KAPITEL 1:
Gebrauchsanleitung für dieses Buch
Wie ticken Vertriebler? Sind sie hauptsächlich auf Abschlüsse aus und erzählen aus diesem Grund alles Mögliche – egal ob es stimmt oder nicht? Dieses negative Image haben Verkäufer bei vielen Menschen. Oder sind Vertriebler passiv und unselbstständig und es fehlt ihnen an Unternehmergeist? Das behaupten zumindest viele Vertriebsleiter, die uns als Berater oder Verkaufstrainer engagieren. Vielleicht stellen Vertriebler aber auch ein wichtiges Bindeglied zwischen Anbieter und Interessent dar. Das wollen wir als Experten gerne glauben.
Die Antwort: Alle oben beschriebenen Vorstellungen sind wahr. Weder gibt es DEN Vertriebler noch DIE Vertriebsorganisation oder DEN Verkaufsleiter. Wir haben es stattdessen mit einer großen Vielfalt zu tun. Als wir mit der Arbeit an diesem Buch begannen, starteten wir mit Unterstützung des Vertriebsexperten Stephan Heinrich eine Umfrage1 unter Vertrieblern in der XING-Gruppe »Vertrieb und Verkauf«. Über 150 Vertriebler beteiligten sich daran und ließen uns ihre Wertvorstellungen in Bezug auf die eigene Vertriebstätigkeit messen.
Das Ergebnis: Erstaunlich viele Vertriebler sind in ihrer Werteentwicklung auf einem sehr hohen Niveau. Sie haben den Level des reinen Gewinn- und Erfolgsstrebens hinter sich gelassen und setzen stattdessen auf Kooperation und Vernetzung. Echte Partnerschaft mit Kunden ist ihnen wichtig und sie arbeiten mit ihnen daran, sinnvolle und wertschöpfende Projekte umzusetzen. Im Durchschnitt fanden sich die Teilnehmer der Umfrage auf Level Gelb wieder. Was das bedeutet, erklären wir Ihnen in diesem Buch noch genauer.
Unserer Einschätzung nach sind die Ergebnisse allerdings nicht über den gesamten Verkauf hinweg repräsentativ. Schließlich war die Teilnahme freiwillig. Außerdem wurde die Umfrage in einem Forum angeboten, in dem Vertriebler sich treffen, um sich offen auszutauschen. Schon das stellt eine gewisse Vorauswahl dar. Dennoch finden wir diese Ergebnisse in unserem Arbeitsalltag häufig wieder. In vielen Firmen, die uns engagieren, treffen wir auf Vertriebsmitarbeiter und Key-Account-Manager, die so reif, partnerschaftlich und kommunikativ agieren, wie es unsere Umfrage nahelegt.
Die Vertriebsorganisationen und die Vertriebsführung befinden sich allerdings manchmal auf einem ganz anderen Niveau. Gerade in großen Firmen sind sie oft von kurzfristigen Gewinnforderungen und Zielen geprägt. Aus dem Management wird Druck nach unten weitergegeben. Wenn die Mitarbeiter langfristige Projekte anstreben und die Verkaufsleitung Quartalsergebnisse vorweisen muss, ergibt sich naturgemäß Zündstoff.
Genau mit solchen Konflikten, Unstimmigkeiten und Veränderungspotenzialen beschäftigt sich dieses Buch. Wir geben Ihnen auf Basis der Werteforschung konkrete Anhaltspunkte, anhand derer Sie Ihre Situation im Vertrieb, in der Organisation und in Ihrem Team einschätzen können. Sie werden erkennen, wo Strategie und Organisation, Mitarbeiter und Kunden auseinanderdriften und wie Sie dies verändern können.
Wir schildern Ihnen anhand vieler Beispiele, wie der Vertriebsalltag in den unterschiedlichsten Firmen aussieht. Diese Beispiele sind übrigens alle echt – auch wenn wir die Namen der Firmen und Beteiligten meistens geändert haben, um die Vertraulichkeit gegenüber unseren Kunden zu wahren. Wenn wir in diesem Buch bekannte Firmennamen aufgreifen, stammen die Informationen ausschließlich aus öffentlich zugänglichen Quellen. Diese echten Geschichten aus dem beruflichen Alltag haben wir deshalb gewählt, weil wir die Situation so realistisch wie möglich schildern wollen. Modelle – auch die 9 Levels of Value Systems, mit denen wir arbeiten – verleiten immer wieder dazu, zu vereinfachen und in Klischees zu denken. Und genau das wollten wir vermeiden. Dennoch haben wir uns natürlich Beispiele ausgesucht, die den jeweils beschriebenen Wertelevel deutlich sichtbar machen und in denen dieser möglichst durchgängig ist. Solche typischen Firmen und Teams gibt es tatsächlich.
