Ylva Schwinghammer
Empirische Erhebungen zum Umgang mit älterer deutscher Literatur und Sprache im Unterricht
Eine vorläufige Bestandsaufnahme
Obwohl gerade der Bereich mittelalterlicher Literatur und Sprache im Deutschunterricht immer wieder Gegenstand von Diskussionen ist und sich in Zusammenhang mit der Didaktik älterer deutscher Texte zahlreiche spannende Forschungsfelder ergeben, die auch über die thematische Begrenzung des Teilfaches hinauswirken könnten, haben empirische Erhebungen zu diesem speziellen Bereich der Deutschdidaktik bisher noch Seltenheitswert. Der vorliegende Beitrag versucht einen Überblick über bisherige Erhebungen, deren zentrale Erkenntnisse sowie weiterführende Fragestellungen.
Auch wenn die sogenannte empirische Wende im Fahrwasser der PISA-Studie mittlerweile längst auch in der Literaturdidaktik angekommen ist und diese in den letzten Jahren eine stetig steigende Zahl empirischer Forschungsprojekte vorweisen kann (vgl. Boelmann/Oedingen 2016, S. 5), haben empirische Untersuchungen zum speziellen Bereich mittelalterlicher Sprache und Literatur innerhalb der Deutschdidaktik bisher eher Seltenheitswert. Gerade auf einem Gebiet, wo mitunter große Diskrepanzen in der Wahrnehmung, konträre Meinungen und Unsicherheiten bezüglich des Einsatzes von Texten im Unterricht vorherrschen, bleibt daher vieles der Spekulation und dem subjektiven Empfinden überlassen. Der vorliegende Beitrag versucht, einen Überblick über bisher im Rahmen empirischer Untersuchungen gewonnene Erkenntnisse zu schaffen und eine erste Zwischenbilanz zu ziehen. Folgende Studien aus den vergangenen Jahren wurden dafür herangezogen:
[1] GÜNTHER BÄRNTHALER: Gahmuret, Parzival und Gawan als Aufforderung zur Reflexion männlicher Geschlechtsidentität im Deutschunterricht. In: Bärnthaler 2010
Untersuchung zur Wirksamkeit einer komplexen Unterrichtseinheit zu Wolframs Parzival
[2] THOMAS MÖBIUS: Ältere deutsche Texte in Lese- und Sprachbüchern. In: Möbius 2010 Quantitative und qualitative Analyse von in Lese- und Sprachbüchern verwendeten Texten aus dem Bereich der älteren deutschen Literatur
[3] THOMAS MÖBIUS: Eine Mikrostudie zum Verstehen von älteren deutschen Texten. In: Möbius 2010
Untersuchung zu Qualität und Tiefe des Verständnisses mittelalterlicher Texte in Zusammenhang mit Vorwissen und Präsentationsweise unter Studierenden der Pädagogischen Hochschulen in Heidelberg und Freiburg
[4] THOMAS MÖBIUS: Die Didaktik eines symmedial-textnahen Verstehens älterer deutscher Literatur im Kontext konkreter Unterrichtseinheiten. In: Möbius 2010
Erhebung zu Lernmotivation und -zufriedenheit von Studierenden anhand von mehreren symmedial konzipierten Einheiten zu unterschiedlichen mittelalterlichen Texten
[5] YLVA SCHWINGHAMMER: Schülerbefragung zu Leseinteressen und -erfahrungen in Zusammenhang mit Kinderbüchern über das Mittelalter. In: Schwinghammer 2013 Fragebogenerhebung unter 165 Schülern und Schülerinnen der Sekundarstufe I an mehreren Schultypen und -standorten in der Steiermark zu ihren Lektürepräferenzen und -erfahrungen im Bereich des Kinder- und Jugendbuchs mit besonderem Augenmerk auf das Thema Mittelalter
[6] YLVA SCHWINGHAMMER: MIDU – Mittelalter im Deutschunterricht. In: Schwinghammer 2013 Fragebogenerhebung unter 250 Lehrpersonen und 390 Lehramtsstudierenden im Unterrichtsfach Deutsch in Österreich, Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz
