Theoretische Grundlagen,
Modelle und Reflexionen Janina Wildfeuer
Der Film als Text?
Ein Definitionsversuch aus linguistischer Sicht
1. Einleitung
Die Frage nach der Texthaftigkeit des Films wird in der Filmwissenschaft differenziert behandelt. Der Film wird gemeinhin als Text verstanden, jedoch sind mit dem Terminus selbst bereits im Alltag die unterschiedlichsten Bedeutungszusammenhänge konnotiert.
Während der Text in den 1960er Jahren überhaupt erst in das Interesse der Sprachwissenschaft rückt, werden in den filmsemiotischen Anfängen zeitgleich bereits Parallelen des zunächst schriftlich und sprachlich determinierten Textes mit dem filmischen Artefakt hergestellt. Als textuell wird dort bereits eine Folge von Geräuschen, Bildern und Musik aufgefasst (vgl. Metz 1973). Auch die Rede vom dynamischen Prozesscharakter und der materiellen Ausdehnung des Filmtexts stellen die Entwicklungen der frühen Textlinguistik in den Schatten. Analog werden für die Filmanalyse Parallelen zur literarischen Textanalyse gezogen, stehen narratologische und ästhetische Fragen mehr und mehr im Vordergrund (vgl. den Überblick in Faulstich 1988).
Unter Berücksichtigung des Textparadigmas, das von Metz und anderen vor allem auf Basis sprachwissenschaftlicher Überlegungen etabliert wurde1, ist die Filmwissenschaft zwar zugleich immer auch eine Textwissenschaft, ihr Untersuchungsgegenstand, der Filmtext, jedoch bleibt vollkommen heterogen und uneinheitlich bestimmt. Dies ist im Hinblick auf die Interdisziplinarität der Untersuchungsansätze zwar durchaus legitim, stellt jedoch für die jeweiligen Einzeldisziplinen, die sich mit dem Film auseinandersetzen, eine eher missliche Lage dar und ruft verstärkt Uneinigkeit und Diskussionsbedarf hervor. Das gilt nicht zuletzt für die Sprachwissenschaft und ihre Unterdisziplin der Textlinguistik.
Obwohl zumindest in der textlinguistischen Entwicklung inzwischen deutliche Fortschritte zu verzeichnen sind und der zu Beginn sehr starre Textbegriff längst gegenüber anderen Zeichensystemen geöffnet wurde, steht eine erneute kritische Auseinandersetzung mit der Frage aus: Kann der Film auf Grundlage der Neudefinitionen des Textes, die innerhalb der zeitgenössischen Textlinguistik2 entstanden sind, gleichermaßen als Text bestimmt werden und mit welcher Textdefinition ist dies ggf. möglich?
Entwicklungen innerhalb medienaffiner Untersuchungen, z.B. im Hinblick auf den Hypertext und auf weitere interaktive und digitale Medientexte, sind dafür hilfreich. Hier ist es in den letzten Jahren zu erheblichen Veränderungen gekommen, die für die Entwicklung der heutigen Sprachwissenschaft von großer Bedeutung sind. Vor allem die Hinwendung zu einer Gesamtbetrachtung aller repräsentativen Vorkommen des Typs Text, darunter auch Verknüpfungen non-verbaler Elemente, erlaubt eine neue und somit zeitgenössische Betrachtung des Films als Text, der im Folgenden nachgegangen wird.
Dabei gilt es zunächst einen exemplarischen Überblick über die verschiedenen in der Linguistik vorhandenen Textdefinitionen zu geben und deren Kerngedanken herauszuarbeiten (Kap. 2.1 bis 2.5). Die Diskussion um eine Erweiterung des Textbegriffs im Rahmen multimodaler Textanalysen soll in einem weiteren Schritt Ausgangspunkt für eine sprachwissenschaftliche Definition des Films als Text sein (Kap. 2.6 bis Kap. 3.4). Sie wird sowohl mithilfe einer Beschreibung der ausschlaggebenden Merkmale als auch durch eine graphische Darstellung gegeben werden (Kap. 4). Die Beispielanalyse eines Ausschnitts aus dem Film DAS LEBEN DER ANDEREN verdeutlicht schließlich die Anwendbarkeit der theoretischen Ausführungen in der Praxis.
2. Der linguistische Textbegriff
Seit Entstehung der Textlinguistik als sprachwissenschaftliche Teildisziplin in den 1960er Jahren existiert eine kaum überschaubare Vielfalt des Textbegriffs. Die Forderung nach einer einheitlichen Definition steht zwar seit jeher im Mittelpunkt textlinguistischer Untersuchungen; jedoch zeugt der Terminus von einer derartigen Produktivität und Heterogenität, dass dieses Ziel unerreichbar scheint.
