lebhaft erinnern wie an den Duft von dem blütenübersäten Ast des Rosenbusches, einen so schweren Duft, dass ich fast trunken davon werde.
Ich habe meine Schwester Nora zu Grabe getragen, in der Gegenwart. Sie ist vor einigen Monaten an einer Nierenkrankheit gestorben. All ihre Kinder waren auf der Beerdigung und haben geweint, und obwohl es damit zu tun hatte, dass meine Schwester tot war, fand ich das einen schönen Anblick. Ich fand, meine Schwester hatte etwas geleistet im Leben, dass sie so viele Kinder hatte, die sie auf ihrer Beerdigung beweinten. Seitdem habe ich ihr Grab besucht, und ich weiß, sie wartet dort, ihr Körper freut sich auf die Auferstehung in seiner trockenen Gruft.
Aber die Nora, der ich nicht entfliehen kann, ist die Schwester, die in mir aufsteigt, die sich zu mir umdreht, als ich den Topf mit Bohnen auf den Herd setze. »Lass die Bohnen mal in Ruhe, die sind hin, wenn du jetzt Salz reintust. Ich kümmere mich schon darum, die Bohnen zu würzen.«
Ich bügelte Carls Hemd, und Mama weigerte sich, auch nur ein Wort zu sagen, ab und zu kam ein böser Blick von ihr. Ich sah nach den Brötchen im Ofen und sagte es Nora, als sie oben braun wurden. Ich kochte Grütze und rührte immer um, zwischendurch stellte ich die Bügeleisen auf den heißen Herd und bügelte das Hemd und brachte Carl Jr. seinen Kaffee, mit drei Löffeln Zucker. Ich erledigte eine Aufgabe nach der anderen, ohne mich zu beklagen, wie ein braves Mädchen. Ich dachte an meinen blauen Rock und meine weiße Bluse, die fast neu waren, ich hatte sie von Mamas Schwester Lucy Baker bekommen und trug sie von ihrer Tochter auf, die in meinem Alter war. Ich hatte diese Sachen erst zweimal in der Kirche angehabt, und jetzt konnte ich zwischendurch das grün karierte Kleid anziehen, das mir Mama von meinem Geld gekauft hatte, ich hatte es über den Sommer bei der Baumwoll- und Tabakernte verdient. Ich sah dieses Geld allmählich auch als meines an, obwohl sie es immer noch einsammelte, behielt und ausgab, wie es ihr passte. Ich konnte diese Woche die eine Garnitur anziehen und nächste Woche die andere. Dadurch wurde die Kirche für mich einfacher als die Schule, dort hielten zwei Garnituren Kleidung nicht so lange.
Als Daddy in die Küc...

Inhaltsverzeichnis

  1. Über dieses Buch
  2. Das Haus in Low Grounds
  3. Der tote Fuchs
  4. Am Moss Pond
  5. Wie wir von dem Ungeheuer erfuhren
  6. Alma Laura
  7. Onkel Cope
  8. Variationen über Onkel Cope
  9. Corrine
  10. Der Schlangenzahn
  11. Joe Robbie
  12. Winter in Holberta
  13. Mama sagte immer
  14. Tante Addis
  15. Nana Roses Träume
  16. Ein Mann und seine Mama
  17. In der Gegenwart
  18. Nora
  19. Mein Ertrinken
  20. Impressum