EPILOG
In diesem Buch geht es um energetischen und psychologischen Missbrauch, um Traumata, die an meine Generation weitergereicht wurden, um Sucht und Scham. Zunächst übertrug meine Großmutter ihre Trauer über den Verlust ihrer Heimat auf mich. Verletzt wie meine Eltern es selbst waren, hatten sie dem Missbrauch nichts entgegenzusetzen.
Auf sich gestellt, können sich Kinder gegen eine Übertragung von Gefühlen kaum wehren. Ich hatte fortan die Gefühle meiner Großmutter. Ich war traurig und verzweifelt wegen eines verlorenen Lebens, noch bevor mein eigenes Leben überhaupt begonnen hatte. Im wahrsten Sinne bestand die Zuwendung meiner Großmutter aus Zuckerbrot (Keksen) und Peitsche, und beides nahm ich begierig auf, ansonsten hätte ich auch kaum Zuwendung bekommen.
Natürlich war meine Großmutter nicht böse. Was tat sie denn schon? Sie zeigte mir, wie man Käse macht. Oder sie schenkte mir bessarabisches Spielzeug. Was soll daran falsch gewesen sein? Erst in jüngster Zeit wurde deutlich, wie Übertragung eigentlich funktioniert: Man kann ganz banale Dinge tun oder über banale Dinge sprechen. Entscheidend sind nicht die Handlungen oder Worte. Entscheidend sind die Gefühle, die man dabei hat. Oder genauer, entscheidend sind gerade die Gefühle, die man nicht haben will. Und durch einen fast unheimlichen Vorgang lassen sich diese Gefühle tatsächlich weitergeben. Hinterher geht es einem dann wirklich besser, dem Empfänger dieser Gefühle geht es aber wirklich schlechter.
Abgesehen von der Übertragung von Gefühlen wurde mir die empathische Dysfunktion meiner Eltern immer klarer, je mehr ich mich mit der transgenerationalen Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten beschäftigte. Mir fällt eine Geschichte ein, die sich im Zusammenhang mit diesem Buch ereignete: 2006 hatte meine Schwester mehrere Audiokassetten aufgenommen, auf denen mein Vater und sein Bruder Oskar »alte Geschichten« erzählen. Für dieses Buchprojekt stellte sie mir die Aufnahmen zur Verfügung. Ich digitalisierte sie und speicherte sie auf meinem Handy, um sie mir jederzeit anhören zu können. Auch die Geschichten von der Kinderlandverschickung, der Bombardierung Hamburgs und von Weihnachten 1945 sind enthalten.
»Und? Was ist dir aufgefallen?«, fragte Sabine neugierig, nachdem sie mir die Aufnahmen geschickt hatte.
»Traurig«, war meine erste Antwort.
»Ja, klar, traurig, aber was noch?«
Ich musste überlegen. Es war klar, dass Sabine auf etwas Bestimmtes hinauswollte.
»Also, ich musste weinen«, gab ich zurück.
»Genau!«, brach es aus ihr heraus, »du musstest weinen! Aber die beiden erzählen die Geschichten ohne jegliche Emotion! Sie erzählen alles gleich. Lustige Anekdoten oder schrecklichste Dinge – alles im gleichen Ton!«
Als ich die Aufnahmen anschließend noch einmal hörte, fiel mir auf, wie recht sie hatte. An einigen Stellen bettelte Sabine förmlich um etwas Emotionalität. Tatsächlich fehlte diese völlig.
Bei den Aufnahmen fragte Sabine deshalb immer mal wieder aktiv nach: »Und, wie hat sich das damals für dich angefühlt? Warst du denn nicht sehr traurig?«
Die knappe Antwort erfolgte im selben unbeteiligten Ton und wiederholte nur Sabines Worte: »Doch, ja, klar, das war sehr traurig.« Dabei erzählen beide Brüder unglaublich präzise, erinnern sich an jeden Namen, jede Hausnummer und jedes Datum – nur an ihre Gefühle erinnern sie sich nicht.
