Kapitel 1
Die Evolution der Seele
Nationale Weltanschauungen und die mit ihnen verbundenen Strömungen haben in der Geschichte vieler LĂ€nder ihre Schatten geworfen. Angesichts dieses Leids und Unrechts gerĂ€t jedoch in Vergessenheit, dass Schatten sowohl auf dem individuellen als auch auf dem kollektiven Erkenntnisweg nichts anderes als verzerrte (Seelen-)Aspekte sind, die der Heilung bedĂŒrfen. Doch was ist »Seele« ĂŒberhaupt?
Dass Mensch und Welt ein sie bestimmendes Selbst aufweisen, etwa als Seele oder als inneres Wesen (lat. essentia) bezeichnet, darĂŒber war und ist sich der gröĂte Teil der Menschen in fast aller Vergangenheit und Gegenwart einig. Nach Ansicht des an der amerikanischen Yale-UniversitĂ€t lehrenden Entwicklungspsychologen und Kommunikationsforschers Paul Bloom »handelt eine der aufregendsten Theorien der Kognitionswissenschaft von einer vorgegebenen Grundeinstellung des Menschen. Sie besagt, dass Dingen, Menschen und Ereignissen eine unsichtbare Wesenhaftigkeit innewohnt, die sie erst zu dem macht, was sie sind.«2
Anthropologen und interdisziplinÀr forschende Wissenschaftler haben darauf aufbauend die Hypothese aufgestellt, dass diese Annahmen instinktiv vorhanden und weltweit verbreitet sind.
Die apriorische Wesenhaftigkeit, die der Mensch an sich selbst und in der Welt wahrnimmt, ist Grundlage fĂŒr die groĂe Mehrzahl traditioneller und philosophischer Welt- und Men schenbilder. Als Atman, Tao oder Buddha-Natur bildet sie Bestandteil der meisten spirituellen Psychologien des Ostens und findet in fast allen Philosophien und monotheistischen Religionen des Abendlandes und des Nahen Ostens ihre Entsprechung. Deren Mythen beschreiben eine uns innewohnende Seele als Ausdruck und Spiegelung eines göttlich-geistigen Ursprungs. Diese Essenz ist der buchstĂ€bliche Grund, in dem und warum wir im tiefsten Innern eins mit der Welt sind. Sie »wird ⊠als die authentische, fundamentale und gegebene Natur dessen angesehen, wer wir sind. Ihre Erfahrung und Realisierung ist in allen Traditionen die zentrale Aufgabe spiritueller Arbeit und Entwicklung.«3
Doch diese Traditionen blieben nicht ohne GegenĂŒber. Die moderne Hirnforschung sieht in Seele und Ich anstatt emotionaler oder gar mythischer Wesenhaftigkeit lediglich das Konstrukt eines neurophysiologisch generierten Selbst-Impulses.4 Entsprechend bestĂŒnde keine Veranlassung mehr, die traditionelle Unterscheidung zwischen Seele und ihrem Schatten, dem Ego, vorzunehmen.
In der Alltagssprache beziehen wir uns heute mit Seele meist auf eine Art empfindlich-emotionales SelbstwertgefĂŒhl, das uns eine weitgehend unbewusste, spezifische PrĂ€gung verleiht.
Das sich rational erkennende und definierende Ich, so klĂ€ren uns Neurophysiologie und Hirnforschung bisher noch behutsam auf, ist bloĂes Konstrukt, ist ein Nichts in fassadenhafter IndividualitĂ€t. Allerdings mit evolutionsbiologischer Bedeutung fĂŒr Gattung und Individuum. »Genau genommen gibt es das Ich nicht ⊠Das Gehirn erzeugt diese Illusion, um sich besser in der Welt orientieren zu können.«5
Dabei repetiert neue Wissenschaft hier nur altes Wissen. Buddhismus und Veden hatten die Persona, die Maske, schon lange als solche bloĂgestellt. Sie ist bei ihnen der Schatten einer tieferen Seins-Wirklichkeit.
