Lernen und Macht
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Lernen und Macht

Prozesse der Bildung zwischen Autonomie und Abhängigkeit

  1. 360 Seiten
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Lernen und Macht

Prozesse der Bildung zwischen Autonomie und Abhängigkeit

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Über dieses Buch

Der vorliegende Band untersucht LERNEN UND MACHT in ihren Wechselwirkungen mit besonderer Berücksichtigung der Schule. Bildungsprozesse sind keine autonomen Akte: Sie geschehen in einem unentwirrbaren Austausch zwischen politischen und individuellen Subjekten, die ihrerseits im Austausch untereinander und mit der Welt stehen. Dementsprechend werden in diesem Buch Lehren und Lernen in der Schule nicht isoliert und auf didaktische Kniffe reduziert betrachtet, sondern auf BILDUNGSPROZESSE IN KULTUR UND POLITIK hin untersucht, die auf Schule einwirken, die in der Schule reproduziert, teilweise dort aber auch produziert werden.Dazu werden Texte aus anderen pädagogischen Lernkontexten und Feldern im weiteren Sinne in ein Gespräch gebracht mit Vignetten aus eigener Lern- und Schulforschung. Dabei soll ersichtlich werden, wie sich Lernen in Schule, in Kultur(en) und Politik zeigen kann, welchen Bedingungen der Macht und welchen PARADIGMATA DER BILDUNG es unterworfen ist und welche Ermächtigungen wiederum das Lernen stiften kann.