Sabine erzählte mir am Telefon noch, dass es am Abend nach den Aufnahmen eine Fernsehsendung über Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs gab. Sie sah sich die Sendung zusammen mit unserem Vater an. Es kam ein Mann zu Wort, ebenso alt wie unser Vater, der von seinen Kriegserlebnissen als Kind berichtete. Der Mann hatte inzwischen eine Therapie gemacht, ab und an kämpfte er mit den Tränen. Schließlich fing er doch an zu weinen. Unser Vater beobachtete den Mann, wurde dabei immer unruhiger und kommentierte: »Na, nun ist aber genug!« und: »Also, jetzt reicht’s aber!«
Wenn die Kriegskindgeneration traumatischen Erlebnissen ausgesetzt war, trennten sich oftmals ihre Gefühle von den Geschehnissen ab. Und manchmal bleibt der emotionale Zugang lebenslang verschlossen. Das heißt, man erinnert sich durchaus an Ereignisse, aber nicht an die Gefühle dazu. Derartig traumatisierte und emotional gestörte Eltern können später kaum Nähe zulassen oder Liebe geben, denn zu viel emotionale Nähe gefährdet ihren emotionalen Dissoziationsprozess, den sie aktiv aufrechterhalten müssen. Kinder von solchen Eltern, die Generation der 1960 bis 1975 geborenen Kriegsenkel, suchen den Grund für die mangelnde Zuwendung allerdings ausschließlich bei sich selbst. Egozentriert, wie die Weltsicht von Kindern nun einmal ist, glauben Kinder immer, sie sind es, die »nicht liebenswert« sind oder die »irgendwie falsch und ungenügend« sind. Dieses Gefühl wird später internalisiert und bleibt mitunter ein Leben lang. Daraus ergeben sich dann viele der Zuschreibungen, die man im Zusammenhang mit Babyboomern macht: Selbstzweifel, Selbstwertmangel, berufliche Desorientierung, Kinderlosigkeit, Suchtverhalten und Beziehungsstörungen.
Ich möchte noch auf einen weiteren Mechanismus bei der Weitergabe von Traumata hinweisen, einen Effekt, den ich geradezu beklemmend finde. Dies betrifft die Weitergabe purer Energie. Ein Vorgang, der psychologisch nicht so leicht erklärbar ist wie die Empathiestörung meiner Eltern oder die Übertragung der Trauer meiner Großmutter. Man arbeitet daran, dem Effekt mit Versuchen auf die Spur zu kommen: Wenn man einer Generation von Mäusen viel Angst macht, sie unregelmäßig füttert, ab und an einer Katze aussetzt und andere Grausamkeiten veranstaltet, werden diese Mäuse hektisch, verhuscht und sehr nervös.
Bekommen diese Mäuse dann Kinder, haben auch die Mäusekinder große Angst, obwohl sie niemals den Ursachen ausgesetzt waren und diese niemals kennengelernt haben. Diese Angstkinder reagieren sogar selbst dann noch ängstlich, wenn sie von gesunden Adoptiveltern aufgezogen werden. Also selbst dann, wenn eine direkte Weitergabe durch die Verhaltens- und Prägeebene ihrer nervösen, leiblichen Eltern ausgeschlossen ist.
Die Kinder der Angstmäuse sind traumatisiert durch die kuriose Weitergabe reiner Angst, die man bis heute noch nicht genau versteht. Bei Therapien der Nachkommen von Bosnienkriegsopfern verstand man erstmals, dass für Menschen dasselbe gilt wie für Mäuse. »Epigenetik« soll ein Stichwort sein, um den Effekt zu erklären.
In unserer Gesellschaft sind wir daran gewöhnt, kausal zu denken, und diesem Denken unterstellen wir eine gewisse Logik und Gerechtigkeit. Ursache und Wirkung stehen in Zusammenhang, und wir glauben, wer etwas verbockt hat, sollte seine Suppe auch selbst auslöffeln. Überaus ungerecht finden wir hingegen, wenn jemand, der sich nichts zuschulden kommen ließ, für etwas büßen muss, was andere verbrochen haben. Doch genau dies scheint bei der transgenerationalen Weitergabe von Traumata der Fall zu sein.
Bestimmt kannte der biblische Mose den Begriff Epigenetik nicht, doch er meinte vielleicht dasselbe, als er schrieb: »… aber ungestraft lässt Gott niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied!«
Als Kind litt ich unter sehr schlimmen Ängsten, die fast an eine Psychose grenzten. Viele Kinder haben Nachtangst, doch bei mir war es so schlimm, dass ich nahezu alles tat, um der Nacht zu entgehen. Ein Trick war, meine große Schwester wach zu halten. Ich erzählte ihr die spannendsten und kreativsten Geschichten, die Hauptfigur war mein Teddy, der allerlei Abenteuer zu bestehen hatte. Nach unserem Umzug 1970 hatte ich dann dummerweise ein eigenes Zimmer, und mit dem Teddy-Trick war es vorbei. Im neuen Haus entwickelte ich Ängste, die sich bis zur persönlichen Abspaltung und außerkörperlichen Erfahrung steigerten. Meine Mutter und die Ärzte waren ratlos, man vermutete Vitaminmangel. Wenn es besonders schlimm wurde, bekam ich vor lauter Angst nur drei oder vier Stunden Schlaf, und in der Schule war ich natürlich todmüde.
