Kapitel IV
Viertes Ohr
1. Der Ripper mag keine Ravioli
Sie deckten den Tisch. Colombres gab bekannt, dass sie zu viert sein würden. Dass Fernando käme, sagte er.
»Der aus der Videothek?«, fragte Nelly.
»Ja«, bestätigte Colombres. Und augenzwinkernd fügte er hinzu: »Bestimmt bringt er dir einen mit Tom Cruise mit, den du noch nicht gesehen hast.«
Nelly war begeistert. Immerhin war das ein Punkt, wo sie ansetzen konnte. Sie sagte:
»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Colombres. Damit können wir anfangen.« Sie schaute Teresa an. »Nicht?«
»Ja«, bekräftigte Teresa.
Nelly schaute Colombres fest in die Augen. Sie atmete tief durch. Und sagte:
»Ich muss dir etwas gestehen, Colombres.«
»Gestehen?« Colombres war erstaunt. »Ich verhöre dich doch nicht.«
»Du verhörst mich nicht, aber ich gestehe.«
Colombres zuckte mit den Schultern. Nicht im Entferntesten ahnte er, was gleich auf ihn zukam.
»Na gut«, seufzte er. »Dann raus mit der Sprache.«
»Ich steh nicht mehr auf Tom Cruise«, gestand Nelly.
»Und das ist alles?« Colombres staunte weiter.
»Fürs Erste … könnten wir es dabei belassen«, schlug Teresa vor.
»Na dann, tut mir leid für Tom Cruise«, sagte Colombres etwas orientierungslos.
Nelly fühlte sich auf einen Schlag erleichtert. Als hätte sie zumindest die Hälfte von allem, was sie klären wollte, geklärt. Sie fragte:
»Was hast du gekocht?«
»Ravioli.«
»Gelingen die dir?«, fragte Teresa.
»Wenn sie mir nicht misslingen, ja«, sagte Colombres. Er schaute Teresa an. Er schaute sie an, als nähme er sie jetzt erst wahr. Er fragte: »Du bist doch die Fotografin, oder?«
»Ja.«
»Und … wie schätzt du Nelly so ein? Als Model, meine ich. Hat sie eine Zukunft?«
»Eine große«, sagte Teresa überzeugt.
Nelly brachte das Besteck, die Gläser, die Servietten. Mit leicht zittriger Stimme fragte sie:
»Meinst du, die Ravioli reichen?«
»Wenn nicht, mache ich noch mehr.«
»Ich habe nämlich so einen Hunger … Heute hau ich richtig rein.«
»Ruhig, Nelly«, riet Teresa.
Nelly fasste sich mit der Hand an die Brust. Sie sagte:
»Ich spüre hier so etwas. So einen Druck.«
»Und was bedrückt dich?«, fragte Colombres.
»Was weiß ich. Das Leben«, war alles, was Nelly zur Erklärung beitragen konnte.
Colombres schaute sie verwundert an. Was war los?
Es klingelte.
»Das ist bestimmt Fernando«, sagte er. »Bin gleich wieder da.«
Er verließ das Esszimmer. Nelly und Teresa waren allein.
»So ist es noch schlimmer, Tere«, flüsterte Nelly hastig. »Ich bin fix und fertig. Ich hätte es ihm gleich sagen sollen: ›Ich steh nicht mehr auf Tom Cruise, Schlapps. Ach ja, und auf dich auch nicht. Ich steh jetzt auf die da. Tschau, kannst deine Ravioli alleine essen.‹«
»Nichts überstürzen, Nelly«, sagte Teresa ruhig. »Das mit Tom Cruise war gut. Der erste Schubs.«
»Sauer ist er ja nicht geworden.«
»Weil er gar nicht ahnt, was noch kommt.«
»Der macht mich rasend«, sagte Nelly. »Dem kommt nicht mal in den Sinn, dass ich hier bin, um ihm den Laufpass zu geben.«
»Er ist ein schlichtes Gemüt, Nelly«, erklärte Teresa. »Es gibt viele Dinge, die ihm nicht in den Sinn kommen.«
»Dass du bi bist, zum Beispiel.«
»Mag sein«, gab Teresa zu. Und sagte: »Aber ich glaube, was ihm am wenigsten in den Sinn kommt, ist, dass du bi bist. Zum Beispiel.«
»Sei nicht so doof«, zischte Nelly.
Teresa lächelte. Sie genoss die Situation mehr, als sie gedacht hätte.
Colombres kam mit Fernando herein, der Nelly und Teresa, vorgestellt von Nelly, sehr herzlich begrüßte und herzlich gern auch die Küsschen in Empfang nahm, die diese ihm links und rechts auf die Wange drückten.
Der Glücklichste von allen schien Colombres.
Der sagte:
»Na, dann wollen wir uns die Ravioli mal schmecken lassen.«
Alle nickten. Alle lächelten.
Nur dass Fernandos Lächeln gefror. Zurückgelehnt in einem Sessel – offenbar war es ihm beschieden, überall Sessel zu finden, in denen er es sich bequem machen konnte – saß Jack the Ripper.
Er rauchte seine Pfeife, und wie immer umgab ihn dieser graue, leicht rötliche Nebel. Mit seinem gewohnten Spürsinn registrierte er sogleich Fernandos Nervosität. Er sagte:
»Reg dich nicht auf. Ich wollte nur ein bisschen deine Freunde kennenlernen.« Er machte eine ganz kurze Pause. Und fragte: »Oder sollte ich sagen, die künftigen Opfer van Goghs?«
»Aber …«, stammelte Fernando.
