Rosa
eBook - ePub

Rosa

Roman in zwei Erzählungen

  1. 140 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Rosa

Roman in zwei Erzählungen

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

"Rosa" beschreibt in zwei Erzählungen den Weg einer kubanischen Familie zur Zeit der Revolution.In der ersten schildert Reinaldo Arenas die turbulente Entwicklung der einzelnen Familienmitglieder, ihre persönliche Geschichte, die eng mit der Kubas verwoben ist. Am Anfang steht die Katastrophe: Ein alles verschlingendes Feuer vernichtet eine Finca, inmitten dieser apokalyptischen Szenerie eine alte Frau - "La vieja Rosa", die kurz vor ihrem selbst gewählten Flammentod ihr Leben an sich vorbeiziehen zieht. Es ist die Geschichte eines schleichenden Verlustes. Nach und nach verliert Rosa alles: ihren Mann durch Selbstmord; Armando, ihren ältesten Sohn, an die kubanische Revolution; ihre Tochter Rosa, die gegen ihren Willen einen Schwarzen heiratet; ihre Farm an die Kooperative; und zu guter Letzt ihren Lieblingssohn Arturo an einen anderen Mann, mit dem sie ihn nackt im Bett findet.Rosas traditioneller Lebensraum bricht zusammen, es gibt kein Zurück mehr in die "heile" Welt. Der Kreis schließt sich: Am Ende steht der Feuertod. Obsession und Angst, Erfüllung und Verlust bestimmen dieses scheinbar unausweichliche Schicksal in einer Mischung aus Entwicklungsroman und spannungsreicher Abenteuerstory.Die zweite Erzählung "Arturo, der hellste Stern" knüpft an dieses Schicksal an. Nach der Beerdigung seiner Mutter treibt sich Arturo an den einschlägigen Plätzen Havannas herum. Er wird festgenommen und in ein Gefangenenlager verbracht. Um zu überleben, um sich "ein Fenster zur Freiheit zu öffnen", schreibt er seine poetisch-mythologischen Fantasien nieder, die sein eigenes Leben spiegeln wie auch die Realität des Lagerlebens im kommunistischen Kuba.Von Reinaldo Arenas außerdem in der Edition diá: Engelsberg. RomanISBN 9783860345283Der Palast der blütenweißen Stinktiere. RomanISBN 9783860345290Reise nach Havanna.Roman in drei ReisenISBN 9783860345191Wahnwitzige Welt. Ein AbenteuerromanISBN 9783860345306

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Rosa von Reinaldo Arenas, Klaus Laabs im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Literature & Literature General. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2013
ISBN
9783860345207

Arturo, der hellste Stern

Für Nelson, frei in der Luft
»Ich habe einen Ort gesehen, in weiter Ferne, bewohnt von königlichen Elefanten«, hatte er vor einigen Jahren geschrieben, nicht vielen, als er noch glaubte, dass eine Gruppe von Zeichen, dass der Rhythmus angemessen beschriebener Bilder, dass die Wörter ihn vielleicht retten könnten … und nun ließ er die Elefanten herabsteigen und stellte diese sanftmütigen, mit Händen zu fassenden Riesen an das Ende der weiten Ebene, dorthin, wo sein großes Werk begann; denn auch wenn es stimmte, dass er sich früher schon geübt hatte und dass er seit Langem schon keine freie Minute verstreichen ließ, in der er sich nicht der Erschaffung eines mächtigen Baumes, eines schillernden Steines, eines Wassers ohne Wachtposten oder eines Antlitzes widmete, so nahmen doch erst jetzt all diese Anstrengungen einen höchsten Zusammenhang an und liefen auf ein klares und bestimmtes, einziges und großes Ziel zu; auf geheimnisvolle Weise fügten