Später wurde es kaum besser. Alles, was ich anfing, geschah in großer innerer Angst und Unsicherheit. Ob es eine Ausbildung, ein neuer Job oder die Bundeswehr war, nie hatte ich das Gefühl, ich könnte einer neuen Aufgabe gerecht werden. Stattdessen rechnete ich immer mit dem Schlimmsten. In der Nacht vor einem neuen Job oder einer unbekannten Aufgabe konnte ich nie schlafen. Mich verfolgten Gedanken wie: Nun ist es so weit. Jetzt wirst du endgültig auffliegen. Man wird feststellen, dass du ein Scharlatan bist. Man wird dich verachten, vom Hof jagen und schließlich regresspflichtig machen. Viele Jahre habe ich nicht an mich und meine Fähigkeiten geglaubt.
Aus dieser Schräglage heraus strengte ich mich über die Maßen an und war dann fast immer sehr erfolgreich. Doch all dies änderte nichts an meinem inneren Erleben. Ich glaubte mir und meinen Fähigkeiten trotzdem nicht, egal wie viele Schulterklopfer ich auch erhielt. Streckenweise konnte ich am Leben teilnehmen, trotz meiner inneren Angst. Doch meine Teilnahme war so anstrengend, dass ich mich völlig verausgabte. Früher oder später wurde mein Rückzug unabwendbar. Damals noch unbewusst, fand ich genug äußere Gründe: Der Job war doof, die Kollegen blöd oder was auch immer. Hauptsache, ich entkam der Falle, dem Bergwerk, dem Pulverfass. Viele Jahre sah es so aus, als würden vor allem Sabine, Ina, Peter und ich derartige Störungen ausbilden. Währenddessen fragte sich die Kriegskindgeneration, was für merkwürdig »verwöhnte« und »schwache« Kinder sie da bloß in die Welt gesetzt hatte. Doch später zeigten sich dann auch bei den Kriegskindern die Auflösungserscheinungen, zunächst Suchtverhalten und später die verfrühten Todesfälle.
Als engste Mitbetroffene war meine Schwester die erste Leserin des Buches. Wenigstens von ihr wünschte ich mir ein Okay. In ihrer ersten Reaktion merkte sie an, dass wir Geschwister vielleicht doch zu schlecht wegkämen. Es könnte der Eindruck entstehen, wir seien »vollends gescheiterte Existenzen«. Dies könnte daran liegen, weil ich mich bei meinen Schilderungen vorwiegend auf unsere erste Lebenshälfte konzentrierte. Und diese Zeit war für meine Schwester und mich tatsächlich eine einzige Odyssee. Zudem war ich womöglich meiner eigenen Logik auf den Leim gegangen, alles andere sei schon gesagt worden. Denn in meinem ersten Buch, Die Heldenreise des Künstlers, beschäftigte ich mich ja mit meiner zweiten Lebenshälfte und erzähle, dass ich schließlich doch noch ein guter Maler wurde.
Übrigens wurde Mark, mit dem ich die Heilpraktiker-Ausbildung machte, später ein kreativer Therapeut. Und ich wurde ein therapeutischer Künstler. Heute, 25 Jahre später, stellen wir immer wieder fest: Eigentlich waren unsere gefühlten Berufungen beide richtig. Wer das Künstlerdasein im Beuys’schen Sinne begreift, wird in der Ausübung beider Berufe ohnehin keinen Widerspruch entdecken.
Zur Ehrenrettung meiner Schwester möchte ich ergänzen: Sie wurde in ihrer zweiter Lebenshälfte eine sehr einfühlsame und erfolgreiche Kinderbuch- und Radioautorin. Meine Schwester versteht und unterstützt mein Vorhaben aus vollem Herzen, aber zu Lebzeiten meiner Mutter hätte ich unsere Familienchronik sicher nicht schreiben können. Auch mein Vater wird vermutlich kaum einsehen, was ich mit diesem Buch – auch für ihn – geleistet habe. Er wird Wert darauf legen, dass es auch in unserer Familie schöne Zeiten gegeben hat. Hat es auch. Wir hatten auch Spaß und haben gelacht, aber diese Zeiten waren kurz und rar. Und von diesen Momenten handelt mein Buch ganz bewusst nicht.
