Welt vor Augen
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Welt vor Augen

Reisen und Menschen

  1. 300 Seiten
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Welt vor Augen

Reisen und Menschen

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Über dieses Buch

»Welt vor Augen« ist eine Essay-Sammlung besonderer Art. Der Band bedeutet die Wiederentdeckung eines Prosa-Schriftstellers, dessen Arbeiten das Understatement der Tagesschriftstellerei benützten. Manuel Gasser, Mitbegründer der Weltwoche und Chefredakteur der internationalen Kulturzeitschrift du, Homme de lettres, der vom Auge aus schreibt, gestaltet seine Begegnungen mit Städten, Ländern und berühmten Zeitgenossen zu einem erregenden Lese-Abenteuer. Indem Hugo Loetscher jeden Aufsatz knapp kommentiert und die Sammlung als Komposition vorlegt, präsentiert sich »Welt vor Augen« als Porträt eines Prosaschriftstellers nach dessen eigenen Schriften wie auch als eine Art Roman aus Aufsätzen eines Zeitgenossen.»Ich könnte mir Leser vorstellen, die schon in ihren nächsten Ferien sich aufmachten, um einen Teil von Manuel Gassers zivilisierter Odyssee nachzuvollziehen; Syrakus oder Salisbury, Ägina oder Urbino. Freilich müssten sie bedenken, dass zu solchen Abenteuern des Auges und der Seele zwei gehören im glücklichen Zusammentreffen: Reise und Reisender.« (Golo Mann in Die Weltwoche)

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783860345443

V. D I E S P I E L V E R D E R B E R

Schon im Garten Eden hauste eine Schlange. Wie bedroht müssen da erst die irdischen Paradiese sein, wie sie MG aufzusuchen liebt. Die Spielverderberin heißt Politik.