sich so die Gedanken, sie kamen, und er ordnete sie, verwarf die nichtssagenden oder immer gleichen, die hässlichen oder traurigen Bilder, die er täglich mit ansehen musste und die sicherlich sie, die anderen, die Übrigen, alle auf seine Erinnerungen und Träume losließen, nur um ihn fertigzumachen, nur um ihn fertigzumachen, weil sie sein Werk vereiteln wollten, weil sie ihn daran hindern, ihn verwirren, ihn in die Irre führen, weil sie ihn unterkriegen wollten, ihn in ihre Dummheit, ihre Beschränktheit, in die Welt, in ihre Welt, in das Leben, in ihr ekelhaftes Leben hineinzwängen wollten; aber sein ganzes Denken, all seine Kräfte, jede Bewegung, der ganze Organismus und sein Wille, alle Sinne waren gespannt, rein, wach und rege, bereit, aufzunehmen und abzustoßen, zu gebrauchen und zu verwandeln, zu opfern, damit das große Werk, das sie in sich trugen, gelang; und schon spürte er von Neuem, von Neuem dieses früher (früher) nie gespürte und dennoch, ohne zu wissen, woher, gekannte Brennen, es war ein Kitzeln, ein Kribbeln, es war, als würde er plötzlich emporgehoben und hochgehalten werden, als würde er schweben (noch einmal, noch einmal), und in diesem luftleeren Raum stieg er auf, er stieg höher und immer höher, gelenkt, befreit durch die Impulse seines Geistes, der ein solches Maß, eine solche Geschmeidigkeit annahm, dass er sich schon von seinem übrigen Wesen, seinem Organismus, den Werkzeugen, die er brauchte, um Gestalt anzunehmen, seinem eigenen Gehirn sogar abgelöst zu haben schien; es war, als würde jemand, er selbst, und doch nicht er, unbegreifliche Bewegungen machen und damit eine Klage, eine Freude, eine Lebensfülle hervorrufen, vor einem zeitlosen Publikum einen Rhythmus, ein Lied, eine Melodie anstimmen, die einzige, wunderschöne Melodie, von der alle schon immer geträumt, die sie mit heimlichem Schrecken und Glück erwartet hatten, und er sah sich, wie er diese Wunder vollbrachte, sah ihn … und fast befiel ihn Entsetzen bei dem Gedanken, dass auch er ein Werkzeug sein könnte, ein simples Gerät, und dass das große Lied, die große Schöpfung, das Werk unbeirrbar entstünde und weiter entstehen würde, dass es da wäre und ihn einfach nur benutzte, wie es irgendjemanden sonst hätte benutzen können, wie es auch seine Interpreten benutzte, jene, die sich darin beschieden, es auszuführen, damit es seinen Platz auf der Welt einnähme, damit es sich offenbarte und von Zeit zu Zeit Zeugnis ablegte von einer unveränderlichen, unüberwindlichen Ewigkeit, jetzt, in ebendiesem Augenblick einen einfältigen, unwissenden Boten gebrauchend, zu dem das unermessliche Grauen und auch der Zufall ihn bestimmt hatten … und insgeheim spürte er, dass er noch im erhabensten Augenblick seines Daseins, in dem Augenblick, der es rechtfertigte, selbst dann noch, jetzt noch das Opfer eines Betrugs war, ein Sklave; aber konnten nicht womöglich sie es sein, die ihm mit aller Gewalt, mit der ihnen eigenen böswilligen Beharrlichkeit, der einzigen wahrhaft menschlichen Beharrlichkeit, diese Zweifel einzuflößen suchten?, sie mit ihrem endlosen, unnützen Gerede, mit ihrem übertrieben femininen, gezierten und grotesken Getue, sie, die alles herabwürdigten, die alles klein machten, selbst die verzweifelte Wut dessen, der Opfer des Schreckens, des Terrors wird, selbst das verbrauchte Ritual der Prügel, der Fußtritte in den Hintern und