VII. Zusammenfassung
Die Caritas-Anstalt St. Anton in Bruck an der Großglocknerstraße nahm laut den Eintragungen im Aufnahme- und Entlass-Journal von 1923 bis August 1944 456 BewohnerInnen auf. Zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ im März 1938 waren 110 Kinder, Jugendliche und Erwachsene,400 die geistig und teilweise auch körperlich beeinträchtigt waren, in St. Anton registriert. Die Kinder und Jugendlichen besuchten die private Hilfsschule mit Öffentlichkeitsrecht bzw. die Arbeits- und Nähschule. Andere Jugendliche und junge Erwachsene wurden nach ihren Möglichkeiten als Hilfskräfte in den anstaltseigenen Betrieben (Landwirtschaft, Hauswirtschaft) beschäftigt. Eine größere Anzahl der über die Jahre in die Anstalt aufgenommenen HilfsschülerInnen und Arbeitszöglinge hatte St. Anton in den Jahren vor 1940 bereits verlassen.
Die von der Caritas geführte Anstalt und ihre BewohnerInnen gerieten nach dem „Anschluss“ Österreichs bald in das Visier der nationalsozialistischen „Ausmerzungs“- und Tötungsmaschinerie. Beauftragte des Regimes unterzogen die Anstalt in Form von Kommissionen während der NS-Zeit mindestens zweimal einer „Visitation“. Die Absicht, die Anstalt wie schon vorher das Konradinum Eugendorf zu schließen und für eigene Zwecke zu nutzen, scheiterte am baulichen Zustand. Wahrscheinlich im ersten Halbjahr 1940 – der genaue Zeitpunkt ist nicht bekannt – mussten in der CA St. Anton für die BewohnerInnen Meldebögen ausgefüllt werden, die die Basis für die Selektion bildeten. Bei einer angegebenen Bettenkapazität von 100 wurden 88 Meldebögen ausgefüllt und nach Berlin gesandt.401
Zwischen 1940 und 1944 fielen den verschiedenen Aktionen der NS-„Euthanasie“ 47 ehemalige BewohnerInnen der Caritas-Anstalt zum Opfer. Sieben Opfer kamen direkt von St. Anton in jene Anstalt, in der sie ihr Leben verloren. 40 lebten vor dem Zeitpunkt ihrer Deportation in jene Anstalt, in der sie schließlich getötet wurden, schon eine Weile nicht mehr in St. Anton. 39 der 47 Opfer verloren durch die „Aktion T4“ in der Tötungsanstalt Hartheim ihr Leben. Ein Mädchen fiel der „Kinder-Euthanasie“ in der Kinderfachabteilung „Am Spiegelgrund“ zum Opfer. Sieben Kinder und Jugendliche verloren in den Landesheilanstalten Niedernhart (6) und Mauer-Öhling (1), mit großer Wahrscheinlichkeit aufgrund dezentraler Anstaltstötungen, ihr Leben. Im Gegensatz zu Salzburger Anstalten wie die LHA Salzburg-Lehen und die Pflegeanstalt im Schloss Schernberg, aus denen mehrere Transporte in die Zwischenanstalt Niedernhart bzw. in die Tötungsanstalt Hartheim führten, war die Abholung oberösterreichischer Kinder und Jugendlicher im Juni 1940 die einzige Deportation, die von der CA St. Anton aus erfolgte.
