1. Familienleben in Deutschland
Schon oft wurde die Familie zum Auslaufmodell erklärt. Und doch, es gibt sie noch! Nur: Das heutige Familienleben ist schwieriger geworden und vielfältiger. Neben der klassischen Familie gibt es viele alternative Formen, wie Patchwork-, Stief-, Adoptiv-, Pflege-, Regenbogen-, Mehrgenerationenfamilie, Single mit Kind etc. Eins haben jedoch alle diese Familien gemeinsam: die tagtägliche Herausforderung, alles unter einen Hut bekommen zu müssen, die Bedürfnisse jedes Familienmitglieds genauso wie die Ansprüche der Arbeitswelt. Lange Zeit war die bundesdeutsche Familienpolitik ein Experimentierfeld, das sich vor allem am Alleinverdienermodell orientierte. Die Ergebnisse einer solchen Politik sprechen für sich: Nirgendwo in Europa leben weniger Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren als in Deutschland. Mit einem Anteil von nur 16,5 % sind wir trauriges Schlusslicht. Erst in jüngster Zeit verfolgt die Politik mit dem gesetzlich verordneten Krippenausbau, Regelungen zum Kitaplatzanspruch, Elternzeit und -geld das Ziel, verlässliche Angebote zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu etablieren.
1.1 Ist Zeitmanagement alles?
„Kind und Job lassen sich nicht zu einem Job vereinbaren, sondern höchstens zu zwei Jobs addieren.“ (Nina Puri, 2014)
„Männer und Frauen müssen Spitzenleistungen in zwei Welten vollbringen, deren Regeln in vielen Bereichen konträr auseinander liegen.“ (Walter Schmidt, 2011)
Rushhour des Lebens
Durch längere Ausbildungszeiten und damit durch einen späteren Berufseinstieg fällt die Phase der Familiengründung meist in die Phase des beruflichen Einstiegs bzw. Fortkommens, in die sogenannte Rushhour des Lebens. Auf allen Wegen ist alles dicht. Zeitdruck und ständige Unzufriedenheit sind die treuen Begleiter innerhalb dieser Lebensphase, in der zumeist täglich berufliche und private Herausforderungen warten, die sich in unendlichen To-do-Listen widerspiegeln.
Werktage ähneln einem Leben nach dem Zeittakt einer Stoppuhr, begleitet von einer ausgeklügelten Logistikplanung. Doch Unvorhersehbares, also nicht Planbares, wie Krankheiten bei Kindern, Eltern oder Betreuungspersonen, Verspätungen, zusätzlich anfallende, dringende Arbeiten etc., darf nicht dazwischenkommen, denn sonst fällt die Planung in sich zusammen, da meist zeitliche Freiräume und Puffer einfach fehlen.
Ähnlich wie bei der Terminplanung in Büros muss der Tagesablauf der Kinder mit dem der Eltern synchronisiert werden und umgekehrt. Bei Paaren, die gleichberechtigt die Familienaufgaben teilen wollen, sind unter der Woche ganztägig mindestens drei Personen zu berücksichtigen.
Neben Zeitmangel und -druck stellt sich oft noch ein weiteres Problem: Arbeiten beide Eltern sogar Vollzeit, sind sie zwar oft zu Organisationsexperten geworden, was Arbeit und Kinderbetreuung angeht, doch wo bleibt dabei die gemeinsame Zeit als Paar und als Familie?
Vieles, was man unter der Woche nicht schafft, muss dann ins Wochenende verlegt werden: Haushalt, gemeinsame Zeit mit der Familie, Zeit als Paar zu zweit oder auch mal Zeit für sich – oder sogar noch die Arbeit, die man mit nach Hause genommen hat. Wo bleibt dabei die Lebensqualität?
Zwar wird mit dem neuen Begriff „Quality Time“ die Hoffnung geschürt, dass der Zeitmangel durch die bewusste Planung von Zeiten intensiven Zusammenseins kompensiert werden kann, doch schon durch den Aspekt des Planens von Familienzeit wird der Effizienzgedanke aus dem Arbeitsleben auf den privaten Bereich ausgeweitet (vgl. Arlie Russell Hochschild in Garsoffky/Sembach, 2014).
Und damit stehen die Eltern zwischen den Ansprüchen ihrer Arbeitgeber und ihrer Kinder; von beiden Seiten wird qualitativ hochwertiges Erledigen von Aufgaben, zeitliche Verfügbarkeit und räumliche Flexibilität verlangt. Anders als im Berufsleben können die emotional bedingten Erwartungen der Kinder an ihre Eltern nicht ständig delegiert oder gar outgesourct werden. So entsteht ein Familien- und Arbeitsleben, das geprägt ist durch zum Teil dauerhafte Fremdbestimmung und Fremdsteuerung, was zu einer permanenten Überlastung der Eltern führt.
Scheinbar präventiv zugunsten des Nachwuchses treffen deshalb meistens Frauen die Entscheidung für eine Einschränkung der eigenen Berufstätigkeit, eine Verzögerung des Berufseinstieges oder einen vollständigen Verzicht auf die Berufstätigkeit – mit den entsprechenden Konsequenzen jetzt und später. Oder aber eine Elternschaft wird verschoben (auch mithilfe von „Social Freezing“ – dem vorsorglichen Einfrieren von eigenen unbefruchteten Eizellen –, das sogar von Arbeitgebern angeboten wird) oder auf Nachwuchs wird gänzlich verzichtet – auch diese Entscheidungen treffen zur Mehrheit die Frauen. Doch diese Wege aus dem Konflikt verhindern ihn nicht, sondern verschärfen ihn weiter (vgl. Schmidt, 2011). Es sind keine frei getroffenen Entscheidungen, sondern es handelt sich um die Optionen innerhalb einschränkender Rahmenbedingungen.
