Rom, Träume
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Rom, Träume

Moravia, Pasolini, Gadda und die Zeit der Dolce Vita

  1. 304 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Rom, Träume

Moravia, Pasolini, Gadda und die Zeit der Dolce Vita

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Über dieses Buch

Die vielleicht schönsten Seiten der italienischen Nachkriegsgeschichte wurden in Rom zur Zeit der Dolce Vita, der fünfziger und sechziger Jahre geschrieben. Fellini und andere drehten in Cinecittà, auf der Via Veneto drängelten sich Hollywood-Stars. Das Antlitz der Zeit aber wurde geprägt von den Freunden um Elsa Morante, Alberto Moravia, Carlo Emilio Gadda, Ennio Flaiano und Pier Paolo Pasolini. Sie mischten sich mit polarisierender Stimme in das politische und kulturelle Geschehen. Mit ihren Büchern und heiß umstrittenen Filmen schrieben sie ein bis heute unvergängliches Kapitel italienischer Kulturgeschichte. Maike Albath macht in ihrem Buch, in dem viele Zeitzeugen zu Wort kommen, die unvergleichlich kreative Atmosphäre jener römischen Jahre noch einmal fühlbar.

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783937834924

»LASSEN SIE MICH IM SCHATTEN!«

Gaddas Enkel

An der Porta Pia trifft man wieder auf die römische Stadtmauer. Gleich dahinter liegt die Piazza Fiume. Bei Fiume – der italienische Name für die istrische Stadt Rijeka – fällt einem unweigerlich der größte italienische Abenteurer und Aufschneider ein, der ebenfalls lange in Rom zu Hause war: Gabriele D’Annunzio. Der Dichter und Veteran des Ersten Weltkrieges hatte 1919 mit seinen Freischärlern Fiume besetzt und dort ein autokratisch-anarchistisches Regime etabliert, weil Istrien entgegen den Versprechungen der Alliierten nun doch nicht Italien zugeschlagen werden sollte. Es passt, dass ausgerechnet an der Piazza Fiume die Mailänder Kaufhauskette La Rinascente eine Dependance hat, deren Name der Dichter Gabriele D’Annunzio erfand: die Wiedergeborene. Die Verknüpfung mit dem weiblichen Artikel ist ungewöhnlich, aber für ein Warenhaus genau das Richtige. Überhaupt lebt der Repräsentant des italienischen Dekadentismus im italienischen Alltag fort. Er taufte den »Sandwich« in das viel patriotisch klingendere Tramezzino um. Auch der Name der Keksfabrik Saiwa stammt von ihm. Der Mann war das erste Mediengenie Italiens, begeisterte mit seiner Lyrik und den pathosgeladenen Romanen die römischen Salons und bereitete von seiner Kleidung über die Gestik bis zu zitierbaren Äußerungen jeden Auftritt genau vor. Auf die Mischung aus martialischem Gehabe und aristokratischen Manieren fielen scharenweise Frauen herein, selbst eine Bühnenexpertin wie Eleonora Duse, die seine Geliebte wurde und sich mit der Finanzierung seiner Theaterstücke ruinierte. Mussolini hat sich viel bei ihm abgeschaut, und Berlusconi ließe sich ebenfalls als ein Wiedergänger dieses Typus deuten. So sehr Gadda später in die Groteske verliebt war – man merkt noch die leichte Parfumspur D’Annunzios in seinen frühen Werken. Preziöse Ausdrücke, ein gewundener Satzbau, ein gewisser Geschmack am Pathos. Damit ist seine Generation auch in der Schule imprägniert worden.
