1. Eine einfache Frau aus dem Innergebirg – Maria Etzer: Herkunft und Familie
1.1 Lebensort und Herkunft
Goldegg im Pongau18, im sogenannten „Innergebirg“ des österreichischen Bundeslandes Salzburgs gelegen, ist heutzutage als Gemeinde des sanften Sommer- und Wintertourismus sowie als Tagungsort für die vom Kulturverein veranstalteten „Goldegger Dialoge“ bekannt, die im Schloss Goldegg stattfinden.
Im aktuellen ästhetisch bebilderten Fremdenverkehrsprospekt wirbt man mit Geschichten von unberührter Natur, bäuerlicher Lebensart und Brauchtum, Schützen und Trachtenfrauen, aber auch einem Golfplatz und einem Langlauf-Olympiasieger. Es gab andere Zeiten, da warb man für Goldegg als „arische Sommerfrische“.
In der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts kamen angesehene Kaufleute aus der Salzburger Altstadt ab Mitte Juni zur Sommerfrische zu ein paar großen Gastbetrieben an den Moorseen (Goldegger- und Böndlsee) und reisten zur Festspielzeit wieder ab, Ende Juli kamen dann die Wiener, so ein Wirtssohn in seinen Erinnerungen.19 Einzelne jüdische Gäste seien auch dabei gewesen. In der kalten Jahreszeit sei Goldegg damals im Winterschlaf gelegen.
„Kargheit und Kälte, geographisch wie emotional“20, habe die Kinder damals geprägt, so der Arbeitersohn und Schriftsteller O. P. Zier aus Lend, der Nachbargemeinde, die an einer Enge tief im Salzachtal liegt. Dort stürzt die Gasteiner Ache in Schluchten nieder und wurden seit Jahrhunderten Erze gewonnen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts bot eine Aluminiumfabrik Beschäftigung, verpestete aber auch die Luft.
Ein Teil der Arbeiter waren gleichzeitig Bergbauern, so auch Maria Etzers Schwiegersohn Alois S., die vom sonnigen Buchberg, noch zu Goldegg (Pongau) gehörig, auf einem Fußweg dreihundert Höhenmeter hinunter nach Lend (Pinzgau) in die Fabrik gingen. Eine Straße gab es damals noch nicht. Auch die Schulkinder, darunter alle Töchter von Maria Etzer, besuchten dort die Volks- und Hauptschule, eine Dreiviertelstunde bergab. Margarethe, die Jüngste, trug auf dem Schulweg noch Milch in kleinen Kannen aus.21 Der Heimweg bergauf war noch länger.
Der Buchberg mit seinen Bauernhöfen an steilen Hängen hoch über Lend, viel näher an dieser Gemeinde als an Goldegg gelegen, ist der Ort, an dem Maria Etzer als Lehenbäuerin von 1911 bis zu ihrer Verhaftung 1943 mit ihrer großen Familie lebte und wirtschaftete.
Ein früher Reisender, ein Salzburger Domherr, beschrieb die Landwirtschaften im klimatisch begünstigten Gemeindegebiet von Goldegg 1798 so: „Kleine Hügel und Täler, untermengt mit zerstreut liegenden, meistens von Kirschbäumen umgebenen, gut gebauten Bauernhöfen“ in der Nähe schroffer Felsengebirge, die die Sonnenstrahlen reflektierten. Die Bauern charakterisierte er folgend: Sie „wiedersetzen [sic] sich gern neuen Verordnungen, sind zu Spott und Zank sehr geneigt und selten strenge Verehrer des 6. Gebots“.22 Sogar eine Abgabe namens „Aufruhrschilling“ hätten manche Höfe infolge von Bauernaufständen leisten müssen, so der frühe Reisende – einen wesentlich dramatischeren Blutzoll hatten 1944 Goldegger Deserteure23 und die sie unterstützende bäuerliche Bevölkerung von Goldegg-Weng zu entrichten. Das Gedächtnis daran ist bis heute in der Gemeinde Inhalt kontroverser Debatten.
