Reise nach Havanna
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Reise nach Havanna

Roman in drei Reisen

  1. 200 Seiten
  2. German
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Reise nach Havanna

Roman in drei Reisen

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Ganz Havanna staunt: In den extravagantesten Kostümen Kubas präsentieren sich Eva und Ricardo dem Straßenpublikum. Ob ein glitzernder Paillettenkimono oder ein Spenzer in Zickzackmaschen, alles ist handgemacht. Die beiden wollen auffallen, um jeden Preis. Ihr Exhibitionismus steigert sich zu einer Tournee durch ganz Kuba, auf der Jagd nach dem letzten Ignoranten... Ein Kubaner in New York begegnet seiner Traumfrau, bildschön, aber äußerst rätselhaft. Dass Elisa der Mona Lisa zum Verwechseln ähnlich sieht, ist nicht ihr einziges Geheimnis... Auf Drängen seiner Ehefrau und des inzwischen erwachsenen Sohnes kehrt der schwule Ismael geschenkbeladen nach Kuba zurück, doch die Heimkehr wird immer mehr zum Albtraum - mit versöhnlichem Erwachen. Reinaldo Arenas jongliert mit Spannung, Erotik und Gefühl und verblüfft mit überraschenden Wendungen.Von Reinaldo Arenas außerdem in der Edition diá: Engelsberg. RomanAus dem kubanischen Spanisch von Klaus LaabsISBN 9783860345283Der Palast der blütenweißen Stinktiere. RomanAus dem kubanischen Spanisch von Monika LópezISBN 9783860345290RosaRoman in zwei ErzählungenAus dem kubanischen Spanisch von Klaus Laabs ISBN 9783860345207Wahnwitzige Welt. Ein AbenteuerromanAus dem kubanischen Spanisch von Monika LópezISBN 9783860345306

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Information

Jahr
2013
ISBN
9783860345191

Dritte Reise: Reise nach Havanna

Santa Fe, Havanna, 3. November 1994
Lieber Ismael, obwohl ich schon seit Langem keine Nachricht von Dir habe und Du diesen Brief höchstwahrscheinlich nie bekommen wirst, schreibe ich Dir, um Dir zu sagen, dass unser Sohn, Ismaelito, schon dreiundzwanzig Jahre alt geworden ist und ständig nach Dir fragt. Und auch ich frage mich, was Du wohl tust, wie Du lebst, ob Du Dich noch an uns erinnerst, an mich. Du weißt, ganz bestimmt weißt Du, wie es hier um uns bestellt ist. Viele Kubaner von drüben kommen jetzt wieder zu Besuch. Ich will Dich nicht darum bitten, aber solltest Du Dich entschließen zu kommen, dann sollst du wissen, dass Du hier bleiben kannst, solange Du möchtest. Ich glaube, für einen Sohn ist es wichtig, seinen Vater zu sehen, und sei es nur einmal im Leben. Und auch ich würde Dich gern wiedersehen. Ich habe nicht noch mal geheiratet, aber hab keine Angst, ich werde es auch nie mehr tun. Komm als Freund. Hier erinnert sich niemand an Dich, außer natürlich Dein Sohn und ich.
Elvia
PS: Solltest Du Dich entschließen zu kommen (ich weiß, Du wirst es tun), hat Ismaelito eine Liste von Dingen aufgeschrieben, die ich Dich mitzubringen bitte, wenn Du kannst. Du weißt ja, jeder Junge in seinem Alter möchte gern ein Paar Schuhe und Sachen zum Ausgehen haben. Falls Du es vergessen hast: Gestern waren es fünfzehn Jahre, dass Du fort bist.