Seele in Sein und Werden
WĂ€re es nun denkbar, dass Neurophysiologie wie Geistestradition jeweils nur Teile des Ganzen sehen und dass das wahre Ich beides ist: ein uns mit unserer Erschaffung gegebenes und uns alle vereinendes Sein â und zugleich eine in jedem Menschen, dessen einzigartiges Werden zum Ausdruck bringende Kraft? Könnte unser innerstes Selbst sowohl ein Potenzial höchsten Bewusstseins darstellen als auch aus einer sich in relativer Freiheit individualisierenden und evolvierenden Ausdrucksform dieses Bewusstseins bestehen? Wobei dieses werdende Selbst dann zunĂ€chst ein vorbereitendes Schatten-Ich, ein »Ego«, in unserem Ă€uĂeren Alltagsbewusstsein konstruieren wĂŒrde?
Es ist eine revolutionĂ€re Vorstellung unseres tiefsten Selbst, die ĂŒber die zyklischen und unverĂ€nderlichen Wahrheiten von Mythen und Religionen wie auch ĂŒber die neurophysiologische RealitĂ€tsreduktion postmoderner Erkenntnis hinausgeht. Was sich darin ausdrĂŒckt, ist ein drittes und beide Haltungen integrierendes Paradigma, das heiĂt nicht weniger als ein neues Welt- und SelbstverstĂ€ndnis des Menschen.
Die Spiralen des Integralen
Um in der Lage zu sein, nationale Seele zu ermessen, einen Blick in den Abgrund und damit auch in die Tiefe dieses kollektiven Selbst zu werfen, bedarf es einer Integration jener seelischen QualitĂ€ten und eine ausreichende Heilung der egoischen Schatten des Einzelnen wie der Nation. Es ist dieser Prozess, der es ermöglicht, evolutionĂ€res Potenzial freizusetzen und letztlich Nationen und Menschheit aus den bestehenden Krisen zu fĂŒhren.
»Evolution« in erweiterter Interpretation ist tatsĂ€chlich der SchlĂŒsselbegriff des als integral bezeichneten ganzheitlichen Denkens und Bewusstseins. Das Modell einer Evolution des Bewusstseins in verschiedenen, aufeinander aufbauenden Stufen steht dabei im Zentrum aller integralen Entwicklungslehren. Philosophiegeschichtlich war es Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770â1831), der dabei das Grundelement stufenweiser Entwicklung als Erster vorgab. Jede These ruft eine Antithese hervor, beide finden sich in einer nĂ€chsten Stufe, der Synthese, in transformierter Form vereint. Diese wird, »wenn ihre Zeit erfĂŒllt ist«, selbst wieder zur These. Im Gegensatz zeigt sich eine tiefer liegende, verborgene Einheit, ein Zusammengehören des Verschiedenen. In seiner PhĂ€nomenologie des Geistes beschreibt Hegel die dialektische Bewegung als »den Gang des Geistes in seiner Selbsterfassung«.6
Integrale Denker wie der Jesuit und Wissenschaftler Teilhard de Chardin, der Yogi und Evolutionsphilosoph Sri Aurobindo Ghose, der Kulturtheoretiker Jean Gebser, der Anthroposophie-BegrĂŒnder Rudolf Steiner sowie zeitgenössische Bewusstseinsforscher wie Ken Wilber, Don Beck und andere trugen seit Beginn des vorigen Jahrhunderts jeder auf seine Weise zur komplexen Sicht der Entwicklung des Bewusstseins als der grundlegenden Evolutionsschiene bei.
Diese Evolution der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung liegt damit nicht nur der materiellen Weltentstehung, sondern auch der menschheitlichen Geschichte und letztlich dem Leben jedes Einzelnen zugrunde. Es ist dies allerdings keine teleologische Zielgerichtetheit, also göttliche Bestimmung, wie sie etwa christliches »Intelligent Design« proklamiert. Integral verstandene Bewusstseinsentwicklung hat einen evolutionÀren Freiheitscharakter, fast könnte man sagen, eine Unbestimmtheitskomponente, die neuesten Modellen des aktuellen Evolutionsdiskurses entnommen sein könnte.7
In der Darstellung Ken Wilbers und anderer integraler Lehrer bildet Bewusstseinsevolution den reziproken Prozess der vor dem Urknall in unvorstellbarer Zeitverdichtung vollzogenen Involution höchsten, das heiĂt absoluten Seins und Bewusstseins in die Materie.8
Diese Evolution ist in Sri Aurobindos Sicht sowohl die schrittweise Entfaltung jener zugleich immanenten wie transzendenten Information und SeinsqualitÀt als auch deren unendlich vielgestaltige Individuation in der manifesten Welt.9 Dies beschreibt und definiert das Bild einer evolutionÀren, integralen Seele in aller lebendigen Natur. Im fortgeschrittenen Grad der Individualisierung ist sie sowohl im einzelnen Menschen als auch im gewissen Maà in menschlichen Gemeinschaften wie der Nation zu finden.