Maria Etzer wurde als Maria Höller am 28.Juli 1890 in Taxenbach im Pinzgau geboren24 und römisch-katholisch getauft. Sie kam aus armen Verhältnissen, war ein lediges erstgeborenes Kind ihrer Mutter Regina Höller, geboren am 12.Februar 1866 in St. Johann im Pongau, Dienstmagd, und des ebenfalls ledigen Vaters Johannes Mittersteiner, geboren am 25.Dezember 1854 in Goldegg, von Beruf Zimmermeister in St. Johann.
Die ledige Magd konnte ihre Tochter nicht behalten, so wuchs Maria auf einem anderen Hof auf. Das war damals in der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft im Salzburgerland nichts Ungewöhnliches. Zur arbeitsintensiven Viehhaltung wurden viele Dienstboten gebraucht. Die meisten von ihnen konnten sich mangels Besitz niemals verheiraten. Sogenannte „ausgestiftete“ Kinder wurden in anderen Familien gegen Kostgeld oder Arbeitsleistung untergebracht: „Sie wurden nicht uneigennützig aufgenommen, sondern mussten sich früh ihr eigenes Brot verdienen.“25 In Maria Etzers im Zuchthaus verfassten Lebenslauf vom 6.Mai 194326 heißt es dazu:
„Ich wurde bei einem Bauern in Taxenbach erzogen. Meine Ziehmutter hieß Theresia Hölzl. Die Erziehung war gut, jedoch Mutterliebe vermißte ich.“
Die Angaben im Lebenslauf erzählen nicht nur Biografisches, sondern spiegeln der Nazi-Ideologie gemäß auch peinliche Befragungen zu Gesundheit und Charakter der Vorfahren. Maria Etzer schreibt:
„Meine Mutter ist gestorben an einer Herzlähmung nach einer Kropfoperation. Sie war nie gerichtlich bestraft und war zu mir gut. Sie war mit einem anderen Mann verheiratet, nicht mit meinem Vater. Sie war eine fleißige Hausfrau und mußte ziem. lange allein für ihre Kinder sorgen, da ihr Mann früh gestorben ist. Ich habe meine Mutter erst im 13. Lebensjahr kennengelernt. Sie hat sieben Kinder geboren, wovon alle noch am Leben sind. Sie war einmal schwer krank, nie geisteskrank und keine Trinkerin.“
Nicht nur den Kropf „erbte“ Maria von ihrer Mutter. Das Schicksal der Regina Höller, die „ziemlich allein“ für ihre Kinder sorgen musste, weil ihr Mann früh verstarb, ereilte später auch Maria Etzer selbst.
„Ich besuchte eine dreiklassige Volksschule. Ich lernte kochen, dann heiratete ich, habe den Beruf nicht gewechselt.“
1.2 Heirat und Nachkommen
„In Dienst und Aufenthalt im Gasthof Eder in Schwarzach“, wie es für sie als knapp 21-jährige Braut heißt, hatte Maria vielleicht auch den am 15. Februar 1878 in St. Georgen im Pinzgau gebürtigen Johann Etzer, ihren späteren Ehemann, kennengelernt. Vor der Hochzeit am 16.Mai 1911 in der Wallfahrtskirche Maria Alm musste sie noch als volljährig erklärt werden (regulär damals erst mit 24 Jahren).
Links: Maria Etzer als ca. 20-jährige Trauzeugin. Quelle: Familie Oblasser, Taxenbach; rechts: Hochzeit mit Johann Etzer 1911. Quelle: Familienbesitz
Ihr Vater Johann Mittersteiner, der sich viele Jahre nicht um seine Tochter gekümmert hatte, war gegen diese Heirat und die Zukunft seiner Tochter als Bäuerin.