Im Schutze der Maginotlinie …

In französischen Zeitungen erschienen anfangs 1939 Inserate, die für den Besuch des Elsass warben und in den Satz ausklangen: »Fière, tranquille et résolue, à l’abri de la ligne Maginot, l’Alsace travaille«. Ich beschloss, die Anregung, den Frühling »im Schutze der Maginotlinie« zu erleben, in die Tat umzusetzen, und fuhr ohne Verzug nach Straßburg.
Das Wetter wollte mir nicht gut. Die Wolken hingen grau und tief, die Blütenbäume standen fröstelnd im kalten Wind, und zum Flanieren oder zur traditionellen Turmbesteigung verging mir alle Lust. So flüchtete ich mich in die von keinen Wetterumschlägen und Temperaturstürzen berührte Luft des städtischen Museums.
Das Straßburger Kunstmuseum nimmt einen hohen Rang unter den französischen Provinzsammlungen ein. Es ist außerdem in einem der schönsten Gebäude des Landes, im Palast der Fürsterzbischöfe, untergebracht. Trotzdem wird es, wie eine Umfrage unter meinen Bekannten ergab, von den Besuchern aus der Schweiz oft übergangen. Es scheint mir darum angebracht, mit ein paar Worten auf diese leicht erreichbare, bedeutende und reiche Galerie hinzuweisen.
Das Museum besteht aus der im ersten Stockwerk ausgestellten Gemäldesammlung und den mit »Les Grands Appartements des Cardinaux de Rohan« bezeichneten Gemächern des Erdgeschosses, an welche die kunstgewerbliche Kollektion angeschlossen ist. Für diesen Teil wird ein zusätzliches Eintrittsgeld erhoben. Man lasse sich jedoch weder die drei Francs noch die Zeit gereuen und sehe sich die »Grands Appartements« auf jeden Fall und vor der Gemäldesammlung an.
Ich kenne kein beglückenderes Gefühl als jenes, das durch den Aufenthalt in großartigen, kostbar ausgestatteten Räumen hervorgerufen wird. Das Auge braucht sich nicht auf einen besondern Gegenstand zu konzentrieren; wo es hintrifft, findet es Anlässe zu höchstem Vergnügen. Das Urteilsvermögen wird kaum beschäftigt; es macht der Empfindung, dem Zustand reinen Genießens Platz. Denn das, was uns hier entzückt, sind ja Dinge, die in erster Linie nicht mit dem Verstand, sondern mit dem Gefühl begriffen werden: Maße und Verhältnisse, denen die Aufgabe zufällt, einen bestimmten Lebensstil auszudrücken und auf den Besucher zu übertragen. Und noch einen weitern Vorzug gewährt der Aufenthalt in schönen Räumen: Er vermittelt ein Vergnügen, für das es keinen Ersatz gibt. Denn wenn die Fotografie ein Gemälde und sogar eine Skulptur so wiederzugeben vermag, dass sie die Begegnung mit dem Original einigermaßen ersetzen kann, so ist auch die beste Reproduktion vor dem Innenraum völlig hilflos. Nichts kann uns einen Begriff von der edeln Pracht und Harmonie dieser Gemächer geben als eben ein langes, aufgeschlossenes, von keiner Hast getrübtes Verweilen in ihnen.
Die Gemächer der Rohan befinden sich nicht mehr im ursprünglichen Zustand. Sie wurden während der Revolution und auch späterhin fremden Zwecken dienstbar gemacht. Man verwandte indessen viel Geschick und Mühe darauf, die Schäden zu heilen und das Fehlende durch kostbare und dem Stil ihrer Umgebung angepasste Stücke zu ersetzen. So finden wir hier Dinge, die, ohne uns abzulenken, großes Vergnügen bereiten. Ich denke etwa an jenen Gobelin mit dem »Urteil des Paris«, auf welchem das genaue Vorbild zu Manets berühmtem »Frühstück im Freien« zu sehen ist. Er ist aber nicht nur um dieser vielleicht berühmtesten Plagiatsgeschichte willen bemerkenswert. Auch die Tatsache, dass die Nacktheit der Göttinnen für die bigotte Maintenon ein Ärgernis war und dass der Teppich deshalb zwecks nachträglicher Bekleidung an die Manufaktur zurückgesandt wurde, entbehrt nicht eines gewissen Reizes. Wozu allerdings gesagt werden muss, dass die verhüllenden Draperien so meisterhaft gewoben sind, dass sie uns beinahe über die darunter versteckten Augenweiden zu trösten vermögen …
Auch die in den anschließenden kleineren Räumen untergebrachte kunstgewerbliche Sammlung sei der Aufmerksamkeit empfohlen. Die wundervollen, zugleich naiven und höchst raffinierten Fayencen ersetzen einen Spaziergang durch das Elsässerland. Da ist alles, was das Herz sich wünscht: Kraut und Blumen, Früchte, zahme und wilde Tiere, Volksszenen und Landschaften, dargestellt in einem anmutigen, ländlich-eleganten Stil und wohl niemand so unvermittelt ansprechend wie gerade uns nachbarliche Schweizer. Beim Zürcher wird außerdem die prachtvolle, an einem Ehrenplatz ausgestellte »Coupe dite des Zurichois« aus dem Jahre 1576 lokalpatriotische Erinnerungen wachrufen.
Doch nun zur Hauptsache, zur Gemäldesammlung. Sie zählt zu den erfreulichsten Andenken, die das deutsche Regime im Elsass hinterlassen hat. Eine vom Reich zur Verfügung gestellte Schadenersatzsumme, die Straßburg für das anno 70 zerstörte alte Museum entschädigen sollte, wurde von Wilhelm Bode dazu verwendet, in kurzer Zeit planmäßig eine Art Idealsammlung zu schaffen. Sie ist so ein getreuer Spiegel des Kunstgeschmackes jener Zeit und als solcher bereits ein bedeutendes Dokument.
Bode richtete sein Augenmerk vorzüglich auf die Italiener, auf die oberdeutschen Meister und selbstverständlich auf die unvermeidlichen Niederländer. Er kaufte in Italien, auf großen englischen Auktionen, in Paris, in Deutschland und wo sich gerade eine Gelegenheit bot. Er verfügte über viel Spürsinn, einen sichern Geschmack, gesundes Urteil und ein nicht geringes Sammlerglück. Die Aufgabe, im neuerworbenen Reichsland ein Museum nach eigenem Gutdünken zusammenzustellen, hat ihn sichtlich begeistert. Seine Sammlung erfreut uns denn auch vorzüglich durch ihre einheitliche Wirkung und die schöne Harmonie aller, auch der weniger berühmten Werke.
An Glanzstücken ist indessen kein Mangel. »Die Heiligen Maria Magdalena und Katharina« von Konrad Witz sind uns allen aus Abbildungen bekannt, desgleichen die »Schmerzensmutter« des Simon Marmion. Und wenn die aus sechs Täfelchen zusammengesetzte Folge mit der »Vanitas« auch nicht von Hans Memling selbst, sondern nur aus seiner Umgebung stammt, so ist das Werklein darum nicht minder reizend … Mit Aufzählen gelangen wir indessen nicht weit. Denn da wären allein bei den Deutschen Schongauer, Cranach, Grien, Dürer, Huber, wäre vor allem Grünewald zu erwähnen, dessen Straßburger Arbeiten seltsame Vorspiele zum Riesenwerk des Isenheimer Altars sind. Ich habe aber nicht die Absicht, den vorzüglichen und vorbildlichen Catalogue des Peintures anciennes von Hans Haug abzuschreiben; ich möchte nur willkürlich ein paar Werke notieren, die mir besonders auffielen und deren Nennung, wie mir scheint, am ehesten zu einem Besuch des Museums verlocken können.
Um mit einem hochberühmten Namen zu beginnen: Von Greco ist eine zarte und ernste, mit unendlicher Zartheit gemalte Muttergottes da. Sie erinnert unwillkürlich an Cézanne. Nicht nur der grauen und blauen Töne wegen, die das Bild beherrschen. Es verrät jene ungeheure Aufmerksamkeit, jenes Bestreben, nichts dem Gegenstand hinzuzufügen, sondern alles aus ihm herauszuholen, die beiden Meistern eigen ist. Dann sei ein Engelskopf von Filippino Lippi erwähnt, wiederum ein strenges und herbes Bild, das nichts mit der unverbindlichen und fast zu gewandten Malerei vieler Florentiner jener Zeit gemein hat. Ein seltsames Werk ist die »Episode aus der Prometheus-Sage« von Piero di Cosimo. Hier ist die herzbeklemmende Stimmung, die unheimliche Brutalität, die in unsern Tagen Salvador Dalí mit vielen Künsten zu beschwören versucht, längst vorweggenommen. Um noch einen Italiener zu nennen: die große »Ansicht von Venedig« des Francesco Guardi ist ein prachtvolles Bild; es zieht die Blicke auf sich und lässt uns fast seine Nachbarn, einen übrigens glänzenden Tiepolo und einen kleinen Tintoretto, übersehen … [1939]
Bis zur Naivität hält MG an einem Lebensstil ohne Engagement fest. Die Seite, die er zu betreuen hat, heißt »Literatur und Kunst«. Politik wird außerhalb abgehandelt. Noch ist es möglich, im Frühsommer 1939 auf der Donau in den Balkan zu fahren.