2009 nahm ich als Interviewpartner am zweiteiligen NDR-Film Der Hamburger Feuersturm 1943 von Andreas Fischer teil. Im ersten Teil (Brandwunden) geht es um das Leid der Kriegskinder, die 1943 die Bombardierung Hamburgs erleben mussten. Im zweiten Teil (Brandnarben) berichtet dann meine Generation über die Unnahbarkeit ihrer kriegstraumatisierten Eltern. Andreas Fischer wagte sich mit seiner Gegenüberstellung von traumatisierten Kriegskindern mit deren Kindern (den Babyboomern) auf neues Terrain.
Nie werde ich die Pressekonferenz vergessen: Nach der Premiere saß ich vor versammelter Presse direkt neben Frau Abendschön, einer rüstigen und resoluten 84-jährigen Hamburgerin. Frau Abendschön schaute starr zu den Presseleuten, hatte aber ihre spitzen Finger um meinen rechten Oberarm gelegt. Dann erzählte sie von ihren schrecklichen Kriegserlebnissen und jeden Satz läutete sie mit den Worten ein: »Damit auch solche Leute wie Sie das mal verstehen …« Und immer, wenn sie »Leute wie Sie« sagte, bohrten sich ihre Finger noch tiefer in meinen Oberarm. Dann erzählte sie, wie man ihr die Haut mitsamt der Strumpfhose nach einem Brandbombenangriff abgezogen hatte. Wie sie im Krankenhaus lag und jeden Tag aufs Neue gefragt wurde, wie sie hieß, und sie es wochenlang nicht mehr wusste.
Und ich? Was hatte ich zuvor im Film erzählt? Dass mein Vater zu viel Bier trank, dass er sich immerzu auf seinem Taubenschlag versteckte. Im Vergleich zu Frau Abendschön klang mein Bericht lächerlich.
Ich kann und will nicht mit Frau Abendschön oder meinem Vater konkurrieren ob des »schlimmeren« Traumas und der »dramatischeren« Kindheit. Deshalb schwieg ich und schaute betreten zu Boden. Irgendwann jedoch meldete sich eine Journalistin zu Wort. Doch anstatt eine Frage zu stellen, wandte sie sich überraschend an mich: »Herr Unger, Frau Abendschön muss Sie ja auch nicht verstehen. Wir haben sehr wohl verstanden, worum es Ihnen geht.«
Mein Vater konnte mein Anliegen im Film ebenso wenig verstehen wie Frau Abendschön. Nach der Ausstrahlung gab es einen kurzen, bösen Briefwechsel mit ihm, dann sprachen wir fünf Jahre kein Wort miteinander.
Mein Vater war nicht in der Lage, meine Aussagen über den »Mangel« meiner Kindheit nachzuvollziehen. In Wirklichkeit sagte ich im Film, wie sehr mir mein Vater gefehlt habe. Doch seine Briefe haben gezeigt: Er konnte den Unterschied zwischen empathischem und materiellem Mangel weder denken noch fühlen.
Aufgrund meiner psychologischen und therapeutischen Ausbildung, bei der ich mich einige Jahre mit systemischen Ganzheitskonzepten befasst habe, fiel es mir innerhalb meiner Familie schwer, das allgemeine Staunen über »plötzliche Schicksalsschläge« zu teilen. Als meine Mutter komatös im Krankenhaus lag, begrüßte ich Eberhard mit den Worten: »Vor diesem Tag habe ich seit fünf Jahren Angst.«
Eberhards entgeisterte Mimik verriet mir, dass er nicht im Geringsten verstand, wovon ich sprach. Für ihn kam der Herzinfarkt meiner Mutter »aus heiterem Himmel«. Dabei ging meine Familie mit ihren Krankheiten vermutlich genauso um, wie es der Großteil der Gesellschaft tut. Bei uns sah man die Sache so: Meine Tante war an Krebs gestorben, ein Übel, gegen das man bekanntlich machtlos ist. Mein Onkel starb an Diabetes und meine Mutter an einem Herzinfarkt – insgesamt also Volkskrankheiten Nummer eins, zwei und drei.
Hunderttausende sterben jedes Jahr an Krebs, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, so ist das nun einmal in westlichen Industrienationen. In der Regel wird dann so getan, als seien diese Krankheiten Schicksalsschläge, die man hinnehmen muss. Das Seriensterben meiner Familie wurde auf den diversen Beerdigungen dann auch dementsprechend kommentiert, »Schicksal«, »mysteriöser Fluch« oder »Gottes Ratschluss«.
