Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850-1930
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Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850-1930

Dissertation 1932

  1. 392 Seiten
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Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850-1930

Dissertation 1932

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Quellenangaben

Über dieses Buch

Die Publikation enthält die unveröffentlichte Dissertation der österreichischen Sozialforscherin und Sozialpsychologin Marie Jahoda (1907-2001) aus dem Jahr 1932 mit 52 Protokollen über lebensgeschichtliche Interviews mit Frauen und Männern, die um 1850 geboren sind. Damit wird erstmals eine einzigartige Datenquelle erschlossen und der Öffentlichkeit präsentiert, die differenzierte Einblicke in die Arbeits- und Lebensverhältnisse in Wien im Zeitraum von 1850 bis 1930 eröffnet. Sozial gehören die Befragten unterschiedlichen Gruppen der Arbeiterschaft an, den Gewerbetreibenden, den Arbeitern in Handwerk oder Industrie oder - insbesondere die Frauen unter den Befragten – der Hausdienerschaft. Die Lebensgeschichten machen die ökonomische Dynamik und die mit ihr verbundene räumliche und soziale Mobilität der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts nachvollziehbar. Der historische Text wird in drei unterschiedliche Kontexte eingebettet: Meinrad Ziegler erläutert den methodologischen und theoretischen Hintergrund der Dissertation und das Konzept der Lebenspsychologie von Charlotte Bühler. Josef Ehmer entwickelt einen Rahmen für das empirische Material und skizziert Sozialstruktur, Arbeits- und Lebensverhältnisse in Wien zwischen 1850 und 1930. Christian Fleck entwirft ein ausführliches Porträt über Leben und Werk von Marie Jahoda und verortet sie in den Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts. Das Buch enthält auch rund 40 Abbildungen, die unterschiedliche Stationen von Leben und Werk Marie Jahodas illustrieren, sowie eine vollständige Bibliografie ihrer Erstveröffentlichungen."Es ist das Verdienst dieses Buches, eine bedeutende Sozialwissenschaftlerin in Erinnerung zu rufen, deren Leben und wissenschaftliches Werk in einzigartiger – und teilweise schmerzlicher Weise – die politische Geschichte Österreichs widerspiegelt."Helga Nowotny

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783706558815
Illustration
Hochzeitsbild von Carl Jahoda (1867–1926) und
Betty Jahoda, geb. Propst (1881–1967), 1902 in Wien
Christian Fleck

Marie Jahoda – ein Porträt

Vor 110 Jahren, am 26. Jänner 1907, wurde Marie Jahoda in Wien geboren, vor 16 Jahren, am 28. April 2001 verstarb sie in ihrem Haus in Keymer im Süden von England im Alter von 94 Jahren. Die folgende biografische Darstellung von Leben und Werk versucht zu schildern und zu analysieren, welche Einflüsse auf sie gewirkt haben, in welchen Kontexten sie wirkte und welche Einsichten wir ihr verdanken.1