Im Folgenden seien drei fĂŒr die Darstellung von Struktur und Evolution nationaler IdentitĂ€t besonders hervorzuhebende Wegbereiter und Ausdrucksformen dieses integral-evolutionĂ€ren Welt- und Selbstbildes vorgestellt. Den deutschen Idealisten und Romantikern widmen wir uns, weil ihnen als frĂŒh-integralen Denkern eine oft verkannte SchlĂŒsselrolle in der jĂŒngeren deutschen Seelengeschichte zukommt. Der Blick auf Spiral Dynamics kann uns das derzeit umfassendste integrale Evolutionsmodell kollektiven Bewusstseins erschlieĂen.
Und das integrale SeelenverstĂ€ndnis Sri Aurobindos ist fĂŒr uns wichtig, weil es erstmals die Struktur einer evolutionĂ€ren Essenz auch in Nationen wahrnimmt.
Deutsche Romantiker und Idealisten
Jahrzehnte vor Darwin lehrten und diskutierten in Jena, TĂŒbingen und Weimar die â meist jungen â deutschen Idealisten und Romantiker neue Ideen der Weltentwicklung. Ihre Philosophie schulen nahmen das integrale Paradigma erstmals in philosophischer Herleitung vorweg. Hegel und andere idealistisch und romantisch orientierte Denker definierten Weltgeschichte als Evolution des Bewusstseins.10
Weltentwicklung wird von ihnen seit deren Beginn, das heiĂt also bereits vor dem Auftauchen des Menschen, als fortschreitende irdische Offenbarung des »Absoluten Geistes« im Zusammenspiel sich entfaltender menschlicher Freiheit verstanden.
Entsprechend ist Geschichte »nicht das blinde UngefÀhr der (zeitgenössischen) Materialisten, dem Zufall und dem seelenlosen Mechanismus preisgegeben. Sie ist sinnhaft, wenn auch nicht auf ein geistig vorweg erfassbares Ziel hin geordnet. Die Verwirklichung der HumanitÀt ist ein experimentum mundi, ein offener Prozess, dessen Verlauf vom Menschen abhÀngt, auch wenn im Hintergrund eine Naturabsicht wirkt.«11
Der Philosoph Johann Gottfried Herder (1744â1803) war ein entscheidender Inspirator der deutschen Romantik und des deutschen Idealismus. Er vertrat die Ansicht, dass der Mensch nach seinem Auftauchen innerhalb der Abfolge der Lebensformen zunehmend zum Mit-TrĂ€ger der Evolution wird, zum koevolutionĂ€ren Subjekt. Diese Sicht ist nicht zu verwechseln mit mythischer Anthropozentrik. Im Gegensatz zu dieser, die dem Menschen schon bei der Schöpfung eine festgelegte Rolle zuweist, kommt in idealistischer und spĂ€ter in integraler Interpretation erst dem entstehenden Menschen im Laufe der Evolution eine ko-kreative Bedeutung zu. Diese Bedeutung ist zunehmend und entspricht der jeweiligen Entwicklungsphase seines Bewusstseins bzw. dem Reifegrad seines seelischen Wachstums.
Herders Ideen zur Entwicklung und Entfaltung eines der Welt und dem Menschen innewohnenden Bewusstseins wurden von Johann Wolfgang von Goethe, Hegel und Friedrich Schiller aufgegriffen und erweitert. In ihrer Gesamtheit entwarfen diese deutschen Philosophen und VisionĂ€re die Umrisse einer neuen, zugleich postreligiösen wie postmaterialistischen Weltsicht. In dem Weltbild einer geistig intendierten und beseelten Evolution mit der Reifung des Menschen zum ko-evolutionĂ€ren Partner der Natur trat ein zentrales Merkmal des evolutionĂ€ren oder integralen Paradigmas zum ersten Mal als Weltanschauung in Erscheinung. »Insbesondere in dem genuin romantischen, aber zugleich durch und durch rationalen Geist Schellings ⊠nahm eine bemerkenswerte Vereinigung von Wissenschaft und SpiritualitĂ€t erste Formen an. Indem er die evolutionĂ€ren Gedanken eines ganzen Jahrhunderts mit der idealistischen Philosophie des Kant-SchĂŒlers J. G. Fichte verband, prĂ€sentierte Schelling eine Alternative zu dem immer weiter vordringenden Materialismus, ⊠einen evolutionĂ€ren Idealismus.«12
Wir werden in Kapitel 4 und 5 bei der Betrachtung der jĂŒngeren deutschen Seelengeschichte sehen, wie sehr dieser Idealismus Ausdruck eines inneren Strebens dieses Landes ist â und wie sein Schatten die Deutschen gleichwohl ins VerhĂ€ngnis fĂŒhrte.