Die Familienplanung fällt meist in die Rushhour des Lebens. Insbesondere für die Mütter bedeutet das, Einschränkungen im Berufsleben, Verzögerungen des Berufseinstieges oder gar den Verzicht auf die Berufstätigkeit oder aber die Verschiebung der Elternschaft hinzunehmen. | |
1.2 Ein bisschen Demografie schadet nie
Seit Ende der 1990er-Jahre verzeichnet Deutschland mit durchschnittlich 1,4 Kindern pro Frau weltweit eine der niedrigsten Geburtenraten. Zwar ist die Geburtenrate laut Statistischem Bundesamt in den letzten Jahren mit 1,42 (2013) bzw. 1,47 (2014) Kindern pro Frau leicht gestiegen, betrachtet man jedoch die Bruttogeburtenziffer von 8,28 Kindern pro 1000 Einwohner war Deutschland in den Jahren 2004 bis 2012 Schlusslicht im weltweiten Vergleich (Spiegel Online, 01.06.2015).
Trotz des leichten Anstiegs der Geburtenrate in den letzten Jahren haben wir es insgesamt laut dem Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg mit einem demografisch-ökonomischen Paradoxon zu tun: „Je rascher die sozio-ökonomische Entwicklung eines Landes voranschritt und je höher der Lebensstandard stieg, desto niedriger war die Geburtenrate […] pro Frau“ (Birg, 2014). Die niedrige Geburtenrate hat Folgen:
Es bedeutet kurzfristig, dass Kinder zu haben im gesellschaftlichen Leben eine Seltenheit darstellt und eine eigene Familie zu gründen nicht als etwas Selbstverständliches angesehen wird. Mittelfristig fehlen dem Arbeitsmarkt Arbeitnehmer/-innen, Stellen bleiben unbesetzt, was Standortnachteile für die Unternehmen mit sich bringt. Ökonomen warnen, dass bei anhaltender demografischer Entwicklung zukünftige betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Ziele gefährdet sind. Die wenigen geborenen Kinder bringen ebenfalls insgesamt weniger Kinder zur Welt. Das heißt langfristig, dass der Generationenvertrag nicht mehr funktionieren kann. Generationenvertrag
Ein traditioneller Generationenvertrag innerhalb von Familien von bis zu drei Generationen ohne staatliche Altersvorsorge stellte bis ins 19. Jahrhundert hinein das familiäre Leitbild dar: Die ältere Generation arbeitete nicht mehr, die mittlere Generation arbeitete und versorgte die jüngere und zum Teil auch die ältere Generation. Die Versorgeraufgaben und das vorhandene Vermögen wurden innerfamiliär an die jeweils folgende Generation vererbt. Die Geschwister teilten sich die Versorgung und Pflege der eigenen Eltern und hatten mehrere eigene Kinder.
Die heutige niedrige Kinderzahl bewirkt jedoch, dass die mittlere Generation durch die steigende Lebenserwartung der älteren Generation und längere Ausbildungszeiten der jüngeren Generation unter Druck gerät, da die Zeiten finanzieller und versorgerischer Abhängigkeiten sich ausdehnen (vgl. Hurrelmann/Albrecht, 2014).
Was den Generationenvertrag im Rahmen der staatlichen Altersvorsorge betrifft, stehen in Zukunft immer weniger Beitragszahler immer mehr Rentenempfängern gegenüber, wobei langfristig die Rentenhöhe gemessen am früheren erzielten Arbeitseinkommen deutlich geringer ausfällt, was die Gefahr der Altersarmut erhöht.
Wandel der Geschlechterrollen
Zum demografischen Wandel kommt ein Wandel der Geschlechterrollen hinzu. In den entwickelten Ländern in Europa und Nordamerika herrscht eine paarzentrierte Gesellschaft vor, d. h., dass die lebensalltäglichen Konflikte um Beruf und Familie zwischen Ehe- bzw. Lebenspartnern stattfinden. Männer sind eher berufsorientiert und Frauen eher familien- und partnerschaftlich orientiert. Durch die Veränderung des weiblichen Rollenverständnisses ändert sich derzeit jedoch auch die Männerrolle (vgl. Schmidt, 2011).
Eine traditionelle Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen gibt es in der Form erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Zuvor waren auch die Frauen Arbeitskräfte auf dem Feld oder im Handwerk. Noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein wurde diese Arbeits- und Rollenverteilung verklärt. Heute stehen die traditionellen Vorstellungen von Familie dem Wunsch von Männern und Frauen nach Selbstverwirklichung gegenüber: Es gibt bereits neue Lebensentwürfe, die innerhalb alter Strukturen gelebt werden müssen (vgl. Garsoffky/Sembach, 2014).
Noch finden sich in der Arbeitswelt eher patriarchalische Strukturen, die Männer und Frauen gleichermaßen treffen: Seit Einführung des Bundeselterngeldes im Jahre 2007 wird die Mehrheit der Väter, wenn sie das Elterngeld überhaupt in Anspruch nehmen, nur zum Zweimonatsvater, um sich danach wieder in die Arbeit zu stürzen, um an der eigenen Karriere zu feilen bzw. den Lebensunterhalt für die junge Familie zu sichern (vgl. Zeit Online, 28.05.2014).
Deutschland hat weltweit eine der niedrigsten Geburtenraten. Die niedrige Kinderzahl bewirkt, dass die mittlere Generation durch die steigende Lebenserwartung der älteren Generation und längere Ausbildungszeiten der jüngeren Generation unter Druck gerät. | |
1.3 Kinderbetreuung ist weiblich
Sobald beide Elternteile oder der alleinerziehende Elternteil berufstätig sind, stellt sich das alltägliche organisatorische Problem...