Häufiger werden Sie allerdings auf Firmen stoßen, in denen verschiedene Wertelevels aufeinander treffen. Während in der Produktentwicklung Genauigkeit herrscht (Level Blau), wünscht sich der Vertrieb manchmal mehr Geschwindigkeit (Level Orange). Der Innendienst pflegt einen persönlichen Kontakt zum Kunden (Level Grün), während die Buchhaltung diesen mit ihrer Kleinlichkeit auf die Palme bringt (Level Blau). Wenn das auch bei Ihnen der Fall ist, werden Sie nach der Lektüre des Buchs besser verstehen, wieso sich daraus immer wieder Konfliktpotenziale ergeben. Sie werden aber auch erfahren, wie Sie diese in Zukunft verringern können.
Bevor Sie jetzt anfangen zu lesen, vorab noch einige Hinweise zu diesem Buch.
Achtung Brillenschlange – warum Sie Menschen immer durch Ihre individuelle Brille sehen
Wie alle Menschen interpretieren auch Sie alles, was Sie sehen und erleben. Sie sehen einen Baum an und wissen, ohne darüber nachzudenken: »Aha, ein Baum.« Oder: »Eine Eiche.« Vielleicht auch: »Bäume sind schön.« Sie haben einmal gelernt, wie Bäume aussehen, und ordnen nun ähnliche Formen immer wieder automatisch in dieselbe Schublade ein. Das ist einfach und energiesparend für das Gehirn. Deshalb haben Sie in Ihrem Kopf so viele Schubladen, die Ihnen das Leben erheblich erleichtern. Wenn Sie jedes Mal aufs Neue nachdenken müssten, was »eine braune, senkrechte Säule mit unebener Oberfläche, die sich nach oben verzweigt und an deren Enden kleine grüne Läppchen befestigt sind« zu bedeuten hat, hätten Sie viel zu tun.
Genauso wie Ihr Gehirn interpretiert, wenn Sie Gegenstände sehen, so interpretiert es in Bezug auf Menschen. Je nach Ihren Erfahrungen und Wertvorstellungen denken Sie dann vielleicht »Pfarrer sind scheinheilig« oder »Pfarrer sind selbstlos und tun Gutes«. Ebenso haben Sie gewisse Einschätzungen über Verkäufer oder Führungskräfte oder darüber, wie Verkaufsleiter zu sein haben. Diese Vorstellungen sind ebenfalls von Ihren Erfahrungen und von Ihrem Wertesystem geprägt. Wir möchten Sie in diesem Buch anregen, Ihren Interpretationen auf die Spur zu kommen und Ihren Blickwinkel zu erweitern. Die Welt im Allgemeinen und die Vertriebswelt im Besonderen ist wesentlich bunter und vielfältiger, als Sie vielleicht denken. Viele verschiedene Denkweisen und Wertelevels haben nebeneinander Platz und in ihrem jeweiligen Kontext ihre Berechtigung.
Nur wenn Sie sich bewusst werden, dass Sie bisher durch die Brille Ihres Wertesystems geschaut haben, können Sie sich öffnen und Ihr Umfeld kritisch hinterfragen. Sie können Abstand gewinnen und neu nachdenken. Vielleicht kommen Sie dann darauf, dass Sie etwas verändern müssen, dass Ihr Markt sich entwickelt hat und Sie nachziehen sollten. Oder Sie erkennen, dass Ihre Verkäufer viel weiter sind, als Sie bisher dachten, und dass diese andere Rahmenbedingungen brauchen, um ihren Job erfolgreich machen zu können. Wenn Sie also bei unseren Beschreibungen der verschiedenen Levels denken: »Blödsinn, so ist das gar nicht«, dann erinnern Sie sich bitte an diesen Abschnitt. Sie haben wahrscheinlich gerade Ihre eigene Wertebrille aufgesetzt und sehen die Welt einfarbig, also so, wie sie in Wirklichkeit gar nicht ist.
Querlesen erwünscht – seien Sie wählerisch und sprunghaft
Viele Fachbücher beginnen mit dem Hinweis, dass sich der Leser Notizen machen soll und somit schon während des Lesens mit der Umsetzung anfangen kann. In anderen Büchern sollen Sie Fragebögen ausfüllen und werden alle paar Seiten aufgefordert, sich selbst zu reflektieren. Das müssen Sie in diesem Buch nicht tun.
Wir wünschen uns: Lesen Sie dieses Buch bitte so, wie Sie es am liebsten tun, und machen Sie mit dem Gelesenen, was Sie wollen. Wir vertrauen einfach darauf, dass Sie das, was für Sie relevant ist, finden werden. Wenn Sie sich oder Ihren Vertriebsalltag in einem Kapitel wiederentdecken, werden Sie sich angesprochen fühlen, und wenn das Bedürfnis entsteht, etwas aufzuschreiben, werden Sie es tun. Wenn Sie dagegen das Buch erst einmal querlesen, zwischen den Kapiteln hin und her springen oder etwas auslassen, ist das aus unserer Sicht auch gut. Sie wissen dann, wo Sie was finden, und können bei passender Gelegenheit nachschlagen.