Die Zeit der Jahrhundertwende ist im Quartiere Salario wieder ganz nah. Es ist das Viertel, wo auch Alberto Moravias Vater einige Häuser gebaut hat, Elsa Morante wurde hier bei ihrer wohlhabenden Patentante untergebracht. An der Piazza Alessandria gibt es eine Markthalle, um die Ecke liegt ein toskanisches Restaurant, in dem Gadda gern zu Gast war. Auch Ennio Flaiano wohnte nicht weit weg. Hier herrscht römischer Alltag. In der Via Alessandria reihen sich Strumpfgeschäfte, Nudelläden und Juweliere aneinander. Eine Straße weiter, in der Via Nizza, liegt der Sitz der Brauerei Peroni, die 1864 gegründet wurde. »Nenn mich Peroni, ich werde dein Bier sein«, war einer der berühmtesten Werbesprüche der sechziger Jahre. Die ersten Plakate zeigten einen riesigen Bierkrug, umarmt von der Berliner Blondine Solvi Stubing, die in italienischen Spaghettiwestern leichtbekleidet Furore gemacht hatte. Der große Komplex, der bis 1971 in Funktion war, erstreckt sich mit seinen Produktionsstätten und Bürogebäuden von der Piazza Alessandria und der Via Mantova bis zur Via Nizza und Via Cagliari. Es ist eines der wenigen Zeugnisse römischer Industrie, in dem mittlerweile das Museum für zeitgenössische Kunst MACRO beherbergt ist, genau wie im Schlachthof von Testaccio. Das Goethe-Institut ist gleich um die Ecke, und wenn man die Via Nizza bis zum Ende geht und sich Richtung Norden hält, kann man über die Via Donizetti, wo Moravia aufwuchs, bis zur Piazza Verdi gelangen. Der wuchtige Palazzo del Poligrafico dello Stato, als staatliches Vervielfältigungsamt zwischen 1913 und 1918 gebaut, sollte mit seinen imposanten Säulen und der schieren Größe wieder einmal die Macht der Institutionen beschwören. Hier beginnt Parioli. Auch in den sechziger Jahren war es das Wohnviertel des Bürgertums. Am Campo de’ Fiori oder in der Via di Ripetta waren Eigentumswohnungen spottbillig, in Parioli kostete es viel mehr, denn die Gegend stand hoch im Kurs. Es war aber auch das Viertel der pariolini, berüchtigter neofaschistischer Schlägertrupps. Heute wirkt es ein bisschen wie ein Schlafzimmer: festgezurrte Laken, aufgeschüttelte Kissen, aufgeräumt und tadellos geputzt, aber ein bisschen eintönig und nach 19 Uhr fast ausgestorben. Nur auf dem Viale Liegi ist noch etwas los, an der Piazza Verdi huscht ein einsamer Hundebesitzer um die Ecke, ein paar Filipinas, typische Haushaltshilfen, tragen Plastiktüten voller Einkäufe in die Häuser. Die großen Gebäude stammen aus der Jahrhundertwende, stabile Kästen für gut betuchte Familien.
Es geht quer über den Hof, die Treppen hinauf. Dann dauert es eine Weile, bis Pietro Citati seine Wohnungstür aufbekommt. Man hört Schlüsselgeklapper, Drehung nach rechts, nach links, es müssen mindestens vier verschiedene Schlösser sein, und eines ist immer zu. » Elena«, höre ich ihn rufen. Er schließt noch einmal in die eine, dann in die andere Richtung, rüttelt. Nichts. »Elena, komm einen Moment.« Seine Frau kommt und hilft, und schon steht er vor mir, weit über achtzig, was seinem Scharfsinn keinen Abbruch tut, im Gegenteil. Wir gehen in den Salon. Die Bücher müssen anderswo sein, hier gibt es schwere Teppiche, Polstermöbel, Gemälde, Antiquitäten, von Generation zu Generation vererbt. In Kürze erscheine sein Briefwechsel mit Gadda, das wäre ein nützliches Buch. Seine Aufsätze kenne ich doch sicher? Cattaneos Zeugnisse? Die Studie von Roscioni natürlich? »Lesen Sie, lesen Sie!