Schon in der Alltagssprache sehr geläufig, weist der Text ähnlich anderen geisteswissenschaftlichen Basiskategorien wie «Zeichen» oder «Wort» eine beträchtliche Polysemie auf. Innerhalb sprachwissenschaftlicher Bezugspunkte ist dies in Verbindung mit der Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit der Textlinguistik sowie der ihr oftmals zugesprochenen Ubiquität zu sehen (vgl. Antos/Tietz 1997, S. VIII). Eine eindeutige Bestimmung ihres zentralen Gegenstandes liegt bis heute nicht vor, stattdessen «[…] scheint die Sprachwissenschaft weiter denn je von einem einheitlichen Textbegriff entfernt.» (Klemm 2002, S. 19)
Die im Folgenden aufgezeigten Definitionen sollen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – eine exemplarische Zusammenfassung der Vielzahl der Begriffsbestimmungen geben und dabei vor allem deren thematische Schwerpunkte hervorheben, die auch im Hinblick auf die Definition des filmischen Textes von Interesse sind.
2.1 Vom Satz zum Text
In den strukturellen Anfängen der Textlinguistik dominiert zunächst der Gedanke des Textes als Verkettung von Sätzen, im Weiteren auch von Zeichen. Dieser setzt sich – je nach Betrachtungsweise – aber bis heute durch: «Text» wird definiert als eine kohärente Folge von Sätzen (Brinker 2001, S. 14). Diese Auffassung entspricht dem Programm der frühen Textlinguistik, deren Entstehung vor allem auf der Problemstellung beruht, dass Phänomene auf der syntaktischen, satzinternen Ebene nicht mehr ausreichend behandelt werden können.
Neben der Vorstellung eines Textes als schriftlich fixierte Größe wird der frequente Aspekt der Linearität hervorgehoben und steht für die allgemein gängige Lesart des 20. Jahrhunderts: für die «[…] schriftlich festgehaltene, inhaltlich-thematisch zusammenhängende Folge von Wörtern, Sätzen […]» (Schulz/Basler 1981, S. 201).
Linearität kann als verallgemeinerte Kategorisierung für verschiedene Textdefinitionen gesehen werden. Damit verbunden ist stets der Gedanke vom Text als Einheit, allerdings durchaus unterschiedlich akzentuiert:
«Ein Text ist eine abgeschlossene sprachliche Äußerung.»
(Dressler 1972, S. 1)
«A text is not something that is like a sentence, only bigger, it is something that differs from a sentence in kind. A text is best regarded as a semantic unit: a unit not of form but of meaning.»
(Halliday/Hasan 1976, S. 1f.)
Während Dressler lediglich die Abgeschlossenheit und somit die reine Form des Textes betont, erfolgt mit der Definition nach Halliday/Hasan zugleich eine inhaltliche Akzentuierung, die Betonung der Semantik des Textes.
2.2 Der Text als Zeichen
Hartmanns Ausführungen, dass nicht mehr Sätze die größten sprachlichen Einheiten, sondern Texte die «originären sprachlichen Zeichen» (Hartmann 1971, S. 10) darstellen, spielen für das Textverständnis der neueren Textlinguistik eine große Rolle und lassen sich in folgender Grundthese Hartmanns wiedergeben:
«Der Text, verstanden als die grundsätzliche Möglichkeit des Vorkommens von Sprache in manifestierter Erscheinungsform, […] bildet das originäre sprachliche Zeichen. Dabei kann die materiale Komponente von jedem sprachmöglichen Zeichenträger gebildet werden. […] Sprache kommt nur als Text vor, indem funktionsgemäße und funktionsgerechte Komplexe (Zeichenmengen) geäußert werden.»
(Hartmann 1971, S. 10f., Hervorhebungen im Original)
Im Text als Untersuchungsgegenstand der Sprachwissenschaft vereinen sich demzufolge ihre beiden grundlegendsten Motive: die Zeichen- und Texthaftigkeit der Sprache. Diese semiotische Sicht auf den Text, nämlich sein Verständnis als komplexes sprachliches Zeichen, das zudem eine kommunikative Funktion aufweist, kann anhand weiterer Definitionen besonders hervorgehoben werden:
«Im weitesten Sinn könnte jede bedeutungshafte Zeichenkonfiguration ein Text genannt werden, der sich dann notwendigerweise durch Textualität auszeichnet. Jedes einzelne Zeichen tritt in einem aktualisierten System auf und erhält somit eine Funktion und einen Sinn.»
(Beaugrande/Dressler 1981, S. 229f.)
«Texte sind sinnvolle Verknüpfungen sprachlicher Zeichen in zeitlich-linearer Abfolge.»