»Stadt und Festung Belgrad …«

Die schöne Baltin

Von Wien nach Beograd fuhr ich auf einem jugoslawischen Dampfer die Donau hinunter. Es war ein hübsches, sauberes Schiff, das nur zwei Passagiere erster Klasse und, auf dem Vorderdeck, einige Burschen beförderte, die Slowakisch und Serbisch sprachen, Mundharmonika spielten und Speck mit Zwetschgenschnaps verzehrten. Als ich mich erkundigte, warum es so wenig Fahrgäste habe, hieß es, die Deutschen führen auf ihren eigenen Schiffen und die jugoslawische Linie diene lediglich Propagandazwecken …
Meine Reisegefährtin war eine junge Dame aus Riga, väterlicherseits Moskowiterin, mütterlicherseits Deutschbaltin, eine schöne und elegante Person, die mit wenig Gepäck und munterer Ahnungslosigkeit kreuz und quer durch Europa reiste. Ihr hauptsächlicher Zeitvertreib schien darin zu bestehen, dass sie allen Männern, die ihr über den Weg liefen, den Kopf verdrehte. Und wirklich hatte sie, wir waren noch keine halbe Stunde auf dem Wasser, den Ölmantel des ersten und den Zeiß des zweiten Offiziers sowie meinen Baedeker mit Beschlag belegt.
Als wir in Bratislava anlegten und da am Landungssteg neben der neuen slowakischen frech und fröhlich eine Hakenkreuzfahne im Winde flatterte, stellte sich die schöne Baltin an die Reling und rief mit schallender Stimme, so dass es am Ufer jeder hören musste: Die Fahne sowohl als die Heil-Hitler-Aufschriften an den Quaimauern seien ein Skandal, und ein Volk, das sich solches gefallen lasse, genieße ihre tiefste Verachtung. Glücklicherweise fuhren wir weiter, bevor es zu internationalen Verwicklungen kam. Das heftige Mädchen begann sich mit der Mannschaft und mit ihren mundharmonikaspielenden slawischen Vettern zu unterhalten, und so hatte ich endlich Gelegenheit, mich mit der nunmehr ungarischen Landschaft der beiden Stromufer zu befassen.