Es schneite so dicht, dass beim Blick aus dem Fenster die ganze Stadt für Momente verschwand, eingehüllt in das anstürmende Weiß. Manchmal fiel der Schnee nicht herab, sondern flog in lautlosen Wirbeln plötzlich nach oben. Schon seit mehreren Stunden schneite es so, als wäre vom Himmel eine Kälte gekommen, die keine Zeit hatte, sich endgültig auf der Landschaft niederzulassen. Vom Fenster aus konnte Ismael, wenn es das Schneegestöber erlaubte, sehen, wie vollkommen weiß alle Dächer waren; die weißen Straßen mit den geparkten Autos verschwanden schon im Weiß. Die Ninth Avenue war keine Geschäfts- und keine Latinostraße mehr, sondern ein friedlicher, gefrorener Fluss, so reglos wie etwas weiter unten der Hudson, der ebenfalls eine riesige weiße Ebene war, wo New Jersey als einfaches weißes Gebirge aufragte … Wenn er natürlich, dachte Ismael, statt in diesem alten Apartment auf der West Side (fünfter Stock, ohne Fahrstuhl) in einem der eleganten Hochhäuser auf der East Side oder in der Fifth Avenue oder am Central Park wohnen würde, dann wäre das Panorama, das sich ihm darböte, noch beeindruckender. Aber wenigstens ist das Weiß, sagte er sich, für alle gleich, allerdings nur, solange der Schneesturm anhält und die Leute und die Autos nicht alles in einen eisigen, gräulichen Matsch verwandeln … Einmal mehr schlug ihn der Schnee in seinen Bann und machte ihn nachdenklich. Wie konnte man das einen »Sturm« nennen, wo doch der Schnee so majestätisch und sanft fiel? Andererseits, wie konnte man sagen, er fiel, wenn er doch vielmehr schwebte, sich herabsenkte und manchmal sogar aufstieg? Man konnte auch nicht sagen, es sei ein Gestöber, denn je dichter der Schnee fiel, desto allumfassender war das Gefühl von Ruhe. Ein Regenguss oder ein Hagelschlag, die konnten wirklich prasselnd, stürmisch, zerstörerisch sein. Aber wie konnte man als Gestöber bezeichnen, was so sanft herabkam und in einer solchen Stille. Die Stille, diese allumfassende Stille (und er war in der hektischsten Stadt der Welt), sie faszinierte ihn am meisten. Gab es nicht eine Theorie, die dieses Phänomen erklärte? Bestimmt. Doch es bestand ein gewaltiger Unterschied zwischen einer solchen Theorie und der Wirkung dieses Schweigens … Jetzt ergriff der Flockenwirbel (aber hatten wir nicht schon gesagt, dass es sich eigentlich nicht um einen Wirbel handelte?) die ganze Luft, den ganzen Himmel. Ismael drückte Nase und Augen an die Fensterscheibe und spürte, trotz der Kälte, die durch das Glas drang, etwas Heißes und Sanftes, Fernes und Einzigartiges (und darum so Vergängliches), das ihn für alles Übrige entschädigte und ihm, während es im stetigen Auf und Ab die Scheibe streifte, an der er immer noch selbstvergessen lehnte, sagte: Du hast gesiegt, du hast gesiegt, du bist nicht zugrunde gegangen; denn wenn es eine heldenhafte Tat gibt, die Aufmerksamkeit verdient, dann die, einen weiteren Tag überlebt zu haben … Und Ismael erinnerte sich an sein heißes Land, dachte dreißig Jahre zurück, sah, wie er schon damals alles daransetzte, nicht zugrunde zu gehen. Ja, es war schwer dort, alle Regeln des Überlebens zu beachten: vor allem, wenn man jung ist, wenn man begehrt und träumt … Wenn man begehrt und träumt und an einem Ort lebt, wo es eine strafbare Handlung ist, in einer Hose ausländischer Marke auf die Straße zu gehen; wenn man begehrt und davon träumt, eine solche Hose zu besitzen, was fast ein Ding der Unmöglichkeit ist … Und eben dort war er, dreißig Jahre alt oder jünger, und wollte beweisen, dass er bewunderte, was er verabscheute, dass er verabscheute, was er wirklich