Kleine Monster
  1. 160 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub
Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Die Menschen, die hier das Wort ergreifen, befinden sich allesamt in existenziellen Ausnahmezuständen, die sich nur schwer mit einem gelassenen, geordneten Alltag vertragen: Verlassenwerden, Verrücktwerden, Rausch und Risiko, Ekstase und Ekel, Überschwang und Überleben, die erste große Liebe, die letzte große Liebe. In ihren Monologen verschränken sich stürmisch-animalisches Begehren und lebensphilosophisches Bohren, der Instinkt tritt gegen die Vernunft an, flankiert von Hypersensibilität und Alles-Egal. Diese Menschen, fragil und zäh zugleich, schwanken zwischen sehnsüchtiger Illusion und trotziger Desillusioniertheit. Sie wollen sich spüren, ihre Sinnlichkeit und Sexualität sind ein Tanz am Abgrund, ein Schritt ins Risiko. Sie treten uns zu nahe. Das geht an die Nieren und unter die Haut. Und selten gut aus. Was die Geschichten in ihrer intimen, drängenden Sprache nur umso wahrhaftiger und verstörender macht.Von Caio Fernando Abreu außerdem in der Edition diá: Was geschah wirklich mit Dulce Veiga? Ein Low-Budget-RomanAus dem brasilianischen Portugiesisch von Gerd HilgerISBN 9783860345429

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Kleine Monster von Caio Fernando Abreu, Marianne Gareis, Gerd Hilger, Maria Hummitzsch, Gaby Küppers, Gotthardt Schön im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Literatur & Literatur Allgemein. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2015
ISBN
9783860345429

Kleines Monster

Für Grace Giannoukas und Marcos Breda

1

In dem Sommer, als Mutter mir verkündete, mein Cousin Alex würde uns übers Wochenende in dem gemieteten Strandhaus besuchen, war ich alles andere als begeistert. Was nichts mit ihm zu tun hatte, schließlich wusste ich kaum noch, wie er überhaupt aussah, bei jedem anderen Cousin, Onkel oder Großvater hätte ich genauso reagiert. Es hatte vor allem mit mir zu tun, weil alles an mir gewachsen war, aber irre unkontrolliert. Ich bestand nur noch aus Armen und Beinen, hatte Haare an den falschen Stellen und klang wie ein Quakentchen, und genau deshalb wollte ich mich vor allen verstecken. Nur abends, ungefähr um die Zeit, wenn die Hausangestellten – die Huldas, wie Vater sie nannte – vom Strand zurückkamen, ging ich aus dem Haus. Dann lief ich kilometerweit am Wasser entlang, wälzte mich im Sand, weinte mal und stammelte immer wieder: Kleines Monster, kleines Monster, keiner will dich. Ich wollte auch keinen um mich haben. Eine Mutter, die einen ständig