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783706558143

1. Theoretische Hinführung

1.1 Abschattungen der Macht – eine begriffliche Annäherung

Als flüssig und flüchtig, dem Foucault’schen Panoptikum totaler Kontrolle entwichen, beschreibt Zygmunt Bauman (2003: 18) die Macht in der Postmoderne, und ebenso schemen- und wechselhaft zeigt sich auch ihre Begriffsgeschichte bis in die Gegenwart. „Der Selbstverständlichkeit des Phänomens steht eine totale Unklarheit des Begriffes gegenüber“, so leitet Byung-Chul Han (2005a: 7) seine Studie zur Macht ein – genauer müsste man wohl von der vermeintlichen Selbstverständlichkeit eines Phänomens sprechen, dessen Bedeutungen zwischen Unterdrückung und Freiheit, zwischen destruktiver Gewalt und produktiver Kreativität schwanken (ebd.). Zwar finden sich in den allermeisten Definitionen von Macht auch konstruktive Aspekte, meist aber allein schon semantisch ins Negative gewendet. Für Niklas Luhmann kann Macht zwar Entwicklungen beschleunigen und wie ein „Katalysator“ wirken (1975: 12), zugleich aber beschreibt er ihre Funktion so, dass „es für den Unterworfenen gerade sinnlos [ist], überhaupt einen Willen zu haben“; Macht stelle „mögliche Wirkungsketten sicher unabhängig vom Willen des machtunterworfenen Handelnden – ob er will oder nicht“ (ebd. 11f). Das knüpft an Max Weber an, der Macht zwar von Herrschaft abgrenzt und als „soziologisch amorph“ definiert, weil „alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen [...] jemanden in die Lage versetzen [können], seinen Willen in der gegebenen Situation durchzusetzen“, während Herrschaft präziser die Chance bedeute, „für einen Befehl Fügsamkeit zu finden“ (Weber 1921: 28f). Webers Definition von Macht hebt sich dann aber nur in Nuancierungen von Herrschaft ab: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“(ebd. 28). Macht bietet also diese „Chance“, erlegt freilich jenen, die sie nutzen wollen, die Aufgabe der Durchsetzung auf – letztlich ein offener Kampf, dessen Ausgang von der Ausstattung oder auch Mobilisierungsfähigkeit der Macht abhängt. In der Herrschaft ist dagegen schon klargestellt, „für einen bestimmten Befehl bestimmten Inhalts bei angehbaren Personen Gehorsam zu finden“ (ebd.). Disziplin steht, als dritte Kategorie bei Weber, im Dienste der Herrschaft, „soll heißen die Chance, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angehbaren Vielfalt von Menschen zu finden“ (ebd.).
Das Dilemma, dass Macht einerseits produktiv zu sein scheint, andererseits immer wieder als Macht gegen jemanden verstanden wird, hat zu einer Reihe dichotomer Definitionen geführt, im Sinne einer „Janusköpfigkeit der Macht“ (Hailer 2006: 154). Stellvertretend genannt seien das Modell der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) nach Marshall B. Rosenberg (2009) und die Unterscheidung in „instruktive Macht“ und „destruktive Macht“ bei Björn Kraus (2011: 97), wobei die positiv besetzte Definition auf die Möglichkeit verweist, andere Menschen im Denken und Handeln zu beeinflussen, während die negative Form der Macht auf die Reduktion des Anderen abzielt (ebd. 105). Rosenberg geht von strafender und beschützender Anwendung der Macht aus: Erstere stellt bei Verstößen gegen herrschende Regeln die Ordnung wieder her, die zweite schafft – auch mittels des Bemühens um gewaltfreie Kommunikation – Konsens, Zustimmung und Frieden (ebd. 118). Das prinzipielle Problem dichotomer Unterscheidungen ist, dass die Frage, welche der Machttypologien nun jeweils zur Anwendung kommt, vom guten Willen jener abhängt, die über die Macht verfügen. Die Asymmetrie der Machtachse bleibt unverändert: Wenn A die Macht hat, kann B nur hoffen, dass A sorgsam damit umgeht (etwa mit „Soft Power“ nach Nye 2004) oder, im noch günstigeren Falle, genau das will, was B sowieso auch möchte.
Diese Latenz der Macht, dass sie aufrichtend sein kann oder zerstörerisch, ist für Georg Picht – vor allem bekannt für seinen Alarmruf von der deutschen Bildungskatastrophe (Picht 1964) – ihr eigentliches Substrat: „Macht ist am stärksten, wenn sie latent und eingeschränkt zur Disposition steht [...], wo sie latent bleibt, aber droht.“ (Picht 1981: 300) In der Ambivalenz der Erscheinungsformen von Macht erkennt Picht das Muster der göttlichen Allmacht, die für den gläubigen Menschen jederzeit vernichtend auf ihn hereinbrechen oder ihn mit Gnade erfüllen konnte – Macht sei „von solchem Glanz umgeben, dass die Menschen immer in Versuchung waren, sie als Manifestation des Göttlichen zu bestaunen“ (ebd. 301).