begehrte, und zu diesem Begehren gehörte das alles Entscheidende, das er dort niemandem bekennen konnte: die Sehnsucht nach jenen handfesten Jungen, die trotz so vieler Gesetze, die erlassen worden waren, um sie zu vernichten, immer mehr wurden, überall, zum Greifen nahe und unentrinnbar. Was für eine Maske, was für einen Ausdruck von Gleichgültigkeit, Verachtung oder unverdächtiger Kumpelhaftigkeit muss man ihnen zeigen, damit der, der mich überwacht, sich geschlagen gibt und nicht in seinem Notizbuch vermerken kann: »schwul« … Dabei wusste er, dass nur, wenn er sich einem dieser männlichen, jungen Körper hingab, die Furien in ihm ein wenig Frieden finden konnten; doch sein Wille, der noch stärker war als seine Tragödie oder sein mögliches Glück, erlaubte ihm, sich den verheißungsvollen, sogar den unzweideutigen, höchst gefährlichen Gesten gegenüber im Zaum zu halten, den Angeboten, die manchmal die Wagemutigsten oder die als Lockvögel eingesetzten Polizisten machten. Doch es genügte nicht einfach, jede verdächtige Verbindung mit einem jungen Mann, der ihn kompromittieren könnte, zu vermeiden, er musste diese Haltung auch in der Praxis demonstrieren und der Öffentlichkeit beweisen. Und so kam es, dass Ismael Bräutigam (schon das Wort kam ihm lächerlich vor) von Elvia wurde und ein paar Monate später Ehemann (und dieses Wort nun war für ihn völlig unannehmbar) der Frau, die ihn zu vergöttern schien. Was für eine Einsamkeit, gerade als man ihn glücklich wähnte, was für ein Liebesbedürfnis, als alle, selbst seine Frau, dachten, er lebe die vollkommene Liebe, was für eine Anstrengung – und nie durfte es nach einer Anstrengung aussehen –, sie zu umarmen und sie wie ein richtiger Mann zu besitzen, sie zu befriedigen und dabei Lust vorzutäuschen, ohne dass sie auch nur im Geringsten verstand, wie sehr auch ich einen Körper brauchte wie den, den sie umarmte … Doch in den Augen vieler waren die Dinge immer noch nicht endgültig geregelt – dabei hatte Ismael schon einen kleinen Posten in der Bürokratie inne –, in den Augen der Kaderleiterin zum Beispiel oder des Verwalters; in den Augen fast aller, dachte er, bin ich noch ein unsicherer Kantonist; sie können glauben, sagte er sich, dass diese Hochzeit mit langem Brautkleid, Torte, Foto und der ganzen versammelten Familie nichts weiter als Fassade war, eine stillschweigende Übereinkunft, eine Scheinheirat, und dass ich in Wirklichkeit nicht der bin, der ich vorgebe zu sein. So machte er ihr, um alle Erwartungen zu erfüllen, ein Kind. Und zwei Jahre lang schien die Familie ein friedvolles Leben zu führen. Ismael verspürte schließlich sogar echte Zuneigung zu Elvia. Und sie, ohne darum groß Aufhebens zu machen, liebte ihn von ganzem Herzen. Vielleicht, dachte Ismael, um sich zu trösten, geht es den anderen genauso, und auch sie müssen sich bezwingen, sich im Zaum halten, immer die Regeln beachten, immer Versteck spielen, dürfen nichts riskieren, nicht sein, und das stets im Wissen darum, dass es kein Entrinnen für uns gibt, sollten wir es doch einmal wagen; ein Spiel, ein Spiel, ein grauenvolles, aber unabänderliches Spiel, denn wenn das Leben eines nicht verzeiht, dann dass wir es leben. Und in diesem Stadium der Verzweiflung, wenn die Verzweiflung selbst in der Vielzahl der täglichen Pflichten (Kind, Arbeit, Schlangestehen, Wachdienst) untergeht und vergessen wird, vergaß er nach und nach auch fast diese Einsamkeit, dieses Begehren, dieses Verlangen, von seinesgleichen gestreichelt zu werden, oder es wurde langsam ausgelöscht vom neuen Fernseher, für den wir vom Betrieb eine