« Citati, 1930 in Florenz geboren, wuchs in Turin auf, wo er das berühmteste Gymnasium der Stadt besuchte, das Liceo D’Azeglio. Ohne diese Schule hätte es den Einaudi-Verlag vermutlich nie gegeben, eine ganze Generation italienischer Intellektueller ging aus ihr hervor. Citatis Familie verließ 1942 die piemontesische Industriestadt, die als Sitz der Fiat-Werke immer häufiger Ziel von Bombenangriffen der Alliierten wurde, und ließ sich in Ligurien nieder. Pietro Citati studierte in Pisa und zog dann nach Rom um, wo er einige Jahre lang Lehrer war, bis er sich ausschließlich der Literaturkritik widmete. »Gadda habe ich kennengelernt, als ich sechsundzwanzig Jahre alt war, es muss also 1956 gewesen sein. Ich hatte damals in der Zeitung über sein Kriegstagebuch Giornale di guerra e di prigionia geschrieben. Der Artikel gefiel ihm, er suchte den Kontakt, und wir begannen, uns regelmäßig zu sehen. Zwei, drei Mal die Woche. Außerdem rief er mich jeden Tag an, immer um die Mittagszeit. Er schaffte es, genau den Moment zu erwischen, in dem ich gerade den ersten Bissen von meinem Schnitzel abgeschnitten hatte und mir die Gabel in den Mund steckte. Das passierte an jedem einzelnen Tag der Woche. Aber ich konnte es ihm unmöglich sagen, er wäre vollkommen verstört gewesen, es hätte ihn vernichtet. Also habe ich jahrelang kaltes Schnitzel gegessen.« Citati spricht schnell, wie kleine Geschosse hängen seine Sätze einen Moment lang in der Luft, dann kommt schon der nächste und der nächste, kein Zögern, kein Äh, keine ornamentalen Schlenker, bis er plötzlich innehält, ohne die Stimme zu senken. Stille. Ich frage weiter. Binnen Sekunden breitet er ein ganzes Panorama der italienischen Literatur vor mir aus. Jeder hat seinen Platz. »Gadda ist der wichtigste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, und zwar nicht nur für Italien, da besteht gar kein Zweifel. Gadda und Svevo sind die bedeutendsten. Svevo etwas weniger. Vor allem Gadda. Was die Prosa angeht, haben wir keinen Größeren. Das betrifft nicht nur die Sprache. Seine Bücher sind tragisch und komisch. Sie besitzen eine grandiose Intensität.« Citati nahm Gadda damals die Verhandlungen mit den Verlagen ab, half ihm, die Manuskripte zu ordnen, wirkte als Herausgeber, korrigierte Druckfahnen. »Wir tauschten uns über unsere Lektüren aus, diskutierten, was wir lasen. Er sprach von seinen Ideen für neue Texte und wollte wissen, was ich davon hielte. Der Gesprächsstoff ging uns nie aus. Seinen großen Durchbruch hatte er 1957 mit der Grässlichen Bescherung. Aber er war schon seit den dreißiger Jahren einem Kreis von Eingeweihten durchaus bekannt.«