Es ist Friedrich Nietzsche, der mit seinem Aufbegehren zum Willen zur Macht die Dichotomie zerbricht. Schon im Zarathustra (Nietzsche 2010) entwirft Nietzsche sein Programm, das von da an immer aufs Neue in sein Werk gestreut ist und auf der Grundlage vieler Skizzen im fragmentarischen Teil des Nachlasses noch einmal aufgegriffen wird (vgl. Nietzsche 1988, KSA 7–12). Der Wille ist eng mit dem Übermenschen verbunden. „Der Übermensch ist der Sinn der Erde“, lässt Nietzsche Zarathustra schon in der Vorrede proklamieren, um dann zu präzisieren: „Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!“ (Nietzsche 2010: 12)1 Das Bekenntnis zum „Willen“ ist eine Aufkündigung des Gehorsams: „Welches ist der große Drache, den der Geist nicht mehr Herr und Gott heißen mag? ‚Du-sollst‘ heißt der große Drache. Aber der Geist des Löwen sagt ‚Ich will‘.“ (ebd. 23) Zur Verdichtung des Gedankens kommt es im Abschnitt „Von der Selbst-Überwindung“, in dem Zarathustra nicht spricht, sondern singt: „Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht“ (ebd. 94); und weiter: „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein.“ (ebd. 95)
Nietzsches „Polemologie“ (Han 2005a: 41) ist zum einen von Schopenhauers Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (2006) inspiriert, auf das er fast wörtlich Bezug nimmt, um darüber hinauszugehen. Spricht Schopenhauer vom „Willen zum Leben“ (ebd. 291), den er am stärksten in der Tierwelt, etwas gehemmt beim Menschen wahrnimmt, begnügt sich Nietzsche nicht mit dem Leben allein: „Nur, wo Leben ist, da ist auch der Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur Macht!“ (Nietzsche 2010: 96) Zum anderen greift Nietzsche mit dem Verweis auf den Dienenden, der den Willen zum Herr-Sein hat, zumindest indirekt das Gleichnis von Herr und Knecht auf, mit dem Friedrich W. Hegel seine Phänomenologie der Macht begründet. Wo Hegel den Knecht auf den Kampf verzichten lässt, postuliert Nietzsche den Willen zur Befreiung.
Die Begegnung von Herr und Knecht bei Hegel ist eine „Bewegung des Anerkennens“ (Hegel 1986a: 146), die Hegel als Metapher für die Not des „Selbstbewusstseins“ dient, „ein Anderes“ (ebd. 145) vorauszusetzen, um die eigene Existenz zu begründen – dadurch gerät es „außer sich“ (ebd. 146), es ex-sistiert. Dieses Außer-sich-Sein des Bewusstseins als Voraussetzung, um sich selbst zu erkennen und über sich selbst zu reflektieren, führt für Hegel in eine doppelte Verstrickung des Selbstbewusstseins: „erstlich, es hat sich selbst verloren, denn es findet sich als ein anderes Wesen; zweitens, es hat damit das Andere aufgehoben, denn es sieht auch nicht das Andere als Wesen, sondern sich selbst im Anderen“ (ebd.). Um sich seiner selbst vergewissern zu können, muss es das Andere aufheben, was aber bedeutet, „sich selbst aufzuheben, denn dies Andere ist es selbst“ (ebd.) – ein unlösbares Dilemma, das Jean-Paul Sartre (1995) „Hegels Scheitern“ nennt, weil er die Spiegelung des „Ich“ im „Anderen“ als Gleichheit setzt und damit auf eine Identitätsbeziehung reduziert (ebd. 434).
Aber selbst wenn Hegel sich, nach Sartre, in seiner eigenen Metapher verfangen hat, führt das philosophische Problem des Selbstbewusstseins, sich überhaupt erst durch die Annahme eines Anderen erkennen und konstituieren zu können, zu einer produktiven Urstiftung für die Frage der Machtverteilung. Hegel verteilt an die „zwei entgegengesetzte[n] Gestalten des Bewusstseins“ zwei unterschiedliche Rollen: „die eine das selbständige, welchem das Fürsichsein, die andere das unselbstständige, dem das Leben oder das Sein für ein Anderes das Wesen ist; jenes ist der Herr, dies der Knecht“ (Hegel 1986a: 150). Entschieden wurde die Rollenverteilung nicht durch Kampf, sondern dadurch, dass der Herr seine „Begierde“ (ebd.) behauptet hat, während der Knecht den Kampf scheute, weil er „um sein ganzes Wesen“ fürchtete (ebd. 153). Die Gefangenheit des Selbstbewusstsein, das sich behauptet hat, und des Anderen, das sich untergeordnet hat, ist damit aber nicht aufgelöst: Der Herr ist auf die Anerkennung durch den Knecht angewiesen, es ist dieser, der ihm – durch sein Dienen, durch seine Arbeit – den Status sichert; der Knecht bezieht aus seiner „freien Unterwerfung“ (Han 2005a: 82), wenn auch dienend, ebenfalls sein Dasein.