Kaufberechtigung erhielten, von der Wohnung, die uns endlich zugewiesen wurde, nahe am Meer, wo ich meine ganze Kindheit verbracht hatte, vom Geburtstag Ismaelitos oder von der Aussicht, in ferner Zukunft vielleicht die Kaufberechtigung für ein Auto zu bekommen … Eines Tages aber wollte Elvia ihre Familie in der Provinz besuchen, sie hatte den Wunsch, Ismaelito den Verwandten zu zeigen (der Junge war sehr hübsch), hatte den Wunsch, wenn auch vielleicht nicht bewusst, irgendwo einmal für sich allein zu sein, und so fuhr sie für eine Woche zu ihren Eltern. Den ersten Tag verbrachte Ismael eingesperrt zu Hause, ohne dass er etwas mit sich anzufangen wusste. Er war nicht mehr der verschlossene Junge, der am Strand von Marianao herumstromerte, im Vorübergehen irgendein Gespräch aufschnappte, verstohlen einen Körper betrachtete, ohne jedoch mit jemandem seine Lust zu teilen, ohne sich von den anderen entdecken zu lassen. Er machte sich mehr schlecht als recht etwas zu essen und legte sich schlafen. Am Morgen wachte er auf und war sich nicht mehr sicher, ob da außer ihm noch jemand wohnte, bis er begriff, dass er auch nicht mehr der Jugendliche in seinem kleinen Zimmer war – wenigstens ein Zimmer für sich, mit seiner grenzenlosen Einsamkeit, wenigstens für sich. Und als er sich umsah in der von Elvia so untadelig in Ordnung gehaltenen Wohnung – Möbel, Sofakissen, Zimmerpflanzen, alles mit viel Mühe beschafft (auch einen aus leeren Streichholzschachteln gebastelten Vorhang gab es) –, da verspürte Ismael Schmerz, nicht den um sich, der war immer da, sondern um sie, um Elvia; ihr ganzes Dasein, ging es ihm durch den Kopf, einem Menschen gewidmet, den es nicht gibt, ein Leben für jemanden, der nicht existiert, eine Liebe zu jemandem, der nicht existiert, Frau und Kindesmutter eines Schattens. Er verspürte nicht nur Mitleid mir ihr, und natürlich mit sich selbst, ich fühlte mich einfach hundeelend und feige, weil ich sie in diese Farce hineingezogen hatte, aus der er jetzt nicht mehr herauskam. Aber ist sie nicht, sagte er sich, trotz allem glücklich mit mir, bin ich etwa nicht treu, absolut treu in jeder Hinsicht? Sie hat sich niemals beschwert, und ich habe ihr auch keinen Anlass dafür gegeben. Ich bin, dachte er und konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, ein idealer Ehemann. Dann ging er hinaus auf die Straße, auf diese sonnigen Gassen zwischen Sand und Holzhäusern, hinter denen das Meer toste. An einer Ecke dort stand, versunken in seiner Teilnahmslosigkeit, ein junger Mann, einer der zahllosen Jungen, die dem Meer selbst entstiegen zu sein schienen, bot sich an, ohne sich anzubieten, rief ihn, ohne ihm auch nur ein halbes Wort zu sagen. Komm, komm, jetzt gleich, komm her … Ja, ich weiß, andere werden bestimmt sagen, sie haben dasselbe gefühlt oder etwas Ähnliches, aber was ich fühlte, war eben darum einmalig, weil es mein Gefühl war. Und dieses Gefühl sagte mir, dass dieser Junge auf mich wartete, dass diese Art zu lächeln, als ich an ihm vorbeiging, diese Art, an die Ecke gelehnt die Beine noch weiter vorzuschieben, dass all das mir galt, mir bestimmt war, vielleicht schon seit Urzeiten, ausschließlich mir, und dass dieser Augenblick aus vielerlei Gründen, darunter die Abwesenheit Elvias und des Kindes und die plötzlich leere Straße, mein Augenblick war, dass es vielleicht der einzige in meinem ganzen Leben sein würde, der ausschließlich mir gehörte. Ich weiß, ich weiß, ich weiß, dass es nicht so ist. Aber es ist so … Ismael grüßte den jungen Mann, der gab ihm völlig ungezwungen die Hand und sagte, er heiße Sergio. Sie