Durch den Urwald

Die Fahrt von Bratislava bis weit nach Jugoslawien hinein gleicht einer Reise durch den tiefsten Urwald. Fast ohne Unterbruch säumen Schilfdickicht und hoher Uferwald den Strom. Während Stunden und Stunden erblickt man nichts als Bäume, gewaltige, blaugrüne und silbrig schimmernde Kronen mit mächtigen schwarzen und hellen Stämmen. Man sitzt auf dem Verdeck wie im Sperrsitz eines Theaters und lässt dieses ungewohnte, gelassene Schauspiel vor sich abrollen, vom Morgen zum Abend und wieder vom Morgen zum Abend. Man begibt sich zu Tisch und tritt wieder hinaus: Die großen, vom Sommerwind leicht bewegten Bäume sind immer noch da. Man legt sich schlafen, und am andern Morgen will es einem scheinen, man habe keine Meile zurückgelegt, denn wieder sind sie da, die grünen Riesen, eine dichte Mauer, hinter der sich das flache Land und die Dörfer und das laute Leben verbergen.
Mitten in dieser Urwaldeinsamkeit liegt die glänzende Stadt Budapest. Wir erreichten sie kurz nach Einbruch der Nacht. Weite Felder aus flimmernden Lichtern dehnen sich rechts und links, funkelnde Girlanden überspannen das Wasser, Feuerkaskaden stürzen über die Hügel herab. Wagen donnern über die Brücken, Zigeunermusik schallt vom Ferenc Jozef Rakpart herüber, ein dumpfes ununterbrochenes Getöse erfüllt die Luft. Wir gleiten schweigend durch diesen Aufruhr, und als uns dann das leise Rauschen der nächtlichen Bäume wieder umfängt und nur der dünne Glanz ferner Sterne die Dunkelheit durchbricht, will es uns scheinen, als sei alles nur eine Sinnestäuschung gewesen, eine flirrende, flimmernde Fata Morgana, die das ans immer Gleiche gewöhnte Auge getäuscht hatte …
Die Ufer der Donau sind einsam, aber nicht unbelebt. Scharen von Kormoranen hocken im Ufergestrüpp and kreuzen ohne Unterbruch den Fluss. Fischreiher jagen an seichten Stellen, glänzend weiß und schwarze Störche spazieren über die Sandbänke, Wildenten und allerlei Wasservögel beleben die Buchten und trägen Nebenarme. – Große Rinderherden lagern im Schatten der Uferbäume. Auf den Waldblößen weiden Gänsevölker, und seltsame schwarze, behaarte Schweine wälzen sich im Schlamm. Zahmes und wildes Getier vermischt sich in paradiesischer Einfalt.
In den Morgenstunden des zweiten Reisetages verändert sich das Bild. Die Uferbäume sind nun nicht mehr eine dünne Mauer, hinter der man das Leben ahnt, ja manchmal aus seinen Geräuschen errät. Man fährt mitten in einen ungeheuer großen wilden Wald hinein. Der Strom teilt sich in viele Arme, sein Lauf wird ungewiss, kreisrunde und langgestreckte, von immer gewaltigeren Bäumen bestandene Inseln tauchen auf. Entlaubte Stämme greifen in den morgenklaren Himmel, tote Stämme liegen zwischen üppig grünen Schlingpflanzen, große Krümmungen des Flusses geben den Blick frei auf immer neue und immer wildere Einsamkeiten. Die Urwelt umfängt uns. Das Schiff will ihr entgleiten, aber sie kommt uns zuvor, und wenn sich das Dickicht ein wenig lichtet, wenn wir dem Urwald entronnen zu sein glauben, ist er schon wieder da, verworrener, unabsehbarer, unmenschlicher als zuvor …