Trotz seiner wechselnden Stellen als Ingenieur, die ihn nach Süditalien, Belgien, Frankreich und Deutschland verschlugen, veröffentlichte Gadda immer wieder Prosatexte in Zeitschriften, bis er Mitte der dreißiger Jahre mit Il castello di Udine einen kleinen Erfolg landete. »Er bekam im April 1934 sogar den Premio Bagutta, das war seine erste offizielle Anerkennung«, sagt Citati. Ein renommierter, aber kurioser Preis, der bis heute von dem gleichnamigen Mailänder Restaurant vergeben wird. »Als ich den Raum betrat, an dessen Wänden lauter Salamiwürste aufgemalt sind, und die Juroren nach ihrem Kampf unbeweglich dort sitzen sah, wurde ich plötzlich von der Neugierde eines gewissen Publikums umfangen«, beschrieb Gadda die Erfahrung. »Im Bagutta lagen in jener Nacht Mandarinenschalen auf den Tabletts, auf den Tischdecken waren Weinflecken: der eine oder andere vergessene Torrone, viele Grappaflaschen und sehr leer, Damen mit Brillanten, eine Horde von Eingeweihten, die nicht wussten, wer ich war, viel Rauch und ein unbeschreibliches Stimmengewirr, das ab und zu, hier und dort zu einem Höllenlärm aufbrandete. Blitzlichter erforschten mich, so wie ein jäher Blick des Hausherrn im Frack auf einen Gast ohne Frack: Der Hausherr war das Publikum. Der Bagutta schien mir eine glückliche Subventionierung vonseiten des Vaterlandes für meine merkwürdige Reise durch den Ozean der Literatur. Und der Proto-Preis wurde im Moment der Verkündung bezahlt: Geld auf die Hand: dem Gesetz entsprechend italienische Valuta in Form von Millelire-Scheinen, an der Zahl fünf, ein bisschen fettig, aber nicht zu sehr: flüssige Währung, wie man sieht, sofort auszugeben. (Vergani überreichte mir eine Banknote nach der anderen mit einer sarkastischen und grinsenden Langsamkeit: nachdem er jede einzelne vor der Nase des Publikums herumgeschwenkt hatte.) (…) Der Bagutta hat ein großes Echo gehabt: einen Morgen lang in allen Zeitungen des italienischen Reiches: in manchen mit Bild. Was die ›Öffentlichkeit‹ angeht, ein Windstoß. Signora Introini, eine Cousine einer Schwägerin von Tante Teresa: ›Ach, ich wusste gar nicht, dass Sie ein so guter Schriftsteller sind: aber bravo, bravo. Und was machen Sie jetzt Schönes?‹« Wieder bemerkt man Gaddas Lust an der Übertreibung, die rasch groteske Züge entwickelt, den Gefallen an einer verschachtelten Syntax, die Selbststilisierung als passives Opfer aller Geschehnisse – und die leise Scham gegenüber der Familie, selbst wenn er sich über sie lustig macht. Die meiste Zeit gehörte damals ohnehin noch seinem Brotberuf. Einem Mailänder Freund beschrieb er es so: »Ich, Ingenieur Phantasie, ausgestattet mit Halbinseln und Vorgebirgen in Literatur, Wissenschaft, Kunst und Verschiedenem, befallen von politischen Tumoren und Niedergeschlagenheit nach den Mahlzeiten, beschäftige mich hier mit der Ausstattung verschiedener Elektrizitätswerke und habe mit Häkchen, Röhrchen, Porzellanteilchen, Seilchen, Gläschen, Eisenstückchen, Schächtelchen, äußerst schmierigen Ölfässern usw. usf. zu tun.«
Aber Pietro Citati soll uns mehr über den Werdegang des Schriftstellers erzählen, und dafür müssen wir noch einmal in die Katakomben seiner Familiengeschichte hinabsteigen. Im Frühjahr 1936 starb die Mutter Adele Lehr, und der Ingenieur konnte sich endlich von dem ungeliebten Klotz am Bein befreien, der Villa in der Brianza. Doch es war eine mühselige Auseinandersetzung mit, wie ihm schien, erpresserischem Personal, Pächtern und anspruchsvollen Bauern. Jeder wollte etwas von ihm. An seinen Freund Gianfranco Contini schrieb er am 26. Mai: »Liebster Contini, vielen Dank für Ihre Postkarte, die ich gestern, nach kurzer