liefen ein Stück unter den Kolonnaden. Sergio fragte ihn, ob er aus Santa Fe sei. Ismael konnte nicht Nein sagen und zeigte sogar zu der Straße, wo seine Wohnung war. Sergio fragte, ob er allein wohne. Ja, ich bin gerade allein, sagte Ismael. Es ist gleich um die Ecke, fügte er hinzu. Und sie gingen beide in die Wohnung hinauf. Es gab kein langes Vorgeplänkel, keinerlei Bemerkungen oder Fragen. Sergio war nicht Sergio. Er war eine Erscheinung, eine Entschädigung, wie aufgespart von der Zeit, vielleicht von den Göttern oder wenigstens einem einzigen, barmherzigen Gott, von einer heiligen Schwuchtel Gottes, von jemandem, der trotz allem wollte und dafür sorgte, dass man nicht ganz und gar unglücklich war. Und als Ismael ihm das Hemd aufknöpfte, da wusste er, dass dieser junge Mann keine Erscheinung war, sondern etwas Greifbares und zugleich Unbeschreibliches: ein wirklicher Körper, ein junger und schöner Körper, den es danach verlangte, sich zu verschenken. Sie liebten sich heftig, als hätten sie beide (auch Sergio) qualvolle Wege erzwungener Enthaltsamkeit hinter sich. Aneinandergepresst wälzten sie sich auf der von Elvia selbst gestrickten Bettdecke, zwischen den gestärkten und von Elvia auch geplätteten Laken; sie fielen hinunter auf den Fußboden und umarmten sich wieder und gehörten einander unter lustvollem Stöhnen, stießen dabei an Ismaelitos Kinderbett, das fortrollte, bis es gegen den Zimmerspiegel stieß, der die nackten Körper zeigte. Und so, die Körper aneinandergeschmiegt, blieben sie auf dem Fußboden liegen. Es ist nicht Entschädigung oder Befreiung aus tiefster Not, dachte Ismael (sein Kopf lag noch auf dem Bauch des Jungen), es ist das Glück, etwas, das sich nie wiederholen wird und auch nicht wiederholen muss, das sich im Gegenteil niemals wiederholen soll, damit es für alle Zeit das Glück bleibt. Langsam schob Sergio Ismaels Kopf von seinem Bauch, und immer noch erregt, wie zum Beweis seiner achtzehn Jahre, die er, wie er erzählt hatte, jung war, zog er sich an und ging mit einem eiligen Abschiedsgruß fort. Nackt, auf dem Fußboden, zwischen ein paar Kissen ausgestreckt, blieb Ismael allein im ehelichen Schlafzimmer zurück und genoss noch einmal die Szene, die er gerade erlebt hatte, genoss sie jetzt noch mehr als in dem Moment, als er sie erlebte. Bis er hörte, wie jemand laut an die Tür klopfte. Einen Augenblick noch blieb Ismael gedankenverloren auf dem Boden liegen. Doch die Rufe wurden stärker, und da er dachte, es sei vielleicht eine Nachbarin, die Elvia um etwas bitten wollte, eine Tüte Kaffee oder einen Löffel Fett, legte er sich die Bettdecke um und ging aufmachen. Vor der Tür stand Sergio, an seiner Seite zwei Milizionäre mit Armbinden, die Vorsitzende des Komitees zur Verteidigung der Revolution und dahinter ein Polizist. Ich weiß nicht, wie lange ich so auf dem Fußboden lag und die von Elvias Händen genähten Kissen umarmte und immer nur dachte, oder vielmehr (weil man in diesem Moment nicht denkt) fühlte: das Glück, das Glück, das wahre Glück, viel größer noch, viel größer noch, je mehr die Zeit vergeht und nur die Erinnerung bleibt. Nein, ich weiß nicht, wie lange ich so dalag, vielleicht gerade nur so lange, wie der Junge gebraucht hatte, die Polizei zu holen und an die Tür zu klopfen, und er zeigte auf den eingewickelt in der Bettdecke vor ihm stehenden Ismael und sagte: Das ist er, dieser Herr hat mich zu sich eingeladen und ist mir sofort an den Schwanz gegangen. Nein, ich weiß nicht, wie lange ich so dastand, ohne etwas zu sagen, mit der Bettdecke, die mich bis zu den Knöcheln verhüllte, vor