Von einer Unterwerfung, die nicht erst in historischen Verteilungskämpfen entsteht, sondern im Menschen verinnerlicht ist, ja eigentlich mit dem Menschen entsteht und diesen hervorbringt, geht auch Foucault aus (1976: 42). Ebenso wie Hegel ist Foucaults Sichtweise der Macht nicht a priori und nicht ausschließlich negativ geprägt, wenngleich Foucaults „drei Technologien der Macht“ (ebd. 170) dies zunächst suggerieren könnten: die Souveränitätsmacht, die sich mit dem Schwert, dem Krieg, der Todesstrafe, der Folter durchsetzt (ebd. 175f), jene des Gesetzbuches, die – mit dem Griffel – über die Zeichen herrscht und die Deutungshoheit über das Recht innehat; diese Technologie reicht weit in das Private hinein und kontrolliert die Vorstellungen der Menschen, wie sie zu leben haben, was sie für richtig oder falsch zu halten haben, wie ihre Körper sein sollen (ebd. 129–131); und als dritte Technologie jene der Disziplinarmacht, die am tiefsten ins Subjekt eindringt, indem sie ihren Einfluss hinter vermeintlicher Alltäglichkeit und über etablierte Gewohnheiten ausübt; sie erfasst den gesamten Körper, führt zur Selbstdisziplinierung und Anpassung des „Gehorsamssubjekts“ (ebd. 167). Trotz seiner Kritik an Institutionen der Macht wie dem Gefängnis, der Anstalt, der Kaserne, dem Strafapparat des Staates, birgt Macht für Foucault „strategischen Reichtum und [...] Positivität“ (ebd. 106). Macht sieht er nicht als Besitzstand, der einseitig verortet und gebunden wäre, sondern als „Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen“; sie wirkt „in der ganzen Dicke und auf der ganzen Oberfläche des sozialen Feldes gemäß einem System von Relais, Konnexionen, Transmissionen, Distributionen etc.“ (ebd. 113f), deren Ineinandergreifen er auch „Dispositive“ (Foucault 1978) nennt. Trotz der von Foucault unermüdlich aufgezeigten Übergriffe von Macht, auf direkte und subtile Weise, wehrt er sich (beinahe vergeblich) dagegen, „die Wirkungen der Macht immer nur negativ zu beschreiben, als ob sie nur ‚ausschließen‘, ‚unterdrücken‘, ‚verdrängen‘, ‚zensieren‘, ‚abstrahieren‘, ‚maskieren‘, ‚verschleiern‘ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv und sie produziert Wirklichkeit“ (Foucault 1976: 250). Ihr hohes Maß an Durchsetzung führt Foucault darauf zurück, dass „sie Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt“ (Foucault 1978: 35). Ohne Macht gäbe es keine Lust, kein Wissen, keine Möglichkeit der Selbstsorge, keine Gestaltung des eigenen Lebens.
Ist bei Hegel durch sein Herr-Knecht-Gleichnis die Dualität zwischen einem Selbstbewusstsein und einem Anderen personifiziert, lösen sich bei Foucault die Subjekte der Macht ähnlich auf, wie er es in seinem Schlusssatz von Die Ordnung der Dinge für den Menschen prophezeit: „daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht am Sand“ (Foucault 1974: 462). Durch die – weitgehende – Entsubjektivierung von Macht befreit Foucault den Machtdiskurs aus jener Dichotomie, die bei Hegel noch eine Unausweichlichkeit ergibt – das Eigene und das Andere in ewigem Konflikt und unlösbarem Abhängigkeitsverhältnis. Macht wird zum Wirkungsverhältnis, das für Unterdrückung, Kontrolle und Disziplinierung missbraucht, aber auch positiv genutzt werden kann. Letztlich verdankt sich die Macht der Zustimmung des Unterworfenen: Solange dieser Ja oder Nein sagen kann, unterscheidet sich für Foucault die Macht von der Gewalt. Selbst ein Sklave stehe zum Herrn in einer Macht- und nicht in einer Gewaltbeziehung, sofern er prinzipiell die Möglichkeit der Flucht hat (vgl. Foucault 1994: 255f). Han dreht das Beispiel, mit kritischem Kommentar über die teilweise zu spielerische Konzeption der Macht bei Foucault, um eine dramatische Nuance weiter: Stringent gedacht, würde es sich in Foucaults Logik noch um eine Machtbeziehung handeln, wenn der Sklave die Möglichkeit hätte, Nein zu sagen zur Sklaverei, auch um den Preis, getötet zu werden (vgl. Han 2005a: 125f). Solange der Sklave die Möglichkeit habe, den Befehl zu verweigern und anstelle des Gehorsams seinen Tod zu provozieren, wäre er nicht machtlos. Es ist letztlich eine Rückkehr in das Gleichnis von Herr und Knecht in Nietzscheanischer Heroik: nicht der Wille zum Leben macht die Freiheit aus, sondern der Wille zur Macht auch um den Preis des Todes.
Eine Zuordnung der Macht zum sozialen Feld, in dem sich „soziale Akteure“ bewegen, findet sich bei Pierre Bourdieu, dessen soziologisches Habitus-Modell auf subtile Mechanismen der Macht verweist und dadurch an die freiwillige Unterwerfung von Hegels Gleichnis anknüpft. So „verabscheuenswert und empörend“ die soziale Ungleichheit für Bourdieu auch immer ist, haftet den „Beherrschten“ trotzdem eine „hingenommene Komplizenschaft“ mit ihrer eigenen Benachteiligung an (Bourdieu 1989: 52). Über den Habitus als Inkorporation von Zugehörigkeitsmerkmalen, Werten, Stilen und Ausdrucksformen erfolgt eine teilweise unbewusste Einpassung in die herrschende Ordnung, die – dies ist ein Berührungspunkt mit Foucault – nicht nur in Kleidung, Auftreten, Haltung übergeht, sondern sich auch in den Körper einprägt (ebd. 43). Wohl sind Exklusionsmechanismen – über die ungleiche Verteilung nicht nur von ökonomischem und sozialem, sondern auch von kulturellem und symbolischem Kapital (1992: 50 ff) – am Werk, doch die Ausgeschlossenen und Zurückversetzten stilisieren ihren Status als „aus freier Wahl geborenen Geschmack“ (1989: 42). Gerade dadurch, dass die von Bourdieu wahrgenommenen Ausschlussmechanismen vielfach jeder Gewalt entbehren (es sei denn einer verborgenen strukturellen Gewalt), ja sogar die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passeron 1971) anbieten und die Benachteiligten auf diese Weise blenden, wird die Macht unangreifbar.