Memes von Mythos und Moderne â Spiral Dynamics
Das Modell von Spiral Dynamics (SD) beschreibt die evolutionÀre Bewusstseinsentwicklung von Gesellschaften. Das Konzept wurde von den US-Soziologen Don Beck und Chris Cowan auf Grundlage der Theorien von Clare W. Graves entwickelt und erstmals 1996 in einem gleichnamigen Buch vorgestellt.
Das Modell kann helfen, eine Gesellschaft evolutionÀr zu verorten, und damit im Kontext ihrer jeweiligen Seelenstruktur deren besondere Chancen und Aufgaben bei jedem Entwicklungsschritt deutlich machen. Hier soll das speziell am deutschen Beispiel geschehen.
Beck und Cowan bezeichneten die einzelnen Stufen der kollektiven Welt- und Selbstbilder als (Wert-)Memes. Sie stellen da mit das kulturelle Pendant zur biologischen Gen-Dynamik dar â ein Meme markiert hier einen Bewusstseinsinhalt im Sinne eines definierten Weltbildes oder Paradigmas, der durch Kommunikation weitergegeben wird und sich damit vervielfĂ€ltigt.
Seinen Namen hat SD durch die im Modell in Form einer Spirale reprĂ€sentierten Bewusstseinsentwicklung. Sowohl Don Beck als auch Ken Wilber sind der Auffassung, dass jedes Meme gesunde und ungesunde (pathologische) Versionen aufweist. Man könnte auch sagen, dass es jeweils einen spezifischen Gewinn, aber auch einen bestimmten Verlust an Erkenntniskraft und Moral bewirkt. Eine derart interpretierte Bewusstseinsevolution steht demnach nicht fĂŒr einen simplifizierten und stetigen »Fortschritt zum Besseren«. Im Gegenteil macht die Meme-Darstellung deutlich, dass erst die integrierende und wĂŒrdigende Gesamtschau aller bisherigen Bewusstseinsstufen und die gleichzeitige Unterscheidung ihrer QualitĂ€ten und Schattenseiten einen wirklichen Fortschritt bilden können.
Heute sind weltweit in unterschiedlicher Verbreitung eine Reihe der in SD aufgelisteten Memes im â meist schwierigen â Miteinander zu finden. Die gegenwĂ€rtige Entwicklung nationaler Gesellschaften wird besonders von folgenden, in ihrer evolutionĂ€ren Chronologie aufgelisteten Weltbildern oder »Memes der ersten Ebene« bestimmt:
â Mythos/Religion
â Ratio/Moderne
â Postmoderne
In SD-Perspektive markiert die postmoderne, sozusagen die fortgeschrittene RationalitĂ€t, die Voraussetzung und Schwelle zum groĂen Schritt in eine völlig neue Meme-Kategorie, eine ungleich komplexere und tiefere Bewusstseinsart. Dieses integrale Bewusstsein der »zweiten Ebene« ist vergleichbar mit dem Dimensionswechsel vom flachen zum rĂ€umlichen Sehen.
Die zweite Meme-Ebene beginnt mit den ersten, systemischen Stufen des integralen Bewusstseins. Dieses ist in allen seinen Stufenfolgen dadurch gekennzeichnet, dass es erstmals die Essenz aller vorhergehenden Memes in einer sich evolutionÀr ergÀnzenden Zusammenschau erkennen kann.
Ăber die weitergehenden, d.h. in die Zukunft reichenden Stufen und Entwicklungen des integralen Bewusstseins leistet SD keine spezifischen Vorhersagen.
Wir stehen heute, am Ende der Postmoderne, in der SD-Skala direkt am Beginn dieser neuen Evolutionsperspektive, an der Schwelle der Entfaltung dieses menschlichen Bewusstseins zweiter Ordnung. Wie wir weiter unten am Beispiel der seelischen Evol...