gängelte, man sollte doch zur selben Zeit wie alle normalen Leute an den Strand gehen, und einen Vater, der einen ansah, als wäre man das widerlichste Wesen auf der ganzen Welt, das er am liebsten sofort zur Armee schicken würde, damit es lernte, was sich gehört – das reichte mir für einen Sommer. Doch als wäre mein Elend nicht schon groß genug gewesen, musste ich nun auch noch mein Zimmer mit diesem Cousin Alex teilen. Dabei wollte ich doch vermeiden, dass irgendwer meine Quäkstimme mitbekam oder meine schlaksigen Arme, meine Storchenbeine und die an den falschen Stellen sprießenden Haare sah.
Ich verzog das Gesicht, aber Mutter war das schnuppe. Sie sagte, er komme und basta, er habe das ganze Jahr über fleißig gelernt, den Aufnahmetest für werweißwas bestanden und müsse sich jetzt mal erholen, und vor allem sei sie das der armen Tante Dulcinha schuldig, die doch so alleine war, und außerdem sei der arme Alex ein fleißiger und guter Junge. Genau die hasste ich am meisten: die fleißigen und ach so guten Jungen, die um die Mittagszeit immer mit einer Stofftasche aus dem Haus gingen, um für alle Welt Bier und Cola und Zigaretten zu kaufen, die beim Abwaschen halfen und am Tischende auf einer grünen Decke oberlangweiliges Canasta spielten. Ich stieß gegen die Dosenpfirsiche, der Saft schwappte auf die Decke, ich schmollte. Das war meine Art zu sagen: Ich weiß auch so schon, dass der Typ ein Idiot ist.
Als ich am selben Tag vorm Einschlafen noch wach lag, versuchte ich mich an sein Gesicht zu erinnern, aber es klappte nicht. Genau genommen konnte ich mich seit zwei Jahren an überhaupt keine Gesichter mehr erinnern, seit ich irgendwie zu einem Monster mutiert war und die Verwandten sich anstupsten, wenn ich vorbeilief, kicherten, tuschelten und mich mit aufgesetzt freundlicher Miene musterten. Mir graute vor diesen Leuten, die glaubten, alles über mich zu wissen. Sie wussten gar nichts, sie wussten einen Scheiß darüber, wie sehr ich jeden Einzelnen von ihnen verabscheute, ihre Fettwampen, ihren verschwitzten Oberkörper, ihre schwieligen Füße. Ich würde nie sein wie sie – ich kleines Monster würde immer anders sein als alle anderen. Und ich beschloss, mich Alex gegenüber genau so zu verhalten: wie ein immer mehr zum Monster werdendes kleines Monster, bis er es nicht mehr ertragen und ein für alle Mal abhauen würde. Verbissen starrte ich rüber auf die nackte Matratze im anderen Bett, wo er schlafen sollte, bis sich die Matratze mit meinem ganzen Hass vollgesogen hatte, damit er sich ja schlecht fühlen und noch am Tag seiner Ankunft wieder abreisen würde.