mir der Junge, der hasserfüllt auf mich zeigte, dahinter die Vorsitzende des CDR, die Ismael anstarrte und plapperte, ich hab’s ja gewusst, ich hab’s ja gewusst, und im Hintergrund der Polizist, die Hand an der Pistole, falls Ismael auch nur den geringsten Fluchtversuch unternehmen sollte. Wie lange, wie lange, wie lange stand ich so da? Mein ganzes Leben, mein ganzes Leben, von dem Augenblick damals bis jetzt, vor dem Schnee, von dem Augenblick damals, bis ich hier sterben und unter dem Schnee verfaulen werde (oder auch nicht). Lange konnte es jedenfalls nicht gewesen sein, denn der Junge, der in der Nachbarschaft wohnte und aus einem klassenbewussten Elternhaus kam, wiederholte hastig noch einmal seine Anschuldigung; zu allem Überfluss stand Ismael halb nackt da, lieferte so den Beweis seiner moralischen Verworfenheit, und außerdem waren da noch das zerwühlte Bett, die auf dem Fußboden herumliegenden Laken und in der Luft ein Geruch nach Sex, nach einem eben erst beendeten Liebeskampf. Die CDR-Vorsitzende, Herrin der Lage, erfasste alles mit einem Blick, anscheinend noch bevor sie in der Wohnung war, und trat energisch auf Ismael zu … Es war ein Riesenskandal in ganz Santa Fe. Wenn das ein anderer gemacht hätte, ein gewöhnlicher Homo, ein Schwuler, jemand, von dem man wusste, aber Ismael, er, der sogar das CDR-Studienjahr leitete, ein Mann, der so ernsthaft, so moralisch, der so sehr Mann zu sein schien, und das dann auch noch mit einem Kind, einem Jungen aus guter Familie, der gerade erst, wie er selbst angegeben hatte, siebzehn Jahre war – eins weniger, als Ismael noch im Ohr hatte. Sogar die gewöhnlichen Schwuchteln, jene, die den Preis für ihre Offenheit bezahlten, nahmen die Gelegenheit wahr, sich zu distanzieren und ein bisschen für ihren Ruf zu tun, brächten sie es doch, wie sie beteuerten, niemals fertig, einen Minderjährigen zu vergewaltigen (inzwischen sprach man schon von Vergewaltigung). Aber all dieses Gerede malte ich mir erst in der Gefängniszelle aus, hinter Schloss und Riegel. Als ich dort eingeliefert wurde, als man mich wie einen gemeingefährlichen Verbrecher einsperrte, verspürte ich sogar so etwas wie Erleichterung, wie Erlösung. Wenigstens, sagte ich mir, ist jetzt alles vorbei. In Wirklichkeit aber war für Ismael noch längst nicht alles vorbei, im Gegenteil, es fing erst richtig an. Der Tag der Gerichtsverhandlung kam, und kahl geschoren und in Handschellen wurde er dem Provinzgericht von Havanna vorgeführt. Unter Bewachung musste er auf der Anklagebank Platz nehmen, wo ein massenhaft erschienenes Publikum ihn sehen konnte, tatsächlich fast ganz Santa Fe (einige Nachbarn kamen als Belastungszeugen). Unter diesen Zuschauern saßen in der ersten Reihe Elvia und Ismaelito, die ihn beide unverwandt ansahen (sogar das Kind, das erst zwei Jahre war), nicht mit Hass, nicht mit Verachtung, sondern voller Mitgefühl, mit echtem Schmerz. Und das war noch unerträglicher … Die Sekretärin des Gerichts verlas atemlos die Anschuldigungen: Verführung Minderjähriger, versuchte Vergewaltigung von Personen an einem geschlossenen Ort, dazu eine Reihe weiterer Paragrafen, die das Verbrechen noch schwerwiegender machten. Als der Kläger aufgerufen wurde, Sergio also, erhob sich dieser, korrekt gekleidet in seiner Oberschüleruniform; selbst seine Haare, vorher zerzaust und ungebändigt, klebten jetzt pomadisiert am Kopf. Seine Aussagen waren kurz und überzeugend. Dieser Herr – er zeigte auf Ismael – hatte ihn zu sich nach Hause eingeladen, um ihm ein Buch zu leihen. Er ging mit, und als er in der Wohnung war, stürzte