Passagiere

Um die Mittagsstunde des zweiten Tages wird die ungarische Flagge eingeholt und das blau-weiß-rote jugoslawische Tuch gehisst. Bei einem einsamen Landungssteg stößt eine laute und bunte Gesellschaft zu uns: serbische Offiziere, Zöllner und Gendarmen, die mit ihren Familien nach der Hauptstadt auf Urlaub fahren. Da sitzen sie nun mit ihren slawischen Gesichtern, ihren russischen Uniformen, mit würdigen, herrischen Großmüttern, etwas üppigen, schönäugigen Frauen und vielen hübschen, lebhaften Kindern auf den rotsamtnen Polstern des Salons, essen gebratenen Stör und Schaffleisch mit Zwiebeln, trinken Schnaps aus Wassergläsern, sprechen viel und laut, und das Ganze nimmt sich aus wie ein Kapitel aus einem Roman von Tolstoi.
Die Landschaft hat sich inzwischen verwandelt. Das warme, silbrige Grau der Weidenbäume ist blühenden Akazienwäldern gewichen. Kleine Dörfer mit barocken, zwiebelgehelmten, vergoldeten Kirchtürmen drängen sich ans Ufer. Man legt des Öftern an. Bauernmädchen mit himmelblauen und himbeerroten Röcken, die nach Beograd verdingt sind, eine alte Frau in Schwarz, die nur Deutsch spricht, auf ihrer ersten Reise ist und ihren Sohn besuchen will, ein orthodoxer Priester, ein türkischer Limonadenverkäufer, Landarbeiter und Rekruten füllen das Vorderdeck. Es geht laut und bunt zu, es wird gegessen, gesungen, musiziert. Die Ufer werden steiler, ein blauer Bergzug erscheint, und plötzlich ist sie da, auf einem Felsbrocken weit in die Donau vorgeschoben, die stolze Festung Peterwardein.

Peterwardein

Es sind merkwürdige Gefühle, mit denen man diesen alten Zankapfel der christlichen und der türkischen Welt erblickt, diese schön symmetrischen Mauern und Wälle, über denen während Jahrhunderten bald der Doppeladler und bald der Halbmond wehten. Man denkt daran, wie der junge, elegante Kurfürst Max Emanuel von seinen bayrischen Schlössern und Lustgärten aufbrach, um den Ungläubigen diesen einsamen Felsen zu entreißen; wie der Kaiser in Wien und der Sultan in Stambul nur den einen Gedanken hatten, diesen Felskopf in ihre Gewalt zu bringen; wie in den Bergen Asiens, im Tirol, in Savoyen und am Rhein junge Leute ausgehoben, in Uniformen gesteckt und gedrillt wurden – alles um dieses winzigen Fleckens Erde willen, den wir in wenigen Minuten umfahren und bald aus den Augen verlieren …