2

Am Tag, an dem er kommen sollte – und ich wusste, welcher das war, weil Mutter ununterbrochen davon sprach, das Bett neben meinem frisch bezog, ich meine Comic-Hefte auf einen Haufen stapeln und die Sachen vom Stuhl in den Kleiderschrank räumen musste –, ging ich etwas früher als sonst nach draußen und lief eine Ewigkeit am Strand entlang. Es zog mich immer bis zum Leuchtturm auf dem Weg nach Cidreira, weil es dort Dünen gab und man sich gut in den Sand legen und endlos aufs Meer schauen konnte. Mal kam ein Schiff vorbei, und ich fragte mich, wo will das hin? Wo will das hin? So richtig bescheuert, denn ich überlegte mir keine bestimmten Ziele, sondern blieb einfach bei der Frage hängen: Wo will das hin? Aber dann dachte ich auch, wenn ich jetzt von hier aus immer geradeaus ins Meer hinein- und genau wie Jesus Christus übers Wasser gehen und, ohne anzuhalten, immer weiterlaufen könnte – käme ich wo raus? Ich glaubte, in Afrika oder in Indien, irgendwo dort. Da stieg ein schöner runder Vollmond aus dem Meer auf, und ich sah in ihm zuerst den heiligen Georg und den Drachen, aber dann wurde mir klar, dass das kindischer Schwachsinn war, und ich dachte an Krater und Wüsten, konnte sie beinah vor mir sehen, das Meer der Heiterkeit. Oder war es doch das der Fruchtbarkeit? Ich schaute mir alles an und versank im Sand, bis es plötzlich finstere Nacht geworden war und ich zu meinem Vater und meiner Mutter in das blöde Strandhaus zurückmusste. Und, wie mir auf dem Rückweg wieder einfiel, worüber ich nur noch wütender wurde, weshalb ich noch langsamer ging und es noch finsterer wurde, jetzt auch noch zu diesem Cousin, den sie in meinem Zimmer einquartiert hatten.
Ein paar Hippies mit Gitarre und einer Flasche Cinzano kamen mir entgegen, hatten den Arm um die Schulter des anderen gelegt und sangen Lagerfeuerlieder. Ich versuchte, möglichst viel Abstand zu halten, lief durchs seichte Wasser und schaute nach unten, damit sie mich in Ruhe ließen. Mal schaute ich mich um und hörte nur die immer leiser werdenden Stimmen, die echt wie die von Hippies klangen und sangen Wie schwarz ist diese Nacht / kein Mondschein leuchtet hier / ich leide, liege wach / spür dich nicht neben mir. So ein Unsinn, dachte ich, denn der Mond ließ in puncto Leuchten ganz und gar nicht zu wünschen übrig, gar kein Leuchten wäre Neumond gewesen, aber nicht dieser gigantische, runde, gelbe Mond mitten über dem Meer und den Köpfen der Hippies. Als ich ein Stück weiter nach Norden gegangen war und die Hippies beim Blick zurück nicht mehr sah, dachte ich, wer weiß, wenn ich von hier aus immer geradeaus gehe, komme ich genau im Süden von Afrika raus, mitten am Sturmkap. Oder war es das Kap der Guten Hoffnung? Und da sah ich eine Riesensternschnuppe, fast genauso groß wie der Mond, so groß, dass ich stehen blieb, um das Zzziiiiisss des ins Meer schnuppenden Sterns zu hören. Nichts geschah, also sagte ich ganz laut und ahmte dabei das brüchige Stimmchen meiner Geographielehrerin Dona Irineide nach: Bo-li-den, was man im Volksmund