»Wegen des Essens mach dir keine Sorgen«, beruhigte ihn Jack. Und fügte hinzu: »Wir Engländer mögen keine Nudeln.«
Er löschte seine Pfeife.
2. Fünf Buchstaben mit Blut
Doña Clara schlug die Augen auf. Sie war nicht tot. Sie spürte, wie sie in ihrem eigenen Blut schwamm. Das schreckliche Blitzen von Rickys Messer war das Letzte, was ihre Augen gesehen hatten.
Jetzt schwamm sie in ihrem eigenen Blut.
Plötzlich fiel ihr Blick auf einen roten Fleck, dort auf dem Spiegel. Es waren Buchstaben. Sie las.
Sie las: van Gogh.
Dann war Ricky also … van Gogh? Hatte er sich nur an sie herangemacht, um sie zu ermorden? Oder war da noch etwas anderes?
Mit Mühe wandte sie den Kopf: Der Kleiderschrank stand offen.
Ja, dieser verdammte Bengel hatte den Schmuck mitgenommen. Alles nur dafür. Um sie zu töten und ihr die Schatulle mit den Juwelen zu rauben.
Sie wollte schreien.
Doch Blut quoll in ihren Mund.
›Ich sterbe‹, dachte sie.
Sie fasste sich an den Mund und befeuchtete ihren Finger mit diesem üppigen und warmen Blut.
Dann schrieb sie, mit letzter Kraft, auf den Boden:
Ricky
Und starb.
3. Der Mörder der Demokratie
Zum selben Zeitpunkt begann eine hochinteressante Sitzung im Innenministerium.
Am Kopfende des Tischs saß der Minister. Zu seiner Linken die Abgeordnete Julia Rauch. Zu seiner Rechten Kommissar Pietri.
Nur sie drei waren im Raum.
Der Minister sah aus wie ein Minister und kleidete sich wie ein Minister. Zwar mangelte es ihm weder an Intelligenz noch an Geschick, auch nicht an Brillanz, doch nichts garantierte ihm den Verbleib auf einem Posten, den schon erfolglos Männer bekleidet hatten, die intelligenter, geschickter und brillanter waren als er: jüngere Männer auch, die zum engsten Freundeskreis des Präsidenten zählten und deren dieser sich ohne viel Federlesens entledigt hatte. Sicher fühlte er sich jedenfalls nicht.
Zu allem Überfluss nun auch noch dieser verdammte Fall van Gogh.
Er sagte:
»Ich habe mir aufmerksam Ihre Diskussion im Fernsehen angeschaut. Ich fand sie weder nützlich noch erfreulich … ganz und gar nicht.« Er schaute Pietri an. »Sagen Sie, Herr Kommissar, erkennen Sie an, dass ich Ihr Vorgesetzter bin?«
»Selbstverständlich, Herr Minister«, stimmte Pietri zu. »Wie sollte ein Kommissar sich nicht als dem Innenminister untergeben betrachten?«
Der Minister schüttelte leicht den Kopf. Er hatte nicht allzu viele Haare darauf. Er antwortete:
»Sie sind nicht irgendein Kommissar, Pietri. Deshalb meine Frage. Sie sind ein Star. Sie besuchen die schicksten Diskotheken. Man sieht Sie in allen Zeitschriften. Das kann einem schon mal zu Kopf steigen, nicht wahr?«
»Mir nicht, Señor«, verneinte Pietri. Und versicherte: »Ich bin ein einfacher Polizist.«
»Mir gegenüber waren Sie einfach arrogant«, fuhr Julia Rauch dazwischen.
»Das ist genau der Punkt, Herr Kommissar«, sagte der Minister. »Ich habe bei Ihnen einen aggressiven Unterton gegenüber den Politikern herausgehört.«
»Einen Unterton?«, schäumte die Rauch. »Herr Minister, Kommissar Pietri war auf subversive Weise beleidigend gegenüber den Politikern.«
»Vorsicht, nennen Sie mich nicht subversiv, ja?« Pietri war kurz vor einem Wutanfall.
»Sie, jawohl, Sie nenne ich subversiv! Damit das klar ist«, beharrte die Rauch. Und bevor Pietri noch widersprechen konnte, sagte sie: »Die politische Klasse und die demokratischen Institutionen angreifen … das nenne ich subversiv, Kommissar Pietri!«
Pietri stand auf. Mit einem zornbebenden Finger deutete er auf Julia Rauch. Er rief:
»Ich werde Ihnen nicht gestatten …!«
»Ruhe, bitte beruhigen Sie sich«, bat der Minister. Pietri schaute ihn an, beruhigte sich und setzte sich wieder. Er nahm seine Zigarettenspitze und unterwarf sie dem zermalmenden Druck seiner Zähne. Er vergaß, eine Zigarette hineinzustecken. Der Minister sagte: »Sie werden hier nicht Ihre Szene aus dem Fernsehen wiederholen. Dafür habe ich Sie nicht hergebeten. Ich habe Sie wegen etwas anderem hergebeten.« Pause. Der Minister schaute Pietri und Julia Rauch an, die nun beide, schweigend, auf seine Worte warteten. »Frau Dr. Rauch, als Vorsitzende des Untersuchungsausschusses van Gogh haben Sie die enorme Verantwortung, den Bürgern im Lande zu beweisen, dass das Parlament in dieser bedauerlichen Sach...