der Schläge ins Gesicht; sogar das Zeremoniell einer Erschießung machten sie zum Klamauk aus gekünstelten Worten, Posen und billigen Witzen; sie, die das Ausmaß der Tragödie, der ewigen Tragödie der Unterwerfung, ihres eigenen ewigen Unglücks auf einen schrillen Krakeel schrumpfen ließen, für die alles nur ein Gaudi war, gerade gut genug für ein Gekicher, einen koketten Wimpernaufschlag, eine Grimasse, ein Flügelflattern mit den Händen oder die vulgäre Parodie irgendeines klassischen Tanzes; sie, die sich das Gesicht schminkten mit allem, was ihnen in die Finger kam, die sich Perücken aus Palmfasern und Agavenblättern bastelten, die mit Geschick aus den bewachten Lagerschuppen Jutesäcke entwendeten und daraus Miniröcke schneiderten und die in der Nacht ihre ungestillten Sehnsüchte erniedrigten mit ihrem Gekreische, ihrem albernen Jargon, ihren albernen exhibitionistischen Gebärden, ihren Masken, die sie schon so lange trugen, dass sie zu ihren eigenen Gesichtern geworden waren … wer schon hielt dort für ein paar Augenblicke inne, um nachzudenken?, wer nutzte die immer seltener werdenden Gelegenheiten, um fortzulaufen, zu fliehen? … ihretwegen also, der »Schwestern« wegen, hatte er sich entschlossen, sich über alles zu erheben … oder es konnten auch die anderen sein (er hatte drei Kategorien aufgestellt: sie, die anderen und die Übrigen), die anderen, die ihnen im Nacken saßen, die aufpassten, die sich für etwas Besseres, für Auserwählte, für rein hielten und sich damit brüsteten, ohne sich dessen allzu sicher zu sein, mit niemandem sonst etwas gehabt zu haben oder zu haben als mit Frauen, Weibern mit dicken Titten, so, so und nicht anders, Frauen mit eitrigen Löchern, Fotzen, die, wenn man in sie eindrang und das Ereignis publik machte, den anderen und auch den Übrigen (alle waren sie äußerst exhibitionistisch) ein Vertrauensvotum, eine höhere Stellung und das Recht zum Beleidigen verliehen; ja, es konnten auch die anderen gewesen sein, die Überlegenen, die in Uniform, die jetzt das Kommando hatten und die Waffen, die einen eigenen Jargon sprachen (einen anderen, genauso widerwärtigen Jargon) und alle Transportmittel besaßen, alle Jeeps, Autos, Lkws, Omnibusse und grünen Motorräder, genauso grün wie ihre Uniformen, die Kommandeure oder, schlimmer noch, die Delegierten der Kommandeure, die Gewalttätigen, die sich kraftvoll den Sack kraulten und sie dabei anschrien »im Laufschritt, schwule Säue«, auch die anderen konnten es gewesen sein, die ihn dazu getrieben hatten, sich über alles zu erheben, Gott zu sein; und auch die vielen zuvor versuchten nutzlosen und verzweifelten Verstellungen, um zu überleben, hatten sein Unterscheidungsvermögen, sein Gespür und seine Angst geschärft, und nun, da gab es keinen Zweifel, war der Moment der großen Ichwerdung, der wahrhaftigen Begegnung gekommen, und alle Mühsal und Sinnlosigkeit einer erst oberflächlichen, dann versklavten, stets nutzlosen Existenz entschwand, endete vor dieser unermesslichen Freifläche, in der er inzwischen alle Elefanten an ihren Platz gestellt hatte und wo er jetzt einen Rosengarten anlegte, denn das Wirkliche, sagte er sich oder ahnte er, während er einen Zweig ausstreute, Laub eindunkelte und einen neuen Farbton schuf, liegt nicht im Schrecken, von dem man heimgesucht wird, sondern in der Fantasie, die ihn fortwischt, weil sie stärker, wirklicher