als Sternschnuppen bezeichnet, sind eigentlich Bo-li-den. Ich fühlte mich schrecklich gebildet und so, aber irgendwie auch lächerlich, da fiel mir ein, dass ich ja einen Wunsch frei hatte, oder sogar drei, so genau wusste ich das nicht, aber man durfte sich definitiv was wünschen. Also nutzte ich die Chance und formulierte einen Wunsch: Wenn mein Cousin Alex schon mit in dem blöden Strandhaus sein muss – und es war sinnlos, mir zu wünschen, er käme nicht, denn er war ja längst da –, dann wünsche ich mir wenigstens, dass er cool drauf ist und mir nicht auf den Wecker geht.
Von all dem abgelenkt, trödelte ich ziemlich. Darum kam ich so spät zurück, dass ich als Erstes gleich was zu hören kriegte. Vater war schon in Schlafanzug und Hausschlappen, nannte mich einen Teufelsbraten, er würde mir verbieten, mich um diese Zeit am Strand herumzutreiben, und ich erwiderte, wenn er das machte, würde ich mich in meinem Zimmer verbarrikadieren und überhaupt nicht mehr an den Strand gehen, egal wann, und Mutter sagte im Flüsterton zu ihm, aber ich hörte es trotzdem, das ist das Alter, reg dich nicht auf und hack nicht ständig auf ihm rum, du Trampel, und dann stellte sie mir ein lauwarmes Abendessen mit hartem Mais hin, und ich wollte gerade den Mund öffnen und einwenden, ich wäre doch kein Pferd, aber genau in dem Moment sagte sie, Alex sei schon da und im Bett, ganz kaputt von der Reise, der Arme. Dabei brauchte sie gar nichts zu sagen: Ich saß am Kopfende und hatte das über dem Stuhl hängende Karohemd längst entdeckt. Und selbst wenn nirgendwo etwas von ihm zu sehen gewesen wäre, hätte ich den Geruch bemerkt, der in der Luft hing. Nicht unbedingt unangenehm, der Geruch eines Fremden nach einer längeren Fahrt. Staub, Ausdünstung, irgend so was. Ich war so wütend, dass ich kaum einen Bissen runterbekam. Vater ging sauer ins Bett und sagte, bei der Armee würde ich mich noch umgucken. Mutter machte sich am Radio zu schaffen, konnte aber nur verschiedene spanische Sender einstellen, elle-erre-uno-elle-erre-dos. Keine Spur von Elvis, den ich toll fand und den sie angeblich nicht leiden konnte, nur Gardel, den sie gut fand und ich definitiv nicht. Ich sagte, ich würde jetzt auch ins Bett gehen, da legte mir Mutter die Hand auf die Schulter und bat mich sehr ernst, ich solle ihr versprechen, freundlich zu meinem Cousin Alex zu sein, dem Armen, sein Vater war gestorben und Tante Dulcinha musste sehr viel arbeiten und dies noch und das noch. Ich versprach es ihr sogar, kostete mich ja nichts. Aber ich kreuzte die Finger hinterm Rücken und betete inständig, sie würde nicht noch mal betonen, was für ein guter und tüchtiger Junge er doch war, sonst würde mein Zorn wieder aufflammen. Aber genau in dem Moment, als Gardel von der bescheidenen Freude in seinem Herzen sang, sabia que nel mundo no cabia toda la humilde alegria de mi pobre corazón, verstummte sie, und ich ging wütend ins Bett. Wütend auf sie, auf meinen Vater, meinen Cousin Alex, Tante Dulcinha, die Hippies am Strand, auf Gardel, wütend auf alles.