Abwesenheit, hier vorfand. Es wird schwierig werden mit einem Ausflug nach P. im Juni: Und ich käme so gerne mit! Aber mich fesseln hier etliche kleine Angelegenheiten, die meine materielle Anwesenheit erfordern, die Verfolgung durch die Bürokratie ist eine Qual. – Abgesehen davon hatte ich den Gedanken, nach Rom zu fahren, doch nicht aus Vergnügen, sondern um zu schauen, ob ich ›pro domo sua‹ etwas erreichen könnte. Ich habe den einen oder anderen Artikel für die Zeitung Ambrosiano geschrieben: Erst in diesen Tagen fange ich wieder an, ein bisschen zu arbeiten. Mein Landhaus (auch das ist ein schönes Ärgernis) verursacht mir mehr Kopfzerbrechen als eine hysterische Schwiegermutter. Es sind die schrulligen Hausfrauen, Brianzerinnen und hässlichen Villen einer Welt, die für immer untergegangen ist und uns nur noch fette Steuern hinterlässt, die wir zu bezahlen haben. Ich werde mich rächen.« Und tatsächlich: Die Erkenntnis des Schmerzes entstand, einige Kapitel erschienen 1938 in der Zeitschrift Letteratura. Es fällt allerdings auf, dass die Briefe an Contini tatkräftig klingen und recht unternehmungslustig, mit leicht sarkastischem Einschlag, was die familiären Pflichten angeht. Ganz anders der Ton in Briefen an Angehörige oder Freunde der Familie. An seinen Cousin Piero Gadda Conti schrieb er am 27. Dezember 1936: »Verzweiflung wegen Mamas Tod, mit der ich oft so wenig menschlich umging. Jetzt sind die üblichen Verwaltungsangelegenheiten, die dem Tod einer Person folgen, erledigt: Rathaus, Prätor, Notar usw. Aber ihr Bild, alt und ohne jede Hilfe, überfällt mich immer wieder, außerdem packen mich unbeschreibliche Gewissensbisse wegen meiner cholerischen Ausfälle, die so sinnlos und feige waren. Damals litt ich und war nicht Herr meiner selbst, aber meine Beklemmung ist jetzt unendlich. Ich habe schreckliche Wochen durchlebt, die sich vielleicht wiederholen werden. In Südamerika hielt ich es nicht aus, weil ich zu weit weg von Mama war. Und dann habe ich nicht bemerkt, was mir widerfuhr. Und jetzt?« Seiner Familie gegenüber gab er sich demütig und äußerte Schuldgefühle, vielleicht auch, weil er sich Absolution erhoffte. Er fühlte sich von allen im Stich gelassen: »Quälender Umzug von Longone nach Mailand, ohne die Hilfe einer Zugehfrau, Schwester, Gattin oder etwas Ähnlichem«, klagte er der Übersetzerin Lucia Rodocanachi sein Leid. »Ich muss mich um Matratzen, Besteck und lauter unglaublich komplizierte und sehr zerbrechliche Bilderrahmen von Porträts meiner Onkel und Tanten und Großonkel und Großtanten kümmern.« Hier spürt man allerdings schon wieder die Selbststilisierung – irgendwie schien er sich in dieser aufopfernden Rolle zu gefallen, denn die Hilfe seiner Schwester lehnte er brüsk ab. »Über die Beziehungen zu seinen Angehörigen sprach er eher selten«, erinnert sich Citati. »Zwar war er weit genialer als sein jüngerer Bruder Enrico, aber Enrico wurde von der gesamten Familie viel mehr verehrt. Carlo war plump und unbeholfen, Enrico liebenswürdig und charmant, mit einem Schlag bei den Frauen. Gadda fühlte sich sicherlich schuldig, dass der Bruder gestorben war und er noch lebte. Mit der Mutter wurde es schwieriger und schwieriger.« Es passt zu dem, was Piero Gelli erzählt hat.