ist als der Schrecken … noch war niemand da, noch kam niemand, noch hatte ihn niemand entdeckt, waren nicht die affektierten Stimmen der Schwuchteln zu hören, die in den Zellen, der Baracke, auf dem Feld immerzu tratschten und herumschrien und ihn daran zu hindern suchten, etwas Dringendes fertigzustellen – einen unvergleichlichen Sonnenschirm, eine einzigartige Wegbiegung –, auch die Soldaten suchten ihn noch nicht, und er dachte, dass er noch Zeit hätte, dass er noch die Zeit hätte, die er brauchte; bei anderen Gelegenheiten war jemand, ein Eindringling, niemals er, auf den er wartete, gekommen, bevor er ein prachtvolles Fenster fertiggestellt oder dem Wasser eines Flusses Farbe gegeben hatte, jetzt aber, heute, hatte er es verstanden, den Ort zu wählen, er hatte es verstanden zu entwischen, fortzulaufen, ohne gesehen zu werden, er hatte es verstanden, die Wache zu überlisten, das Lager zu verlassen, sich einen Platz zu suchen und dort auszuharren, nicht wie früher: in der Nähe und für kurze Zeit, sondern weit weg und allein, unabhängig, allein, bis er, der Erwählte, kommen würde, nur so lange allein, bis das große Werk abgeschlossen wäre, damit er, der Erwählte, schließlich bliebe; er hatte es verstanden, die Stelle zu wählen, zu fliehen und nun war es unmöglich, dass sie und die anderen und selbst die Übrigen – jene, die in einer anderen Hölle waren, in Dörfern und Städten, und die, in Zivil gekleidet, zahm wie die Ochsen, ängstlich und fast dankbar, auf den bewachten Gehwegen liefen, die übergroße Mehrheit also – dass sie kommen konnten, um ihn zu stören, und er hatte Zeit; sodass, wenn er gewollt hätte, Arturo sich den biblischen Luxus einer Verschnaufpause hätte leisten können, bevor er an seiner Schöpfung weiterarbeitete … doch es galt, keine Zeit zu verlieren, und da, nahe bei den Elefanten, ließ er große Säulen erstehen, die Gärten und hohe Säle tragen würden, wo er und er schlendern würden … in der Ferne verlief sich ein kleiner, von gelben Kräutern umworbener Pfad, und es war das Meer, das Meer und der Strand, die durch geflieste, feuchte Tunnel und Gänge, dann durch hohe, vom immerwährenden Duft der Blumen überflutete Fußwege mit dem Schloss verbunden sein würden, und als Arturo auf diesem Sand die große Freitreppe errichtete, die zu den königlichen Aussichtsgalerien führen würde, lächelte er … am Anfang war alles so grauenhaft, so klar und wahnwitzig gewesen, so offensichtlich nicht auszuhalten: die Beziehungen mit diesen gefangenen Schwulen (»Schwule wie du«, schrien sie ihn an), die gemeinsame Mahlzeit, das schreckliche gemeinsame Duschen und das Arbeiten in der prallen Sonne, die endlose Schinderei beim Zuckerrohrschneiden, während sich der Soldat am Ende der Feldschneise, gleichmütig, bedachtsam, selbstsicher und überlegen, als wäre er für die Ewigkeit dort hingepflanzt und ohne dass er vergaß, aufzupassen und Wache zu halten, versonnen den Sack kraulte, ihm, Arturo, zu Ehren, und er, schweißnass und ohne dass er aufhörte, die Machete zu schwingen und Feuerwirbel zu erzeugen, wenn seine Füße im raschelnden, prasselnden trockenen Blätterwerk versanken, einen kurzen Blick auf diese kräftige, unbeirrbar dastehende Gestalt warf, die wie unbewusst und instinktiv, wie für niemand anderen, wie ohne Absicht und Zweck diese unentrinnbare Handbewegung machte; dann versuchte Arturo – mit den Füßen