3

Ich spülte mir im Bidet den Sand von den Füßen, wusch mir das Gesicht und blieb vorm Spiegel stehen. Kleines Monster, sagte ich. Mehr als einmal, drei Mal, zwölf Mal, zwanzig Mal, und ich wiederholte es immer wieder und schaute mich dabei im Spiegel an, bevor ich schlafen ging; kleines, kleines Monster, keiner will dich, keiner. Ich pinkelte, putzte mir die Zähne, spülte. Am liebsten hätte ich gekotzt, so ging es mir immer. Aber ich hab nicht gekotzt, hab ich nie. Zu gern hätte ich mich wie ein geprügelter Hund auf dem Boden unter dem Waschbecken zusammengerollt und bis zum nächsten Morgen geschlafen, damit alle sehen konnten, wie schlecht es mir ging. Mein Zimmer war jetzt nicht mehr nur mein Zimmer, ich konnte das Licht dort nicht mehr bis tief in die Nacht hinein brennen lassen und lesen: jetzt war dort mein nerviger Cousin Alex, und ich hatte versprochen, freundlich zu dem armen Jungen zu sein.
Das Zimmer, das jetzt nicht mehr nur meins war, sondern diesem Alex und mir gehörte, lag im hinteren Teil des Strandhauses in einer Art Anbau, neben einem Bad, das auch mir allein gehört hatte, bevor er gekommen war, aber jetzt gehörte es ihm und mir, voll beschissen. Ich machte das Licht aus, blieb in der Badezimmertür stehen, zögerte und stand noch eine Weile reglos im dunklen Flur, bevor ich ins Zimmer ging. Ich musste mich dafür wappnen, diesem Brillenheini gegenüberzutreten, der garantiert seine ätzende Brille – ich kannte diese Typen – auf meinem Nachttisch abgelegt hatte, und für die grässlichen Herrenschuhe und die ordentlich hineingelegten, steifen Socken, die über den Rand guckten, und den unerträglichen Gestank nach Fußschweiß in der Luft, er im Bett ausgestreckt, schnarchend und furzend wie ein Schwein. Mann, hab ich das alles gehasst, wie ich da in dem dunklen Gang zwischen Bad und Schlafzimmer stand, die ich jetzt teilen musste.
Ganz langsam öffnete ich die Tür. Das Fenster war hochgeschoben, das Licht aus. Es stank kein bisschen. Der Mond schien so hell ins Zimmer, dass ich auch im Dunkeln den Weg zum Bett fand und weder die Hand zum Vorantasten brauchte noch sonst irgendwas. Ich setzte mich aufs Bett, streckte die Hand aus und tastete den Nachttisch ab: da lag keine Brille. Nur mein Tarzan-der-Unbesiegbare-Comic. Wenigstens etwas, dachte ich: Der Trottel trägt keine Brille. Ich behielt die Unterhose und das T-Shirt an und legte mich hin. Nicht das leiseste Schnarchen, kein Furzgestank, nur der echt eklige Jasmingeruch aus dem Nachbargarten. Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, und ich schaute jetzt rüber zum Bett auf der anderen Seite des Zimmers, wo mein Cousin Alex schlief.
Er wurde direkt vom Mond beschienen, wie er da auf dem Bett lag, splitternackt. Meine Augen gewöhnten sich immer mehr an die Dunkelheit, und ich konnte jetzt gut sehen, dass Alex die Hände zwischen die angezogenen Beine geschoben hatte. Er sah sehr groß aus und konnte die Beine nicht ganz ausstrecken, andernfalls wäre er ans Fußteil gestoßen. Sein stark behaarter Körper war vom Mondlicht beschienen, die Haarspitzen glitzerten. Der Kopf lag leicht zur Seite gedreht und ins Kissen versunken, sein Gesicht konnte ich nicht sehen. Was ich aber sah, war die glitzernde Behaarung – Haare an den richtigen Stellen, nicht an den falschen wie bei mir –, über Brust und Bauch und dann in einem Pfad hinab, dichter und teils dort versteckt, wo er seine Hände hingeschoben hatte, dann überall an den Beinen bis hinunter zu den Füßen. Cousin Alex hatte sehr weiße Füße, und mir fiel wieder ein, dass sein Vater gestorben war, er das ganze Jahr wie verrückt gebüffelt und den Aufnahmetest für werweißwas bestanden hatte. Und im Schlaf gab er nicht den geringsten Laut von sich, der Arme.
Ich lag also in meinem Bett und schaute ihn an. Nach einer Weile lauschte ich seinem Atem und achtete auch auf meinen Atem, bis ich ihn seinem angepasst hatte. Er atmete, ich atmete. Um besser sehen zu können, setzte ich mich etwas aufrechter hin, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte den Kopf ans obere Ende des Bettes. Sicher hatte er die Hände zwischen die Beine geschoben, weil er dann besser schlafen konnte, der Arme, so kaputt von der Reise. Ich betrachtete ihn weiter, ruhig atmend, im selben Rhythmus wie er. Schön ruhig, um ihn bloß nicht aufzuwecken. Ich weiß nicht warum, aber auf einmal war mein ganzer Hass verschwunden. Und während ich dalag und rüber zu meinem Cousin Alex schaute, der splitternackt schlief unter diesem riesigen Mond, während der eklige Jasmingeruch durchs Fenster ins Zimmer drang, fühlte ich etwas, von dem ich nicht genau wusste, ob es ein Schwindelgefühl war oder Müdigkeit oder der Hass, der sich ganz langsam in etwas anderes verwandelte, von dem ich noch nicht wusste, was es war.