So klingt es zunächst beinahe zynisch, wenn Han in seiner bestechenden Dekonstruktion westlich geprägter Theoriemodelle der Macht schon einleitend vorwegnimmt, worin sich die absolute Macht äußert – nicht in der gewaltsamen Unterwerfung, die auf eine schwache Macht, ja sogar auf Ohnmacht verweist, sondern im Zusammenfallen von Freiheit und Unterwerfung (vgl. Han 2005a: 14). Ein solches Moment macht Han schon bei Hegel aus, wo es noch im „Geist“ angesiedelt ist, der durch Vermittlung „ein Wir, eine Gemeinsamkeit, eine Kontinuität des All-Gemeinen“ stiftet (ebd. 101). Unterdrückung und Gewalt stellen „nur eine bestimmte, nämlich eine vermittlungsarme oder vermittlungslose Form der Macht dar“ (ebd. 44). Aber was ist unter Vermittlung zu verstehen? Wäre damit allein die Verschleierung der Machtmechanismen, die Gewinnung der Übervorteilten für die Mechanismen der Übervorteilung gemeint, dann liefe auch das Konzept der „Vermittlung“ auf Manipulation hinaus, auf Täuschungsmanöver und Listenreichtum der Machtausübenden. Für Han tut sich in der Vermittlung die Idee einer Macht auf, die sich selbst vermittelt und dadurch zur „Freundlichkeit“ gelangt (Han 2005b: 135). Darin bestünde, was zu vertiefen sein wird, ein Handlungsspielraum, der besonders auch für die Reflexion pädagogischer Haltungen von Bedeutung wäre. Es geht um nichts weniger als um die Frage, ob und, wenn ja, wie Herr und Knecht einen Ausweg aus ihrer Verstrickung finden.
Brücken zur Vorstellung einer freundlichen oder zumindest politisch emanzipatorisch gestaltbaren Macht haben Jürgen Habermas und Hannah Arendt in je unterschiedlichen, aber sich berührenden Konzepten geschlagen. In seiner Theorie des kommunikativen Handelns (1981a) analysiert Habermas strategische Machteingriffe aus der Systemebene auf die Lebenswelt, wodurch er deren Befähigung zum kommunikativen Handeln einer „Kolonialisierung“ (ebd. 9) ausgesetzt sieht. So stehen sich die strategische Kommunikation auf der Ebene der Systeme und das kommunikative Handeln in der Lebenswelt, mit der Bürger/innen auf eine Problematisierung ihrer Lebenswelt aktiv reagieren können, weitgehend ­dichotom gegenüber. In der Ausarbeitung seines kommunikativen Machtbegriffs greift Habermas auf einen gedanklichen Entwurf von Arendt zurück, der zunächst in einem Akt zivilgesellschaftlicher Selbstbestimmung besteht: „An emanzipatorischen Bewegungen interessiert sie“, schreibt er zu Arendts Vita activa (1981), „die Macht der gemeinsamen Überzeugung: die Aufkündigung des Gehorsams gegenüber Institutionen, die ihre Legitimation eingebüßt haben; die Konfrontation der durch freien Zusammenschluß erzeugten Macht mit den physischen Zwangsmitteln eines gewaltsamen, aber ohnmächtigen Staatsapparates; der Entstehungsakt einer neuen politischen Ordnung und der Versuch, das Pathos des neuen Anfangs, die revolutionäre Ausgangssituation festzuhalten, die kommunikative Erzeugung der Macht institutionell auf Dauer zu stellen.“ (Habermas 1981b: 238) Es findet sich darin ein zweifacher Gedanke: jener des Zusammenschlusses der Knechte, die den Kampf aufnehmen und den Gehorsam verweigern, wobei dafür die Bedingung gilt, dass die angestrebte Macht kommunikativ ausgehandelt wird. So zeigt sich in Arendts Überlegung ein Ausweg auch für die bei Habermas leicht als ausweglos deutbare Gegenüberstellung mächtiger Systeme mit einer kolonialisierten Lebenswelt – durch den Zusammenschluss der Vielen in der Zivilgesellschaft tritt ein neuer Akteur als Dritter im Diskurs um die Macht auf.
Theoretisch bedeutungsvoll ist an Arendts kommunikativem Programm, dass sie die Macht in einem „Zwischen“ ansiedelt, das sowohl sozialräumlich-öffentlich als auch zwischenmenschlich zu verstehen ist. Dieses Zwischen, das auf einen zwischenmenschlichen, sozialen Raum pädagogischen Handelns und Vera...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Titel
  4. Abstract
  5. Vorüberlegung
  6. 1. Theoretische Hinführung
  7. 2. Lernseits der Macht
  8. 3. Explorationen des Lernens
  9. 4. Anstelle von Festlegungen: Fliegenfangen in Erfahrungsräumen des Lernens
  10. 5. Rücküberlegungen
  11. 6. Anhang