im Strudel des krachenden Zuckerrohrs, über der Plantage die sengende Sonne, beim dumpfen Schlag seiner Machete, aller Macheten, während der Schweiß in Strömen seinen Körper herunterrann –, sich ganz dem Krachen, den Machetenschlägen unter der Sonne, dem ewigen Geschwätz, ob heute Wasser käme oder nicht, und dem unverwandten Blick, der unwiderstehlichen Geste des Soldaten hinzugeben, sich zu verwandeln und wie sie zu sein, ein zahmes oder wegen absoluter Belanglosigkeiten aggressives Tier, ohne Erinnerung und ohne Hoffnung auf die wichtigen Dinge (aber was war, was ist noch wirklich wichtig), und in einer oberflächlichen und bedrohlichen Gegenwart zu leben – erduldend, erduldend –; doch sosehr er sich diesen Höllen auslieferte, stets erreichte ihn inmitten des Getöses von Löffeln und Blechtellern oder aber in der Helle und dem Geraschel der Zuckerrohrpflanzung das leise, rhythmische Rauschen eines Wollbaumes, seines Wollbaumes, des Meeres … andere Male, wenn er in der Erde wühlte, um eine umgeknickte Zuckerrohrpflanze herauszuziehen, stieg Arturo ein Duft in die Nase, der Duft des Kirschbaums im Frühling dort; und die Feuchtigkeit, das Glänzen der Blätter oder manchmal ein kleines, winziges, fast unsichtbares Insekt mit purpurnem Panzer und ungeheuren violetten Fühlern riss ihn mit, trug ihn fort und setzte ihn ab an jenem Ort, an dem alle Erinnerungen, alle Gerüche und Laute und geliebten Körper zusammenkamen und von dem sie ausgingen – all das, was früher, als es geschah, etwas Alltägliches, ein natürlicher Akt gewesen war, unbewusst, zuweilen fast mit Überdruss ausgeführt, und auf den sich jetzt ein Glanz, eine Anmut, eine Schönheit, eine Beglückung legte, die der Abstand beschirmte und vergrößte … es gab keinen Weg hinaus, und sosehr er sich mühte, ein anderer zu werden, sich dreinzufinden und hier, in der neuen Hölle, tatsächlich da zu sein – hinter einem leeren Wassertank, hinter einem Zuckerrohrkarren, auf dem Weg, über dem das Flimmern grelle Luftspiegelungen erzeugte, neben einem Morast –, glaubte er doch in der Ferne eine große Veranda erkennen zu können, und immer wieder meinte er morgens beim Aufwachen statt des Geplappers der Köche die unwiederbringliche Stimme seiner Mutter zu hören; er schuftete weiter bei der Arbeit, ging weiter, wie alle, zur festgelegten Uhrzeit unter die Dusche, parodierte weiter die albernen Texte der von ihnen allen gesungenen Schlager, und wenn sie so in der Baracke in hysterischem Falsett durcheinanderschrien, war er es, dessen Stimme am höchsten kam, und wenn sie bei den verbotenen Festen Travestieshows veranstalteten, an denen die Soldaten, die dieses Verbot durchsetzen sollten, als begeisterte Zuschauer teilnahmen, war nun er es, der stets das skandalöseste Röckchen trug, der sich am stärksten schminkte, der die extravaganteste Perücke vorführte und am Ende das aufreizendste Couplet sang, wobei er dessen Anzüglichkeit durch Gesten, Wimpernaufschläge, Blicke und Grimassen noch verstärkte, und nach dem Fest machte der Soldat, der ihn auf dem Feld bewachte, dieselbe Handbewegung an die Hose, und sie verschwanden beide im Zuckerrohr; und selbst dann, wenn Arturo voller Hingabe alles tat, um dem Soldaten Lust zu verschaffen, und noch wenn er die Gewalt, die Freude dieses Körpers in seinem Körper spürte, löschte das in seinem Gedächtnis nicht die Kletterpflanzen an der