Natürlich freuen wir uns, wenn Sie ein paar wertvolle Erkenntnisse aus diesem Buch ziehen können. Und wir sind überglücklich, wenn Sie sogar etwas davon umsetzen, Ihren Vertrieb in Zukunft anders führen oder gänzlich umorganisieren. Wir sind aber auch ganz zuversichtlich, dass das passieren wird, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.
Vorschläge statt Vorschriften – adaptieren Sie!
Der bekannte Coach und Therapeut Steve de Shazer gibt seinen Teilnehmern »Descriptions« statt »Prescriptions«, also Beschreibungen statt Verschreibungen. Genauso wollen wir es auch halten. Wir machen Ihnen hier Vorschläge, jede Menge davon. Bitte verstehen Sie diese aber nicht als Vorschriften. Wir kennen weder Ihren Vertriebsalltag noch Ihr Unternehmen. Wir wissen nur eins: Jede Firma ist anders und die Menschen, die dort arbeiten, sind es auch.
Wenn wir für Firmen arbeiten, müssen wir uns deshalb immer wieder anpassen. Patentrezepte und Einheitsworkshops gibt es bei uns nicht. Deshalb werden unsere Vorschläge auf die Firmenrealität abgestimmt. Bitte tun Sie das auch mit den Ideen, die Sie in diesem Buch vorfinden. Greifen Sie heraus, was passt, und vergessen Sie, was nicht für Sie zutrifft. Adaptieren Sie unsere Hinweise für Ihre Vertriebspraxis und seien Sie bitte wählerisch, wenn Sie entscheiden, welche Ideen Sie aufnehmen und welche nicht.
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen eine interessante, anregende und wert-volle Lektüre.
KAPITEL 2:
Werteorientierung im Verkauf? Nutzen und Anspruch
Werteorientierung – was heißt das eigentlich?
Dienstagmorgen, 6:15 Uhr. Der Wecker klingelt. Die Woche hat gestern wirklich nicht gut angefangen. Die Zahlen sind schlecht. Ihr Chef ist nervös und schnauzt jeden an, der ihm über den Weg läuft, und Sie haben seit etlichen Monaten keinen Urlaub gehabt. Einige Mitarbeiter aus Ihrem Verkaufsteam bringen bei Weitem nicht die Leistung, die Sie von ihnen erwarten. Aber rauswerfen können Sie sie auch nicht. Der Schreibtisch ist voll mit Aufgaben, die Sie unmöglich in dieser Woche schaffen können, selbst wenn Sie jeden Tag 16 Stunden arbeiten würden.
Was bringt Sie in solchen Momenten dazu, aus dem Bett zu steigen, sich sorgfältig anzuziehen und Ihren Partner mit einem liebevollen Kuss zu verabschieden? Wieso fahren Sie pünktlich in Ihr Büro und begrüßen Ihre Mitarbeiter – auch die schlechten – höflich und korrekt? Und warum geben Sie auch heute wieder alles, obwohl Sie im Moment wirklich kein Licht am Ende des Tunnels sehen?
Was Sie antreibt, sind Ihre Werte – die Vorstellung, wie Sie mit Menschen umgehen, wie Sie Ihren Job machen und wie Sie Ihr Leben führen müssen, um der beste Mensch zu sein, der Sie im Moment gerade sein können. Vielleicht werden Sie nicht immer mit sich zufrieden sein. Doch Sie haben eine Vorstellung davon, wie Sie leben sollten, was richtig und falsch, was wichtig und unwichtig ist.
Vielleicht werden Sie durch die feste Überzeugung angetrieben, dass Sie nur als Gewinner bestehen können. Vielleicht treibt Sie aber auch Ihr Pflichtgefühl an, Ihre Aufgabe korrekt zu erfüllen, selbst dann, wenn eigentlich nichts mehr geht. Oder Sie gehören zu den Menschen, die Ihr Team niemals im Stich lassen, egal was passiert. Manchmal haben Sie vielleicht schon Situationen erlebt, in denen Sie sich nicht mehr motivieren wollten oder konnten, in denen Sie gegen Ihre Überzeugung arbeiten mussten, sodass Ihnen fast die Luft ausging. Womöglich hat Ihr Umfeld sich in dieser Zeit stark verändert und plötzlich passten Sie nicht mehr hinein.