Wie tief der Stachel saß, kann man in einem der raren Fernsehinterviews ermessen, die Gadda zuließ. Man sieht einen tadellos gekleideten alten Herrn mit Bürstenhaarschnitt im dunklen Anzug vor einer Bücherwand sitzen, die Mimik unbeweglich, die Intonation mechanisch. Der Film entstand 1972, ein Jahr vor Gaddas Tod. Damals litt er unter einer schweren Altersdepression; in den Aufnahmen wirkt er in der Tat gedämpft und unbeteiligt. Sekundenlang verliert der Schriftsteller die Contenance, als er auf die Mutter zu sprechen kommt. Es ist nur dem Langmut von Gian Carlo Roscioni und Ludovica Ripa di Meana zu verdanken, dass es überhaupt zu der Dokumentation kam. Das Unterfangen, bei dem wenige Minuten entstanden, nahm mehrere Tage in Anspruch. Die Fragen sind abgesprochen, und so lange es um Literatur geht, antwortet Gadda knapp und präzise. Ob der Vergleich seiner Werke mit Céline berechtigt sei? Ja, es bestünde durchaus eine Beziehung. Ob er lieber in Dantes Hölle oder im Fegefeuer schmoren würde? Sein Platz sei eigentlich die Hölle, aber im Fegefeuer wäre es erquicklicher, da gäbe es mehr zu durchstöbern und abzugrasen. Shakespeare? Ophelia sei eine dumme Gans, Opfer ihres Milieus. Tolstoi oder Dostojewski? Natürlich Dostojewski, der eine ganz andere Tiefe besitze. Die Brüder Karamasow, das sei es doch, er erinnere sich an Aljoscha, an einen Diener und an den Henker einer Katze. Weshalb er Elektrotechnik studiert habe? Eine fixe Idee seiner Mutter, die irgendwelche Cousins hatte, die Ingenieure waren, und deshalb wollte, dass ihre Söhne dasselbe täten. Aus dem Off ertönt die Stimme des Journalisten: »Hatte es mit Gehorsam zu tun?« Plötzlich kommt Bewegung in den beinahe Achtzigjährigen, zum ersten Mal hebt er die Stimme. Eine untergründige Wut wird spürbar, das Wohltemperierte ist plötzlich verschwunden: »Es hatte nichts mit Gehorsam zu tun! Es waren ganz einfach dumme Überzeugungen, die sie sich in den Kopf gesetzt hatte, auch für meinen Bruder.« Darauf die Erwiderung: »Wenn heute eine Mutter ihren Sohn zu etwas zwingen will, was er nicht möchte, rebelliert der Junge …« »Er rebelliert, wenn er die Fähigkeit hat, zu rebellieren. Wenn er körperlich schwächer ist als derjenige, der ihn zwingt, jene Sache zu tun, kann er sich nicht widersetzen! In meinem Fall entschied meine Mutter, dass ich eine bestimmte Sache tat und nicht eine andere.« Dann kommen Kindheitserinnerungen zur Sprache, und Gadda gewinnt seine Unbeweglichkeit zurück. Auf einer Fotografie seiner Klasse vom Liceo Parini sieht man einen Jungen mit einem hübschen Gesicht, Schmollmund und weichen Zügen. »Ich hatte eine recht ehrenvolle Abiturnote. Für den, der an Ehre glaubt. Ich glaube nicht daran.« Kurz darauf verliert er noch einmal für einen Moment die Fassung. Gadda erzählt von einem Milchfest, das er mit seiner Mutter im Park an der Mailänder Piazza Castello als Kind besucht habe. »Was ist ein Milchfest?«, fragt die unsichtbare Person aus dem Hintergrund. Gadda reißt die Arme hoch und wird lauter: »Ein Milchfest ist ein Fest, auf dem Molkereien Milch verkaufen, also, ich bitte Sie!« Die Dummheit der Medien, der Wandel der Gesellschaft, die so etwas von einem Schriftsteller verlangte, all das erfüllte ihn mit unendlichem Ekel. Mit der Massenkultur wollte Carlo Emilio Gadda nichts zu tun haben, er verachtete sie. An seinen Cousin Piero Gadda schrieb er 1960 einmal voller Scham: »Falls Du (unglückseligerweise) in der Grazia [einem Frauenmagazin, M. A.] einen Artikel über mich gesehen hast, bedenke bitte, dass ich dafür nicht verantwortlich bin. Man hat Hausfriedensbruch begangen, so wie es auch schon der Corriere d’ informazione tat. Was Exhibitionismus betrifft, bin ich schlichtweg das Gegenteil von Moravia und Pasolini: Allein der Anblick meines Gesichtes zwischen den Bikinis und Unterhöschen der Grazien von Grazia bringt mich vor Wut drei Wochen lang aus der Fassung! Ich erleide es, ich erleide es, und alles nur, um dem Verleger nicht zu schaden!« Gadda war viel konsequenter als Moravia und Pasolini, die oft versuchten, die Medien für ihre eigenen Anliegen zu nutzen. Der Ingenieur zog eine strikte Trennlinie zwischen Privat und Öffentlich. Vor allem Grauzonen waren ihm verhasst. »Bitte lassen Sie mich im Schatten«, flehte er die Journalisten an. Es scheint da auch einen Zusammenhang mit seiner ästhetischen Radikalität zu geben. Radio und Fernsehen ließ er höchstens als erzieherische Instrumente gelten. Sie mussten Inhalte transportieren, etwas vermitteln. Obwohl es sich bei dem TV-Porträt um ein gewöhnliches Interview handelt, wird einiges kenntlich: Gaddas Menschenscheu, das Misstrauen jeglicher Spontaneität gegenüber, etwas Unduldsames, aber vor allem bemerkt man einen kaum verschleierten Hass auf die Mutter, der er die Schuld an der Tragödie seiner Jugend gibt, nämlich dem Ergreifen des falschen Berufes.