Veranda aus, das Geflimmer und den Duft ihrer Millionen Blüten, die hinauf bis an das Dach des Hauses reichten … da war ein Leichenbegängnis, ein Leichenbegängnis, und er, weiß gekleidet, vorneweg, an der Spitze des Trauerzuges; er allein hinter dem schwarzen Wagen, der dank dem Einfluss seines Bruders Armando bis an jene Stelle heranfahren durfte, und jetzt erinnerte er sich bis ins Kleinste an alles, und es war noch wirklicher als in dem Moment, da es passierte, weil das Geschehen nicht verunreinigt war von den Zufälligkeiten des Augenblicks, von seiner Unreife, seinem Exhibitionismus – ganz in Weiß, ganz in Weiß –, sondern, auf das Wesentliche gebracht, noch einmal von ihm durchlebt wurde, frei von Schlacke; er lief weiter hinter dem glänzenden Kasten her, der das rußige, gekrümmte Etwas der verkohlten Überreste des einzigen Menschen in sich barg, der ihn so sehr geliebt hatte, dass er ihn getötet, wenn er besser gezielt hätte und das Gewehr nicht in so schlechtem Zustand gewesen wäre; der Leichenwagen setzte seinen Weg fort, und dahinter er, ernst, lächerlich und traurig, klarsichtig genug, dank der Traurigkeit, zu begreifen, dass er in der Hölle lebte und dass es nichts anderes gab als diese Hölle; doch selbst da, selbst da waren noch die Bäume geblieben, irgendeine Zuflucht und die Übrigen, und später das Alleinsein, das Genießen der Einsamkeit, auch wenn er schon wusste, schon wusste … der Soldat entlud sich, wie stets, mit einem tiefen Seufzer, und wie immer sagte er, als er seinen Körper von ihm löste, warte, geh hier nicht weg, bis ich im Lager bin … Parks, es musste Parks geben, unermessliche, schattige Parks, die sich bis hin zum Horizont erstreckten, Parks, wo sich am Abend die schmalen Silhouetten der Palmen in den Fontänen brächen, in Springbrunnen, deren Dunst unablässig sich wandelnde Umrisse bildete, sodass wer sie von fern sähe, in ihnen jede ersehnte Gestalt entdecken könnte, Parks mit Blumenrabatten, duftenden kleinen Hügeln und Pfaden, die auch im Leeren verlaufen mochten, gigantischen Bäumen mit Luftwurzeln und weit ausladendem Dachwerk, unter dem er, der andere, sicherlich stehen bliebe, um auf ihn zu warten, Parks mit stillen Winkeln, wo eine Bank stünde und ein düsterer Baum, der für die Abende da wäre, an denen wir, um die Balance zu wahren, ein wenig Melancholie brauchen, und die ganze Freifläche bedeckte sich mit diesen rauschenden, gleißenden Gefilden … der Leichenwagen setzte seinen Weg fort, und dahinter er, und hinter ihm die Geschwister (und hinter ihnen die wenigen Nachbarn, die sich trauten, die alte Rosa auf ihrer letzten Reise zu begleiten); sobald sie von der Beerdigung zurückgekehrt waren, verließen sie die Gegend, Armando trug Sorge für Arturos Umzug in die Stadt, für seine angemessene Unterbringung, für sein Leben und seine Zukunft, all das, ohne ihn dabei anzusehen, mit einem Gesicht, das Überlegenheit, Gleichgültigkeit, Verachtung und Ekel ausdrückte; Rosa hatte ihn mehrmals umarmt, aber nicht deshalb, weil er, Arturo, es war, sondern weil er in diesem Moment der Einzige war, den zu umarmen ihr niemand verwehren konnte; Armando war schon wieder in den Genossenschaften unterwegs, und der Neger, wie alle den Mann von Rosa nannten, schien immer wütend zu sein und vor ihnen zu fliehen – vor allem vor den vorwurfsvollen, beleidigten Blicken der Nachbarn –; und Arturo