(Weinrich 2005, S. 17)
2.3 Der Text in Funktion
S. J. Schmidt konzipiert seine Auffassung von Text im Rahmen seiner Texttheorie und in Verbindung mit der Forderung nach einer kommunikationsorientierten Sprach- und Textwissenschaft. Ein Text ist seiner Meinung nach in ein kommunikatives Handlungsspiel eingebettet und somit «thematisch orientiert» (Schmidt 1973, S. 150). Seine kommunikative Funktion realisiert ein «erkennbares Illokutionspotential» (Schmidt 1973, S. 150). Ausgangspunkt ist das fundamentale Verständnis von menschlichem, interaktionalem und zielgerichtetem Handeln mithilfe von verbalen und nonverbalen Zeichensystemen, das Verständnis von Kommunikation in ihrer grundlegendsten Form. So muss der Text nach Schmidt in Bezug zu diesen Zeichensystemen und im Hinblick auf sozio-kommunikative Kriterien (wie z.B. Textualität) definiert werden. Eine genaue Charakterisierung dieser Kriterien leistet Schmidt jedoch nicht.
Auch in anderen Ausführungen lässt sich die Orientierung am Text als kommunikative Einheit und Handlung wiederfinden:
«Der Text muss immer als eine kommunikative Einheit, d.h. als eine thematische Einheit, die im Kommunikationsprozess eine illokutive Funktion erfüllt, betrachtet werden.»
(Rosengren 1980, S. 276)
«Texte/Diskurse werden verstanden als komplexe kommunikative Handlungen, die nach sozialen Regeln vollzogen werden.»
(Holly 1992, S. 20)
Beide Autoren beschreiben ähnlich wie Schmidt die kommunikative bzw. illokutive Funktion des Textes. Eine detaillierte Beschreibung der Kriterien, die für diese Funktion von Bedeutung sind und somit auch im Hinblick auf eine Beschreibung der Textualität notwendig wären, erfolgt nicht.
2.4 Integrative Ansätze
Zwar stehen die beiden aufgeführten Orientierungen – zeichentheoretisch und kommunikativ-pragmatisch – in dieser Übersicht kontrastiv gegenüber, jedoch schließen sie sich keinesfalls grundsätzlich aus. Vielmehr sind sie als komplementäre Auslegungen zu betrachten, die sich eng aufeinander beziehen. Brinker plädiert deswegen dafür, einen integrativen Textbegriff zu finden, « […] der es ermöglicht, den Text als eine sprachliche [und somit zeichenhafte] und zugleich kommunikative Einheit zu beschreiben» (Brinker 2001, S. 17). Diese direkte Verbindung des sprachlichen Zeichens mit der kommunikativen Funktion stellt keineswegs eine neue, unbekannte Vorgehensweise dar, sondern geht zurück auf die Ursprünge der Zeichentheorie:
«Der Terminus ‹Text› bezeichnet eine begrenzte Folge von sprachlichen Zeichen, die in sich kohärent ist und die als Ganzes eine erkennbare kommunikative Funktion signalisiert.»
(Brinker 2001, S. 17)
Ein weiterer integrativer Ansatz zur Bestimmung eines Textes stellen die Beschreibungsdimensionen nach Beaugrande/Dressler (1981) dar: Sie weichen auf die Darstellung von Texteigenschaften aus, indem sie sieben Kriterien der Textualität festlegen, nach denen ein Text als kommunikativ gelten soll. Während die Merkmale der Intentionalität, Situationalität, Informativität, Akzeptabilität und Intertextualität vor allem rezeptionsorientiert sind, sind die Merkmale der Kohäsion und Kohärenz textzentriert, d.h. direkt auf den Text bezogen. Diese Kriterien ermöglichen somit eine differenzierte Klassifikation eines Textes, führen jedoch nicht oder nur begrenzt zu einer aussagekräftigen Textdefinition. Die oftmals vorgenommene Rückführung der Merkmale auf den Aspekt der Textfunktion ist irreführend, da gerade diese nicht dem Text immanent ist. Im Text selbst sind lediglich Merkmale der Kohäsion auszumachen (vgl. Schmitter 2004, S. 192). Kohärenz dagegen entsteht beim Rezipienten als Ergebnis einer komplexen Interpretationsleistung, die aufgrund von textuellen Strukturen innerhalb des Textes gesteuert wird.
Kritisch zu betrachten ist laut Vater (2001, S. 28f.) dabei vor allem auch, dass die Definitionsfindung von Beaugrande/Dressler zirkulär ist, weil der Text anhand der Textualität bestimmt wird, diese jedoch nichts anderes als Texthaftigkeit ist.
2.5 Neuere Textbegriffe: Der Text im Wandel
Wie die Disziplin der Textlinguistik selbst im Laufe der Entwicklung ei...