[7] JENNIFER GEIPEL, MARIA KOCH: Studentische Überzeugungen zur Behandlung mittelalterlicher Literatur im Deutschunterricht (ÜmiLiS). Publikation in Vorbereitung
Qualitative Interviewstudie unter Lehramtsstudierenden des Unterrichtsfaches Deutsch zu Erfahrungen und Überzeugungen in Zusammenhang mit mittelalterlicher Literatur
[8] YLVA SCHWINGHAMMER: Schülerbefragung zu Interesse, Relevanz, Vorwissen und Motivation in Zusammenhang mit mittelalterlichen Texten in der Schule. Teilweise in: Schwinghammer 2013
Fragebogenerhebungen [a] unter Maturanten und Maturantinnen an vier steirischen Schulen im Jahr 2011 sowie [b] in zwei NMS-Klassen im Vorfeld eines Mittelalterprojektes im Schuljahr 2010/11
[9] YLVA SCHWINGHAMMER: Textverstehenserhebung im Rahmen des Projektes Arbeitskoffer zu den Steirischen Literaturpfaden des Mittelalters. Teilweise in: Schwinghammer 2015a und 2016
Mehrphasige Erhebung zum Verstehen und Übersetzen mittel- und frühneuhochdeutscher Texte: [a] Fragebögen und teilstandardisierte teilnehmende Beobachtung in drei Projektklassen an einem steirischen Gymnasium sowie [b] schriftliche Erhebung unter 559 Studierenden, Schülern und Schülerinnen in der Steiermark in den Jahren 2013 bis 2015
[10] YLVA SCHWINGHAMMER: Problematiken und Potentiale in Zusammenhang mit mittelalterlicher Literatur und Sprache aus der Sicht von Lehramtsstudierenden. Unveröffentlicht Schriftliche Erhebung unter 52 Lehramtsstudierenden des Unterrichtsfaches Deutsch an der Karl-Franzens-Universität Graz in den Jahren 2015 und 2016
Wenngleich die meisten der genannten Untersuchungen mit vergleichsweise geringen Probandenzahlen oder lokal begrenzten Stichproben auskommen (mussten) und daher kaum den Anspruch erheben können, allgemein gültig zu sein, sind sie dennoch dafür geeignet, Trends, Tendenzen und Stimmungsbilder sichtbar zu machen und wertvolle Anhaltspunkte für weiterführende Untersuchungen zu bieten.
1. Relevanz und Stellung im Deutschunterricht
Nicht erst seit der Kompetenzorientierung, die den Fokus der Unterrichtsgestaltung weniger auf zu vermittelnde Inhalte (und damit auch weg von einer literaturgeschichtlich motivierten überblickshaften Textauswahl) als auf zu erreichende Fähigkeiten und Fertigkeiten legt, wurde und wird das Mittelalter als fixer Bestandteil des Deutschunterrichts immer wieder in Frage gestellt. Während mittelalterliche Literatur im österreichischen Lehrplan der Sekundarstufe II nach wie vor dezidiert genannt wird,1 ist das in vielen deutschen Bundesländern nicht (mehr) der Fall, wobei dies natürlich nicht bedeutet, dass mittelalterliche Texte, Themen und Stoffe deshalb zwingend vom Deutschunterricht ausgeschlossen wären. In der im Jahr 2011 in Österreich, Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz durchgeführten MIDU-Studie [6] gab der überwiegende Teil der befragten Lehrer und Lehrerinnen aller drei Länder an, das Mittelalter im Unterricht zu thematisieren, wobei Angaben zu Art und Intensität der Behandlung mitunter jedoch stark variierten (vgl. Schwinghammer 2013, S. 44 ff.). In Ermangelung von Vergleichsdaten lässt sich nicht zweifelsfrei sagen, inwieweit sich der Stellenwert des Mittelalters im Deutschunterricht in der Praxis in den letzten Jahrzehnten tatsächlich verändert hat bzw. es gar zu einem Verschwinden mittelalterlicher Texte aus der Schule kommt, wohl aber lässt sich eine fortschreitende Reduzierung mittelalterlicher Texte in Lesebüchern und