sich der Angeklagte auf seinen Hosenschlitz. Als der Vorsitzende des Gerichts, feierlich in seiner langen Robe, Sergio fragte, hat er dir einen geblasen, oder hat er dir keinen geblasen?, konnten sich ein paar Leute im Publikum das Lachen nicht verkneifen. Sergio wurde rot und sagte, nein, Ismael habe es versucht, er aber sei ein Mann und habe ihm einen Kinnhaken gegeben. Danach habe Ismael auch versucht, ihn zu schlagen und ihm Gewalt anzutun, es sei zu einem kurzen, heftigen Kampf gekommen, er sei geflohen und habe die Polizei gerufen. Schließlich sagte der Vorsitzende des Gerichts zu Sergio, seine Anwesenheit sei nicht weiter erforderlich. Als er den Saal verließ, drehte sich der Junge noch einmal um, blickte Ismael fest in die Augen, und unmerklich für die Zuschauer, nicht aber für Ismael, lächelte er ihn an. Dann ergriff der Verteidiger das Wort, ein alter und, wie es aussah, ehrlicher Anwalt aus einer Kollektivkanzlei, den Elvia mit der Vertretung Ismaels beauftragt hatte. Er legte dem Gericht alle Urkunden, Gutscheine und Prämien vor, die Ismael für seine zahllosen freiwilligen Arbeitseinsätze in der Landwirtschaft bekommen hatte. Meine Damen und Herren, sagte er und hob die Stimme, es ist dies ein Mann, der an sieben Volksernten teilgenommen hat, sogar an einer Millionenbrigade, sein revolutionäres Bewusstsein ist untadelig. Hier allerdings unterbrach ihn der Staatsanwalt: Wie könne er jemanden Mann und Revolutionär nennen, der, wofür es einen direkten Zeugen gebe, eines Akts widernatürlicher Unzucht angeklagt sei? Und der Vorsitzende des Gerichts forderte den Verteidiger auf, sich darauf zu beschränken, konkrete Entlastungsbeweise zur Sache vorzubringen. Dieser fuhr fort, der Angeklagte könne nicht der Vergewaltigung beschuldigt werden, da es, wie durch die Worte des Anklägers selbst hinlänglich bewiesen, offenkundig überhaupt keine Vergewaltigung gegeben habe, man könne Ismael auch nicht der Verführung Minderjähriger beschuldigen, da es zu einer Verführung gar nicht gekommen sei, und außerdem – und bei diesen Worten schwenkte der Verteidiger ein Blatt Papier – habe der Jugendliche, obwohl er behaupte, siebzehn Jahre alt zu sein, bereits das achtzehnte Lebensjahr vollendet, und für seine Beschuldigungen gebe es keinen einzigen Tatzeugen, weshalb die Verteidigung schlussendlich darum bitte, den Angeklagten freizusprechen. Der Staatsanwalt aber stellte klar, dass in Übereinstimmung mit dem geltenden Gesetzbuch zum Schutze der Gesellschaft in Fällen sexueller Perversion für Verhaftung und gerichtliche Verurteilung das Zeugnis des Opfers genüge, er setzte die Brille auf und zitierte den entsprechenden Paragrafen. Dann ließ er die CDR-Vorsitzende und den Polizisten, der Ismael festgenommen hatte, aufrufen, und beide bezeugten, dass der Angeklagte nackt gewesen sei und es überall im Zimmer unübersehbare Spuren eines Kampfes gegeben habe. (An dieser Stelle drang das Gelächter des Publikums bis an die Ohren Elvias und Ismaelitos und natürlich des Angeklagten.) Kurz und gut, meine Damen und Herren, es handelt sich hier um eine vollendete Verführung Minderjähriger und um eine versuchte Vergewaltigung, auf die der Jugendliche, ein klassenbewusster Schüler aus revolutionärem Elternhaus, eine mannhafte Antwort gab, indem er dem Täter einen gehörigen Faustschlag versetzte; auch die Faust der Justiz möge niedergehen auf diesen Menschentyp ohne Skrupel und ohne Moral, der nicht einmal Achtung vor seiner eigenen Familie hat, weder vor seiner Frau noch vor seinem kleinen Sohn. Ich fordere daher eine exemplarische Strafe in