Der Vater habe ihr, so Maria Etzers spätere Ziehtochter und Enkelin E., einen Brief mit den Anfangsworten geschrieben: „Liebe ungehorsame Tochter!“, und, obwohl er als Meister des Zimmerhandwerks zu einigem Geld gekommen war, keine Kuh geschenkt. Stattdessen habe er sich, so Enkelin E., lustig gemacht über die Braut, die nach der vormittäglichen Hochzeit schon am Nachmittag in den Stall ihrer Keusche gehen müsse. Über ihren Vater berichtet Maria Etzer in ihrem Lebenslauf von 1943 Folgendes:
„Er war Zimmermann, hatte keinen Besitz, das damalige Barvermögen durch Inflation entwertet. Mein Vater war nie verheiratet, auch nie gerichtlich bestraft. Er war zu mir gut. Er war auch ein sehr fleißiger Arbeiter. Er war auch nie geisteskrank.“
Wie in Kapitel 2.7 näher erläutert, verlor der Vater 1925 durch Geldentwertung seine gesamten Ersparnisse. Maria Etzer musste, im selben Jahr 1925 Witwe geworden, ihren 71-jährigen Vater auf dem von ihm zuvor geringgeschätzten Hof aufnehmen und in Krisenzeiten neben einer großen Kinderschar mitversorgen, bis zu dessen Tod drei Jahre später. Dementsprechend schreibt sie zu ihren eigenen finanziellen Verhältnissen in ihrem Lebenslauf 1943:
Lebenslauf, verfasst im Zuchthaus Aichach 1943, Seite 1. Quelle: Staatsarchiv München
„Meine Vermögensverhältnisse waren stets sehr gering, habe in dieser Beziehung viel und Schweres mitgemacht.“
Das war auch bedingt durch die höchst schwierigen Rahmenbedingungen in der Weltwirtschaftskrise – viele andere Höfe wurden versteigert, ihrer war 1938 schuldenfrei.
Die selbst ledig geborene und als Ziehkind aufgewachsene Maria hatte als Einundzwanzigjährige die Chance ergriffen zu heiraten und damit eigene Kinder selbst großzuziehen. Auch ein Ziehkind war von Anfang an dabei. Ihr Mann, der 33-jährige Johann Etzer, aus einer bäuerlichen Familie in St. Georgen im Pinzgau gebürtig, hatte schon vier uneheliche Kinder gezeugt, zuerst die Schwestern Maria, genannt „Moidai“, geboren 1907, und Zäzilia, geboren 1908. Deren Mutter Viktoria S., eine Dienstmagd, heiratete er aber nicht. Mit anderen Frauen zeugte Johann Etzer noch einen Sohn und eine weitere Tochter. Diese Marie H., geboren ca. 1908, brachte Johann Etzer mit in die Ehe. Sie sollte später im Alter von 21 Jahren an Leukämie sterben und ihre eigene Tochter R. als Ziehkind bei Maria Etzer hinterlassen.
Johann Etzer kaufte als weichender Bauernsohn 1911 am Buchberg in Goldegg einen bescheidenen Hof, den Lehenhof. Vielleicht hatte auch seine Braut Ersparnisse aus Lohn und Trinkgeld als Köchin eingebracht, jedenfalls wurden beide zu gleichen Teilen im Grundbuch eingetragen.
Eine gewisse Zielstrebigkeit und strategische Ader ist dabei Maria Etzer sicherlich zuzuschreiben: Sie bringt Johann dazu, eine Ehe einzugehen, indem sie ihn der Mutter seiner ersten beiden Kinder, Viktoria S., „wegschnappt“ (wie diese sich beklagte). Maria Etzer wird Ehefrau statt ledige Mutter und wird ihre Kinder selbst aufziehen. Ein voreheliches Kind ihres Mannes nimmt sie auf, aber sie ist von Anfang an Besitzerin der Hälfte von Haus und Hof. Wie wichtig und existenzsichernd das wurde, z...