Hütten und Wolkenkratzer

Wir hatten bei Tagesanbruch fünf Stunden im dichten Nebel stillgelegen und gelangten so erst gegen Mitternacht nach Beograd. Die Stadt baute sich mit tausend Lichtern wie eine phantastische Theaterkulisse über Donau und Save auf. Sie schien groß und prächtig zu sein; ich sah an diesem Abend nicht mehr von ihr als ein paar unleserliche Aufschriften und das Personal meines Hotels.
Am andern Morgen – es war ein Sonntag – entdeckte ich ein höchst merkwürdiges Gebilde aus Hütten und Wolkenkratzern, eine moderne Großstadt mit einer einfachen Landkirche als Kathedrale, eine in heftiger Entwicklung begriffene Metropole mit Plätzen, die an den Markt eines Steppendorfes erinnern.
Es gibt merkwürdige Dinge und Zustände in Beograd. Da die Automobile noch verhältnismäßig selten sind und man trotzdem auf den Großstadtlärm nicht verzichten will, erfand man eine geniale Methode: Die Wagen haben keinen Winker, sondern geben durch kräftiges Hupen ihre Absichten bekannt. Einmal hupen bedeutet, dass geradeaus gefahren wird, zweimal hupen rechts, dreimal hupen links.
Und dann die Gebäude! Beograd war bis in die jüngste Zeit eine Stadt aus lauter einstöckigen, den türkischen Einfluss unverkennbar zeigenden Häusern. Seit dem Kriege hat nun ein wahres Baufieber die Stadt befallen. Man baut überall und in allen möglichen Stilen, immer aber so hoch es irgend angeht. Und da schließlich nicht alle zugleich bauen können und manchem auch sein einstöckiges, altserbisches Häuschen besser gefällt als ein zehnstöckiger, marmorverkleideter Koloss, so trifft man denn selbst in den prächtigsten Quartieren die alte und die neue Zeit in friedlichem Nebeneinander.
Beograd hat, wenn man von den landschaftlichen Schönheiten und dem Festungskomplex absieht, keinerlei Sehenswürdigkeiten. Der Baedeker füllt knapp zwei Seiten mit der Aufzählung der öffentlichen Gebäude. Sterne hat er keine zu vergeben.
Und doch zählt Beograd zu den sehenswertesten unter den Hauptstädten Europas. Seiner Einwohner wegen. Man gehe an einem Sonntagabend zwei-, dreimal die Knez Mihajlova ulica hinauf und hinunter und sage dann, wo in aller Welt so viele und so ausschließlich schöne Menschen zu finden sind! Es ist ein großgewachsener, ebenmäßig gebauter Schlag mit ausgesprochen slawischen Zügen, hellen Haaren und grauen Augen, gesund, stark, kühl, in den Gebärden frei, sicher und stolz, die bäurische und soldatische Herkunft aufs Glücklichste verratend.
In den eleganten Restaurants begegnet man oft Frauen, die auf eine, ich möchte fast sagen tätige Art schön sind. Das heißt: Bei ihnen ist die Schönheit weniger ein Zustand als eine Art zu leben, etwas nicht auf Züge und Gestalt Beschränktes, sondern mit jedem Blick und jeder Gebärde sich Erneuerndes. Es sind Frauen, die das Geheimnis besitzen, nichts an Würde zu verlieren und doch für alle schön und liebenswürdig zu sein, die für ihr Gegenüber, für den Mann am Nebentisch, für den Kellner und für den Jungen, der den Wein bringt, ein Lächeln haben. Frauen, die in Anna Karenina ihr unvergängliches Abbild gefunden haben …
Überhaupt: Auf Schritt und Tritt werden wir an das zaristische Russland erinnert. Militärs mit ihren eleganten weißen Litewkas, die wundervollen Uniformen der Husaren, Gardeoffiziere und Aspiranten, die Kirchen mit ihren Ikonen und Chorgesängen, die Selbstverständlichkeit auch, mit der man schon am Sonntagvormittag ins Ballett geht – alles ist ein Widerschein jener Welt, die im Oktober 1917 für immer versank …

Tschewaptschitschi und Raschnitschi

Man soll nicht nur mit Kopf und Augen, man soll auch mit dem Magen reisen. Un...

Inhaltsverzeichnis

  1. Über dieses Buch
  2. Hugo Loetscher: Vorwort
  3. I. Der Paradiessucher
  4. II. Die Zaubergärten
  5. III. Verurteilt zu reisen
  6. IV. Das Schöne und das andere
  7. V. Die Spielverderber
  8. VI. Das böse Märchen
  9. VII. Rückkehr, ohne weggegangen zu sein
  10. VIII. Liebhaber des Außerordentlichen
  11. IX. Die Kunst der naiven Augen
  12. X. Um staunen zu dürfen
  13. Quellen
  14. Impressum