Wenn so dahergeredet wurde, überkam mich regelmäßig Wut. Dies hier sollte Schicksal sein?! Für mich sah es so aus, als würde hier jemand einen Wagen bewusst in den Abgrund steuern, obwohl man die Klippe lange kommen sah und die Bremsen durchaus funktionierten. Für mich sah es nach Vorsatz aus, und das machte mich sehr, sehr wütend. Hier waren Menschen, die ich sehr liebte, und dennoch steuerten sie ihren Wagen in den Abgrund. Einhalt, wenigstens mir zuliebe, schien nicht infrage zu kommen. Niemand würde »mir zuliebe« mit dem Rauchen aufhören. Oder mit dem Rotweintrinken. Oder anders: Rotwein, Zigaretten, selbst Brieftauben waren stets wichtiger als ich. Mein innerer Wesensanteil, der diese Wut fühlte, kämpfte um seine Eltern, doch letztlich kämpfte er um das eigene Überleben.
Zusehen zu müssen, wie sich die eigenen Eltern umbringen, ist sicherlich das Schlimmste für Kinder, egal wie alt sie sind. Kinder tun alles, um ihre Eltern zu retten. Trotz meiner psychologischen Bildung und dem Durchschauen der Hintergründe entkam ich der anstrengenden, gefühlten Verantwortung für meine Eltern nicht. Und während Sabine sich zunehmend abgrenzte, schrieb ich fast bis zuletzt noch Briefe oder führte lange Telefonate mit meiner Mutter oder meinem Onkel. Doch trotz meiner Verrenkungen konnte ich die Bremse der Fluchtautos meiner Liebsten von meinem Beifahrersitz aus nicht erreichen. Die Autos stürzten ab, eines nach dem anderen.
Im ersten Jahr nach dem Tod meiner Mutter war ich zu wütend, um zu trauern. Ihren eigenen Tod geradezu zynisch anzusagen setzte allen vorangegangenen Todesfällen die Krone auf.
In letzter Zeit wandelt sich mein Zustand. Zunehmend bricht eine unsagbare Trauer durch. Diese Trauer lässt meine Wut schmelzen wie Eis in der Sonne. Diese Trauer liebt und versteht. Diese Trauer braucht keine Interpretation von Schuld und Verantwortung, von »man hätte es besser machen können, sollen oder müssen«. Denn letztlich erkennt diese Trauer an, dass alle Familienmitglieder ihr Bestes gaben. Mein Vater war der beste Vater, der er sein konnte. Mein Onkel war der beste Onkel, der er sein konnte. Meine Mutter war die beste Mutter, die sie sein konnte. Sie alle gaben ihr Bestes, denn sie gaben das, was sie geben konnten. Und wenn ich einen großen Kreis schlage und meine Familie aus dieser Perspektive betrachte, dann komme ich genau da an, wo alle anderen schon vor mir waren: Bei der Interpretation, dass all dies tatsächlich Schicksal ist. Die vermeintlich naive Annahme, dass man nichts gegen »diese Dinge« tun könne, stimmt dann wieder – wenn auch auf einer höheren Ebene. Wie frei ist der Einzelne wirklich? Der Einzelne der Müllers. Der Ungers. Der Bessarabiendeutschen. Der Hamburger. Der Deutschen. Der Europäer. Wir sind alle Glieder einer unendlichen Kette, eingebunden in kollektive, soziale und politische Mächte und Strömungen, die so viel größer sind als wir.
Wer entscheidet über seine Geburt, sein Leben und seinen Tod? Und doch ist es wohl so: Erst wenn ich mich unendlich verausgabt habe bei dem Versuch, mein eigenes Leben zu meistern, und wenn ich mich genug abgearbeitet habe bei dem Versuch, meine Liebsten vor Unheil zu bewahren, erkenne ich schließlich meine Machtlosigkeit. Manchmal denke ich, die Illusion, über mein eigenes Leben bestimmen zu können, ist vielleicht meine größte Krankheit.
In der letzten Zeit macht eine TV-Serie von sich reden, die Vikings. Diese Wikinger-Saga beschreibt den Zeiten- und Werteumbruch vor dem Mittelalter: Kultische Wikinger-Religion trifft auf englische Christen. In der Serie wird deutlich, dass ein Großteil des Erfolgs der Wikinger auf ihre unverbrüchliche Hingabe ans Schicksal beruht. Kein Wikinger wäre auf den Gedanken gekommen, er würde über sein Leben bestimmen. Sein Schicksal war gänzlich vorherbestimmt von Göttern, und dies schloss selbstverständlich auch den eigenen Tod mit ein. Es ergab daher wenig Sinn, vor dem Tod Angst zu haben oder ihn gar verhindern oder verschieben zu wollen.
Diese Hingabe an das Leben und an den Tod machte die Wikinger zu starken Gegnern. Aus heutiger Sicht schein...