Friederike Bertold hatte einige Jahre im Vertrieb eines Kurierdienstes gearbeitet, als sie das Jobangebot eines traditionellen Speditionsunternehmens bekam. Das Gehalt war üppig und die Aufgabe reizvoll und so nahm sie das Angebot an. Dabei schlug sie wohlgemeinte Warnungen ihrer alten Kollegen aus: »Du wirst dich dort nicht wohlfühlen. Das ist nicht so locker wie bei uns.« Der Kulturschock kam, als Friederike Bertold die Stelle antrat. Hierarchien und Regeln wurden bei ihrem neuen Arbeitgeber großgeschrieben. Wichtige Persönlichkeiten, wie zum Beispiel die Prokuristen, mussten gewürdigt und in Entscheidungen einbezogen werden. Neue Ideen durfte die neue Vertrieblerin nicht einfach mit jedem besprechen, sondern musste sie über den offiziellen Dienstweg einreichen.
Geprägt von ihrem bisherigen Umfeld, in dem alles kollegial und auf Zuruf geregelt worden war, machte Friederike Bertold viele Fehler, eckte an und holte sich einige Standpauken ihres Chefs ab. Doch statt sich an das andere Umfeld zu gewöhnen, wurde sie immer frustrierter. Sie fühlte sich einfach nicht wohl. Viele Kollegen erschienen ihr distanziert und unflexibel. Friederike Bertold fühlte sich eingeengt und unterdrückt und zog nach nur einem Jahr die Konsequenzen: Die junge Vertrieblerin kündigte und suchte sich eine neue Stelle. Das Speditionsunternehmen verteufelte sie als rückständig und spießig. Erst viel später begriff sie, dass ein ganz anderes Problem Ursache für ihren Frust gewesen war. Die Spedition war nicht schlecht oder falsch gewesen. Friederike Bertold hatte lediglich das Wertesystem der Firma nicht verstanden und mit ihrem eigenen Denken nicht hineingepasst.
Werte spielen aber nicht nur in ungünstigen Situationen eine Rolle. Sie sind immer da. Und wenn Ihr Umfeld zu Ihrem Wertesystem passt, können Ihre Werte blühen und Ihnen Energie verleihen. Sie werden es Ihnen leicht machen, Entscheidungen zu treffen und Ihre Aufgaben privat und beruflich richtig und zu Ihrer vollen Zufriedenheit zu lösen.
Wie das Umfeld aussieht, in dem Sie aufblühen können, wissen Sie wahrscheinlich selbst am besten. Wenn nicht, denken Sie einmal darüber nach. Was ist Ihnen wichtig? Welche Werte stehen dahinter? Und welche Werte werden zum Beispiel in Ihrer Firma großgeschrieben? Passt das zusammen? Wenn Sie in einem Spannungsfeld unterschiedlicher Werte arbeiten, merken Sie das meistens schon an einem latent schlechten Gefühl, selbst wenn es Ihnen noch nicht bewusst ist. Nehmen Sie solche Gefühle als wertvollen Hinweis darauf, dass es wichtig wäre, etwas genauer nachzuforschen.
Welche Werte für Sie passen, ist sehr individuell. Vielleicht fühlen Sie sich in einem Umfeld wohl, in dem Sie viel Freiraum haben. Solange Ihre Zahlen stimmen, können Sie machen, was Sie wollen. Kreative Ideen werden gern gesehen und Fehler sind erlaubt. Mitarbeiter und Führungskräfte haben einen gewissen Spielraum, um ihre Ziele zu erreichen. Erfolge werden belohnt und kommuniziert. Wer gut ist, steht auch gut da.
Die für Sie richtige Arbeitsumgebung kann aber auch ganz anders aussehen. Möglicherweise schätzen Sie Strukturen und Prozesse, die Ihnen klare Leitlinien geben. Es geht um Genauigkeit und Qualität ist das oberste Ziel. Der Verkaufsprozess wird exakt beschrieben und jeder weiß, was er zu tun hat. Veränderungen werden sorgfältig geprüft und nur umgesetzt, wenn das Risiko überschaubar ist. Entscheidungen werden von oben nach unten getroffen.
Eventuell haben Sie bei einem der beiden Beispiele gerade innerlich genickt, weil es Ihren Vorstellungen entspricht. Bei dem anderen haben Sie hingegen Gefühle von Beklemmung oder Unruhe empfunden, denn so möchten Sie auf keinen Fall arbeiten. In diesen Beispielen haben wir zwei der Wertelevels beschrieben, die Sie im Verlauf dieses Buchs noch genauer kennenlernen werden. Ist einer davon bei Ihnen stark ausgeprägt, fühlen Sie sich von der jeweiligen Beschreibung wahrscheinlich angesprochen.
Der andere dagegen widerspricht dann womöglich Ihren Wertvorstellungen. Sie sehen ihn durc...