Von den insgesamt 47 Opfern stammten 25 aus Salzburg, 13 aus dem benachbarten Bundesland Oberösterreich, drei aus dem benachbarten Bundesland Tirol und zwei aus Niederösterreich. Je ein Opfer stammte aus den Bundesländern Wien, Steiermark und Kärnten. Bei einem Kind ist die Herkunft unbekannt. Die kürzeste Aufenthaltsdauer der 47 Opfer in der Caritas-Anstalt St. Anton umfasste sieben Tage, die längste 16 Jahre und sieben Monate. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in der CA St. Anton betrug pro Person etwas mehr als drei Jahre. Das bedeutet, dass einige wenige Personen aus der Gruppe der Opfer nur ganz kurze Zeit in St. Anton waren, viele jedoch eine längere Zeit dort gelebt haben und einzelne BewohnerInnen den größten Teil ihrer Lebenszeit in St. Anton verbrachten! Das älteste erwachsene Opfer wurde 39 (bzw. 40)402 Jahre alt, das jüngste Kind verlor im Alter von nur sechs Jahren und zehn Monaten sein Leben. Das durchschnittlich erreichte Lebensalter der 47 Opfer umfasste rund 14 Jahre und 9 ½ Monate.
Die von Dr. Erwin Jekelius, damals Leiter der Kinderfachabteilung „Am Spiegelgrund“, am 23. Oktober 1941 schriftlich „zur Begutachtung“ verlangte Überstellung von sieben BewohnerInnen, nach vorhergehender Rückfrage in der KFA, wurde von den für St. Anton Verantwortlichen ignoriert, indem die verlangte Rückfrage nicht durchgeführt wurde. Diese Entscheidung hat diesen Kindern mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben gerettet, da mehr als ein Drittel der Kinder und Jugendlichen, die in die Anstalt „Am Spiegelgrund“ eingewiesen wurden, dort umgekommen ist.403 Fünf von den sieben auf der von Dr. Jekelius verfassten Anforderungsliste namentlich angeführten BewohnerInnen der CA St. Anton haben auch die weitere NS-Zeit nachweislich überlebt, zwei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit.
Mindestens eine Bewohnerin (Elisabeth H.) wurde auf Grund eines Beschlusses des „Amts- als Erbgesundheitsgericht Salzburg“ zwangssterilisiert. Das gegen eine weitere Bewohnerin (Frau A) gerichtete Erbgesundheitsgerichtsverfahren ist mit einem derzeit unbekannten Ergebnis gesichert. Elisabeth H. miteingerechnet, wurden vom Amtsarzt 24 BewohnerInnen und vom Gaujugendamt eine Person zwangsweise „zur Beobachtung“ in Heilanstalten eingewiesen. 13 dieser „zur Beobachtung“ transferierten BewohnerInnen wurden als „erbkrank“ angezeigt, Elisabeth H. tatsächlich zwangssterilisiert. Ob die anderen zwölf Angezeigten sowie weitere BewohnerInnen der CA St. Anton zwangssterilisiert wurden, muss hier offen bleiben.
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„Doch der Himmel wachte über die Seinen.“ – Ein Nachsatz
Die Jahrzehnte nach Endes des Krieges waren von Verdrängung und vom Wunsch nach Vergessen gekennzeichnet. Erst die Waldheim-Affäre404 brachte Bewegung in das österreichische Geschichtsbild, das bis dahin vom Opfermythos geprägt war. Die im Gedenkjahr 1988 von Seiten staatlicher und privater Organisationen gesetzten Aktivitäten veränderten ebenfalls die Wahrnehmung des Geschehenen.
In der bemerkenswerten Gedenkausgabe des Rupertusblattes, Kirchenzeitung der Erzdiözese Salzburg, vom Sonntag, dem 13. März 1988,405 wurden 2400 Opfer des NS-Terrors namentlich genannt. Explizit ungenannt blieben „die Juden und Zigeuner, die in der Vernichtungsmaschinerie des Holocaust umgekommen sind“. Nicht genannt wurden aber auch die Opfer der „Euthanasie“, wobei die Tatsache und der Grund dafür (Unkenntnis der Namen der Opfer, Datenschutz…) nicht erwähnt wurden. Lediglich ein kleines Foto von Anna Bertha Königsegg und wenige Zeilen über ihren couragierten Widerstand gegen die Deportation der BewohnerInnen von Schernberg406 stehen, die...