4

Am nächsten Morgen blieb ich fast bis mittags im Bett. Ich hörte, wie jemand aufstand, drehte mich aber weder um, noch öffnete ich die Augen, sondern blieb zur Wand gedreht liegen. Dann waren andere Geräusche zu hören, die Toilettenspülung, der Wasserhahn, aus der fernen Küche ein in der Tasse rührender Löffel, Mutter, die sagte, dass ich eben so sei und bis in die Puppen schliefe, und dann eine tiefere Stimme, nicht Vaters, die etwas sagte, was ich nicht hören konnte. Danach das Schlagen der Tür, dann Stille. Ich wusste, dass sie alle an den Strand gegangen waren, und überlegte, aufzustehen und ein bisschen in Alex’ Sachen herumzuschnüffeln, würde schließlich keiner sehen. Aber dann fiel ich in etwas, das ich Zwischenschlaf nannte, weil es kein richtiger Schlaf war. Mein Schwanz war morgens immer so hart, dass es weh tat, darum presste ich ihn gegen die Matratze, und etwas in ihm wollte schier explodieren, aber nichts explodierte, ich glühte innerlich und äußerlich, während ich an ein paar ziemlich eklige Sachen dachte. Eigentlich wusste ich nicht genau, ob sie ziemlich eklig waren – die Brust von der schwarzen Dina, die ich mal beim Baden am Teich gesehen hatte, menschliches Stöhnen und das Quietschen und Knarren des Betts aus dem Zimmer meiner Eltern. Ich wusste so gut wie nichts von diesen Sachen. Aber im Zwischenschlaf dachte ich immer genau daran und rieb meinen Schwanz an der Matratze, bis ich ganz in Schlaf gehüllt war, ohne Dazwischen. Dann fiel ich in einen tiefen Brunnen und erinnerte mich an überhaupt nichts mehr.
Ich stand erst auf, als Mutter an die Tür klopfte und sagte, es gebe gleich Mittagessen. Nach einem Blick auf das zerwühlte Bett von Cousin Alex dachte ich, der Idiot hat es sich jetzt sicher schon im Wohnzimmer und am Tisch bequem gemacht, als ob er hier zu Hause wäre, und trinkt mit Vater ein Bier. Ich schlüpfte in die Bermudas, wusch mir im Bad das Gesicht und trödelte möglichst lange, damit ich keinen sehen und keiner mich sehen musste. Aber als ich das Bad verließ und vom Anbau rüber ins Haus kam, sah ich nur Mutter, die in der Küche hantierte, und Vater, der auf den Treppenstufen der Veranda saß und die Correio do Povo las. Ich schaute mich um, aber bis auf das Karohemd, das seit dem Vorabend über dem Stuhl hing, gab es keine Spur von meinem Cousin Alex. Ich fragte auch nicht nach ihm, setzte mich ans Kopfende und zog mit der Messerspitze Linien auf der Tischdecke nach, bis Mutter sagte:
»Alex ist völlig begeistert vom Strand. Der arme Junge ist noch nie am Meer gewesen, hat herumgetollt wie ein Kind. Er ist noch dageblieben, er hatte keine Lust, schon zurückzugehen.«
Klasse, dachte ich, der wird rot werden wie ein Krebs. Und heute Abend wird er sich den Rücken einpudern und sich Zahncreme auf die Nase schmieren müssen und sich nachts im Bett herumwälzen und keinen Schlaf finden, denn wenn man einen solchen Sonnenbrand hat, schmerzt selbst die kleinste Berührung des Lakens auf der Haut. Er wird winseln und mir die ganze Nacht auf den Wecker gehen, und morgen oder übermorgen wird er sich schälen wie eine Schlange bei der Häutung und sich ganz großartig fühlen mit seinen Mokassins, der weißen Hose und dem roten Poloshirt, ein völlig verbrannter Oberoberober-Idiot. All das dachte ich, während Mutter das Essen auftischte und Vater mich nicht mal direkt ansah, sondern weiter nur in der Zeitung las, den Kopf schüttelte und sagte, barbarisch-alles-vollkommen-barbarisch, und ich konnte nicht richtig essen und auch keinen großen Hass verspüren. Es war vielmehr eine Übung in Boshaftigkeit, all diese Sachen zu denken, schließlich musste ich jeden Tag trainieren, um auch weiter das kleine Monster zu sein. Ich trank fast einen ganzen Liter Ki-Suco-Instant-Limo, Geschmacksrichtung Johannisbeere, der pure Zucker, wovon ich Bauchschmerzen bekam und den Teller wegschob, einfach keinen Hunger hatte. Ich sagte, ich fühle mich nicht gut, und Vater sagte, kein Wunder, der Herr hier schläft wie ein zum Tode Verurteilter, du wirst noch Tuberkulose bekommen, und Mutter sagte, lass den Jungen in Ruh...

Inhaltsverzeichnis

  1. Über dieses Buch
  2. Ohne Ana, Blues
  3. Die roten Schuhe
  4. Eine Geschichte mit Schmetterlingen
  5. Kleines Monster
  6. Karnevalsdienstag
  7. Königin der Nacht
  8. An der Grenze
  9. August und danach
  10. Gerd Hilger: Zwischen allen Stühlen: mitten im Leben
  11. Die Übersetzer
  12. Quellen
  13. Impressum