damit einhergehende sukzessive Abnahme der Beispielvielfalt feststellen (vgl. Möbius 2010, S. 147–190), die genau darauf hindeuten könnte. Neben der Verwendung des jeweiligen Schul- bzw. Lesebuchs, das eine zentrale Rolle in der Auswahl und Aufbereitung von Unterrichtsinhalten einnimmt, steht es Lehrern und Lehrerinnen heute mehr denn je frei, zu entscheiden, welche Texte sie auf welche Art und Weise im Unterricht behandeln. Glaubt man den Ergebnissen der MIDU-Befragung unter (zukünftigen) Deutschlehrern und -lehrerinnen [6], wird sich der in den Schulbüchern feststellbare Trend der Reduzierung von mittelalterlichen Texten und Beispielvielfalt in den kommenden Jahren in der Unterrichtspraxis noch verstärken: Studierende und Junglehrer und -lehrerinnen setzen vergleichsweise weniger unterschiedliche mittelalterliche Autoren im Unterricht ein, verwenden seltener mittelhochdeutsche Texte und gestehen dem Thema Mittelalter weniger Unterrichtszeit zu als ihre erfahrenen Kollegen und Kolleginnen (vgl. Schwinghammer 2013, S. 147 ff.). Auch die von Jennifer Geipel und Maria Koch befragten Lehramtsstudierenden [7] tendieren dazu, das Mittelalter im Unterricht möglichst zu vermeiden. Als Gründe nennen sie den hohen Zeitaufwand, die mangelnde Relevanz des Themas sowie vermeintlich negative Schülerreaktionen (vgl. Geipel/Koch, in Vorbereitung).
Sowohl MIDU [6] als auch die von Geipel und Koch durchgeführte Interviewstudie ÜmiLiS [7] belegen einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den eigenen Lernerfahrungen in Schule und Universität und der späteren Unterrichtsgestaltung. Immer weniger Studierende können scheinbar auf (positive) Erfahrungen in der eigenen Schulzeit zurückblicken (vgl. Schwinghammer 2013, S.143 ff. und Geipel/Koch, in Vorbereitung). Neben einer zunehmenden Reduktion von fachwissenschaftlichen und damit auch germanistisch-mediävistischen Anteilen in den Lehramtscurricula wird der Fachbereich im Studium offenbar als immer weniger ansprechend erlebt – für den Großteil der Studierenden stellt die Mediävistik die am wenigsten positiv empfundene Teildisziplin des Deutsch-Studiums dar (vgl. Schwinghammer 2013, S. 144 ff.). Es deutet sich hier eine Negativ-Spirale an: Mittelalterliche Literatur und Sprache werden immer weniger als relevant für die Schule empfunden und finden somit immer seltener ihren Weg in den Unterricht.
Interessanterweise scheint das Relevanzempfinden gegenüber älterer deutscher Literatur bei Schülern und Schülerinnen deutlich stärker ausgeprägt zu sein als bei den zukünftigen Deutschlehrern und -lehrerinnen: Unabhängig davon, ob sie sich selbst für Literatur interessieren und wie sie den Deutschunterricht zum Thema mittelalterliche Sprache und Literatur empfunden haben, hält es der überwiegende Teil der im Zuge von drei steirischen Erhebungen dazu befragten Schüler und Schülerinnen für angebracht, dass das Mittelalter seinen Platz im Deutschunterricht hat: Von den 62 Projektschülern und -schülerinnen der ersten Laufzeit des Arbeitskoffers zu den Steirischen Literaturpfaden des Mittelalters [9a] hielten es über 72 Prozent für sinnvoll, im Deutschunterricht etwas über das Mittelalter zu lernen; rund zwei Drittel sprachen sich dezidiert dagegen aus, mittelalterliche Sprache und Literatur zugunsten aktuellerer Inhalte aus dem Lehrplan zu streichen. Ganz ähnliche Ergebnisse brachte schon die 2013 im Rahmen der Pretests zur MIDU-S...