Übereinstimmung mit Gesetz und Ethik unserer revolutionären Gesellschaft … Am Ende gab es Beifall. Ich weiß, dass es Beifall gab, als der Staatsanwalt seine Rede beendete. Dann befahl man mir aufzustehen. Ein paar Pfiffe waren zu hören. Die Verhandlung ist damit beendet, das Gericht wird über das Strafmaß beraten, sagte der Vorsitzende unter dem Geschrei der Menge, die Ismael beschimpfte, ein paar versuchten, mich zu ohrfeigen, unter den Blicken Elvias und Ismaelitos. Von dort wurde ich in das Gefängnis von El Morro überführt und in eine Zelle mit zweihundertfünfzig gewöhnlichen Kriminellen gesteckt, die wegen der unterschiedlichsten Straftaten verurteilt waren. Das reichte von der Fälschung eines Zuteilungshefts für rationierte Waren bis zur Erdrosselung der Ehefrau oder der Mutter. Offensichtlich verbreiteten die Wachen, die Ismael begleiteten, unter den Häftlingen, wofür er verurteilt worden war, denn sofort nachdem er in die Zelle kam, erhielt er den Spitznamen Milchkalb – wegen der Meisterschaft, wie die erfahrensten Häftlinge sagten, mit der Ismael Schwänze lutschte. Fest steht aber, dass Ismael, umgeben von zweihundertfünfzig Männern, die alle versessen darauf waren zu bumsen, geradezu heroisch jedweden sexuellen Kontakt vermied und sich trotz der damit verbundenen Gefahren für das eigene Leben auf nichts einließ. Die Häftlinge hielten ihn darum für verrückt, und die Argumente, die sie ins Feld führten, waren einleuchtend: Wenn er sich jetzt öffentlich weigerte zu tun, was er als Familienvater getan hatte und wofür er verurteilt worden war, nämlich mit den Kerlen zu ficken, war das lediglich der Beweis, dass er eben auch im Kopf nicht normal war. Und mit dieser neuen Zuordnung blieb Ismael oben auf seiner Pritsche am Ende des Ganges fast regungslos liegen, bis ihm das Strafmaß mitgeteilt wurde: »Drei Jahre Freiheitsentzug wegen Unzucht mit Personen.« Ja, mit Personen, weil man anscheinend, und so war es, tatsächlich auch für Unzucht mit Tieren oder sogar mit Dingen verurteilt werden konnte … Obwohl Ismael nie zu dem Platz ging, wo man Besuch empfing (ein mit Stacheldraht eingezäuntes Gelände neben dem Gefängnis), befahl ihm eines Tages ein Wächter mitzukommen. Ismael wusste zwar nicht, was man von ihm wollte, ging aber. Man brachte ihn zu dem Gelände, wo die Häftlinge mit ihren Familienangehörigen waren. Unter ihnen war auch Elvia, eine Tasche in der Hand und auf dem Arm das Kind. Der Tumult, den die zweihundertfünfzig Häftlinge und fast fünfhundert Besucher veranstalteten, verstummte. »Da ist die Frau von dem Homo«, sagte jemand. »Muss ja eine dolle Lesbe sein«, sagte eine andere Stimme. »Und mit dem Kind, so was Schamloses …« Aber auch diese Bemerkungen hörten irgendwann auf. Elvia sah ihren Mann, kahl geschoren und in blauem Drillich, setzte die Tasche ab und umarmte ihn. So ein harter Stoff, sagte sie, während sie ihm den Kragen der Uniform in Ordnung brachte, und das bei der Hitze … Sie legte den Kopf an Ismaels Brust und weinte, bis dieser »so harte Stoff« ganz nass war, während das Kind, vielleicht aus einem Nachahmungstrieb heraus oder weil der Anblick so vieler Menschen es erschreckte, ebenfalls weinte. Nimm die Tasche, nimm den Jungen und komm nie wieder, sagte Ismael, während er sie noch umarmte. Ich hatte nicht gedacht, dass du kommen würdest, ich sage gleich dem Wachoffizier, dass ich keinerlei Besuche wünsche, hast du gehört? Ja, ja, sagte sie, ohne ihn...

Inhaltsverzeichnis

  1. Über dieses Buch
  2. Erste Reise: Pech gehabt, Eva
  3. Zweite Reise: Mona
  4. Dritte Reise: Reise nach Havanna
  5. Impressum