Gleichzeitig war die Mutter das schwarze Herz seines ersten Hauptwerkes, der Erkenntnis des Schmerzes, und es ist, wie Contini gegenüber schon angekündigt, tatsächlich ein Rachefeldzug. Mit der Arbeit begann er ein Jahr nach dem Tod von Adele Gadda. Der Schriftsteller selbst hielt es für das einzige seiner Bücher, von dem etwas bleiben werde. Als es 1963 herauskam, sprach er von »einer tragischen Autobiographie« und dem »verzweifelten Versuch, seine Jugend zu rechtfertigen, als jemand, der durch den narzisstischen und vollkommen verrückten Egoismus seiner Vorfahren zum Scheitern verurteilt gewesen ist«. Gleichzeitig hätten sich die Vorahnungen der Katastrophen des Zweiten Weltkrieges auf den Text niedergeschlagen. Um zu den tieferen Beweggründen der Gesellschaft jenseits des »Schimmelbefalls der biologischen Welt«, wie der Verfasser es nannte, vorzudringen, sei eine besondere Sprache vonnöten gewesen: So begründet er seine »paroxistische Tonart«, die barocken Wendungen und die Steigerung zur verhöhnenden Groteske. Den Titel Die Erkenntnis des Schmerzes müsse man wortwörtlich nehmen. Es gehe um die graduelle Annäherung an diesen Begriff, um eine Erforschung.
Schauplatz ist das fiktive südamerikanische Land Maradagàl, hinter dem sich die lombardische Brianza verbirgt und das gerade einen furchtbaren Krieg überstanden hat. Gadda eröffnet die Erkenntnis mit einer Beschreibung der politischen Verhältnisse, der unwirtlichen Umgebung und des Klimas und karikiert damit den klassischen Einstieg eines naturalistischen Romans. Eine »Wach- und Schließgesellschaft« aus lauter skrupellosen Veteranen hat sich das Land ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Vorbemerkung
  5. Im Sanatorium
  6. Via Veneto – Das Leben der Boheme
  7. Die Neuen Bürger – Familie Pincherle
  8. Langeweile – Alberto Moravia und »Die Gleichgültigen«
  9. Testaccio – Im Bauch von Rom
  10. Abends im Café – Piazza del Popolo
  11. Via Della Paglia – Die Zeit der Fahrraddiebe ist vorbei
  12. Campo de’ Fiori – Die bittere Stadt
  13. Leidenschaft und Ideologie – Pier Paolo Pasolini
  14. Die Herrlichen Eigentümer der Nacht – Pasolini entdeckt Rom
  15. Die Liebe in Italien – Comizi d’amore
  16. Am Wasserflughafen von Ostia – Tod eines Freibeuters
  17. Nur die Einzelgänger Verständigen Sich – Andrea Zanzotto und Pier Paolo Pasolini
  18. Rohrsysteme und Versorgungsschächte – Der Ingenieur Carlo Emilio Gadda
  19. »Lassen Sie Mich im Schatten!« – Gaddas Enkel
  20. Die Einsamkeit des Satirikers – Ennio Flaiano
  21. Das Bittersüsse Leben – La dolce vita
  22. Finale: Frauen in Rom – Franca Valeri
  23. Literatur / Bildnachweise
  24. Impressum