ließ seine Schwester den Kopf an seine Brust legen, seinen Namen sagen und weinen, und er ließ sich von seinem Bruder in eine »Familienpension« bringen (so stand es auf dem Schild) und Geld geben und bei einer Schule anmelden und befehlen und verachten, obwohl am Anfang, damals, die Veränderung so jäh war, dass Arturo sie kaum in sich aufnehmen konnte; am Anfang war es, genauso wie hier, genauso wie jetzt, nicht der Lärm der Fahrzeuge, der ihn weckte, sondern das Quietschen der Rolle am Ziehbrunnen, aus dem sie, die alte Rosa, Wasser schöpfte, doch nach und nach entdeckte er, dass es leicht war, sich in jede Wirklichkeit einzufügen, wenn man sie nur nicht ernst nahm, wenn man sie stets insgeheim verachtete, und es gab überall eine Möglichkeit, sich auf und davon zu machen … eine Weihnachtskiefer, eine dieser großen Kiefern, die nur in den Gegenden wachsen, die er nie kennenlernen würde, in einem Klima (so glaubte er), das geschaffen war, um zu reden und geruhsam zu schlendern, in einem Klima (so glaubte er), das geschaffen war für das Lächeln und nicht für den Schweiß, in einem herrlichen Klima, wo (dessen war er sich völlig sicher) die edlen, die schönen Dinge keimten und gediehen; und die riesige Kiefer mit seidenen Zasern erhob sich auf der Freifläche – später einmal würden er und er ihre Zweige schmücken und unter ihrem Grün tanzen … seine erste Zuflucht waren die Bibliotheken, gewiss daher sein erster Trost, seine erste Kriegslist die Worte; verzückt wandelte er durch die Galerien, die übervoll waren von übervollen Regalen, er streckte eine Hand aus und zog ein Buch heraus; niemals übertraf das Lesen eines Buches jenen Augenblick, die Wonne, das Mysterium jenes Augenblicks, da er das ausgewählte Buch in die Hand nahm, noch ohne es zu öffnen; nach und nach fügte er sich ein, verlor sich in der Menge, ließ sich von der neuen Umgebung mitreißen; dort, im Musiksaal der Bibliothek, gab es eine Gruppe von jungen Schwulen, die ihn, kaum dass sie ihn erblickt hatten, immer offenen Auges, für sich gewinnen wollten; Arturo widerstand anfangs, flüchtete zwischen die Regale oder wich ihnen wie aus Verlegenheit aus, doch etwas in seinen Bewegungen, in seiner Abwehr und seinem Fliehen verriet ihn oder brach sich Bahn als sein wahres Wesen: wie sie, wie sie; wie sie, wie wir, sagten auch sie zu ihm, und unvermeidlich wurde er wie sie: die langen Nächte an den unerhörtesten Orten einer Stadt, bevor sie dem Verfall anheimgegeben wurde; ja, es gab noch Cabarets, Cafeterias, ein paar Feste, und es gab sogar noch Karneval, doch Arturo bemerkte, dass fast alle in der Vergangenheit sprachen, und was ihn in diesem Wirbel von unvollendeten Abenteuern, Gesprächen, Begegnungen und Beziehungen vielleicht am meisten überraschte (und ihn sogar faszinierte), war die Geschwindigkeit, mit der alles, selbst die Straßen, die Gesichter, die Zeit, verfiel, Risse bekam, verwitterte, Tag für Tag und immer mehr; eine Woche wurde ein Kino geschlossen, die nächste eine weitere Ware rationiert, die übernächste ein Lokal dichtgemacht, innerhalb eines Tages wurden sämtliche Bäume in der Straße gefällt, ohne jede Erklärung, ohne mit irgendjemandem ein Wort zu reden, und ungehindert brach die Helle herein, w...

Inhaltsverzeichnis

  1. Über dieses Buch
  2. Die alte Rosa
  3. Arturo, der hellste Stern
  4. Nachbemerkung des Autors
  5. Impressum