Familie, Kindheit und Jugend

Marie Jahoda, die ihre Freunde und Genossen stets Mitzi nannten, war vieles zugleich und schaffte es, trotz der unterschiedlichen, an sie (auch von ihr selbst) herangetragenen Ansprüche, über ein langes Leben hinweg sie zu bleiben; so wenig sie zum Dramatischen neigte, so fern war ihr eine demonstrative Konversion, eine Attitüde, die in ihrer Generation nicht gerade selten war. Ein Gespür für Differenzen konnte die Heranwachsende möglicherweise schon früh kultivieren, wurde doch ihr Familienname unterschiedlich intoniert: die Wiener betonten nicht auf der ersten Silbe, obwohl – oder gerade weil – das im Tschechischen richtig wäre, wo dieses Wort der Nominativ Singular von Erdbeere ist. Üblicherweise werden Kinder das erste Mal in der Volksschule mit ihrem Familiennamen gerufen und es bedarf keiner übergroßen Portion Phantasie sich vorzustellen, dass sich das kleine Mädchen darüber wunderte, dass die anderen nicht wussten, wie sie denn richtig heiße. Ihre Geschwister, Marie war das dritte von vier Kindern, werden ihr vielleicht erklärt haben können, woran das lag. Der Älteste, Eduard, wurde 1903 geboren, gefolgt von Rosi 1905, Mitzi 1907 und Fritz 1909. Ihre Mutter Betty war Hausfrau und der Vater Carl betrieb ein Geschäft für „technische Papiere und Apparate“2. Mitzis Großeltern väterlicherseits lebten in Böhmen, mütterlicherseits kam die Familie aus Galizien. Carl Jahoda (1867–1926) und Betty Probst, verehelichte Jahoda (1881–1967) hatten also, in der Sprache der Gegenwart formuliert, „Migrationshintergrund“, aber als sie bzw. ihre Eltern nach Wien übersiedelten, mussten sie weder Visa beantragen noch eine Passkontrolle passieren, als Untertanen des Kaisers durften sie ihr Glück in der prosperierenden Metropole suchen – und finden.
Als Marie am 26. Jänner 1907 geboren wurde, lebte die Familie in der Wittelsbachstraße 4, im 2. Wiener Gemeindebezirk, dem Stadtteil mit dem höchsten Anteil jüdischer Bevölkerung. Die „Mazzesinsel“, wie der Bezirk von seinen Bewohnern bezeichnet wurde (vgl. Beckermann 1984), bildete so etwas wie eine „Parallelgesellschaft“, um einen weiteren heutigen Begriff ins Treffen zu führen. Tatsächlich sprachen dort viele der jüngst Zugewanderten nur Jiddisch. Es gab manche Besucher der vielen Gebetshäuser und Synagogen, die Passanten aus anderen Teilen der Stadt durch ihr Äußeres befremdeten; kleine Straßenläden boten Ethno-Food feil, Tageszeitungen und Theater benutzten Jiddisch statt der Amtssprache Deutsch. Die „Integrationswilligen“ unter den Bewohnern hielten es mutmaßlich nicht für nötig, die Gewohnheiten ihrer Vorfahren abzulegen, um beruflichen Erfolg zu erzielen, sondern verloren das Interesse an der Tradition parallel zu ihrem eigenen Aufstieg in die Mittelschicht. Als Indiz der Aufwärtsmobilität kann man die Übersiedlung der Familie Jahoda in den 3. Bezirk anführen. Die neue Wohnung in der Seidlgasse 22 lag nur wenige hundert Meter von Maries Geburtshaus entfernt, aber näher am Stadtzentrum und in einem „besseren Viertel“. Das nur ein paar Häuserblocks entfernt befindliche Geschäft des Vaters und die Druckerei „Jahoda & Siegel“, die dessen älterer Bruddenn anderser Georg betrieb, waren bloß durch ein Kaffeehaus voneinander getrennt, das die beiden Brüder regelmäßig besuchten. Georg Jahoda hatte bei seinem eigenen Vater eine Druckerlehre absolviert und den väterlichen Betrieb übernommen, den er alsbald um einen Verlag erweiterte. Ab 1901 erschien bei Jahoda & Siegel Die Fackel. Nach allem was man über Karl Kraus und seinen Arbeitsstil weiß, muss, wer längere Zeit mit ihm zusammenarbeitete, ihn über alle Maßen bewundert haben3, denn anders wären die zig-fachen Korrekturläufe wohl kaum zu ertragen gewesen, die in einer Ausstellung im Jüdischen Museum in Wien 1999 besichtigt werden konnten (Lunzer et al. 1999). Kraus, die Fackel und seine Vorträge wurden zu einem fixen Bezugspunkt Maries: „Kein Wunder, daß Karl Kraus auch unser Familiengott wurde.“
Maries Familie war in mehr als einer Hinsicht ungewöhnlich. Dem Vater Carl fehlten offenkundig alle Attribute des autoritären Vaters, eines Typus, der Generationsgenossen Maries so nachhaltig prägte, dass sie ganze Theoriegebäude darüber errichteten.4 Carl Jahoda war, was man feinsinnig nannte, er verfasste Gedichte, hielt seine Kinder an, ein Musikinstrument zu erlernen, und hinderte seine beiden Töchter nicht, anspruchsvollere Ausbildungswege zu beschreiten: Die um zwei Jahre ältere Schwester Rosa promovierte 1927 in Biologie an der Universität Wien und arbeitete danach an der Biologischen Station in Lunz und im Vivarium (vgl. Reiter 1999), bis 1938 unterrichtete sie Biologie an einem Wiener Gymnasium. Der älteste Bruder Eduard hätte gerne eine Karriere als Physiker eingeschlagen, wenn der frühe Tod des Vaters ihn nicht gezwungen hätte, dessen Geschäft zu übernehmen. Der jüngere Bruder Fritz erhielt von Eduard Steuermann Klavierunterricht und arbeitete bis zur Vertreibung 1933 in Düsseldorf an der dortigen Oper und danach bis 1938, als er wiederum vertrieben wurde, als Dirigent an der Grazer Oper. Allen Geschwistern Jahodas gelang es, den Häschern der Nazis zu entkommen; einige fernere Verwandte wurden von den Nazis ermordet.
Was Fragen der Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens betrifft, war Maries Vater Anhänger des Ingenieurs, Erfinders und Sozialreformers Josef Popper-Lynkeus, einer der ersten Fürsprecher einer Art von Grundeinkommen. Josef Popper veröffentlichte 1899 unter dem Pseudonym Lynkeus in Dresden Phantasien eines Realisten, deren Veröffentlichung in der Habsburgermonarchie verboten blieb. Dennoch fand das Buch weite Verbreitung und Popper gewann in bildungsbürgerlichen Kreisen Anhänger für seine sozialreformerischen Ideen. Schon 1878 hatte er in Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben jene Gedanken formulierte, die er in Die allgemeine Nährpflicht als Lösung der sozialen Frage, eingehend bearbeitet und statistisch durchgerechnet 1912 nochmals breiter darlegte. Der originellste Gedanke Poppers war der des Rechts jedes Staatsbürgers auf das notwendige Mindestmaß an Nahrung, Kleidung und Wohnung. Verwirklicht werden sollte dieses Recht durch die Einführung einer „allgemeinen Nährpflicht“. Darunter ist zu verstehen, dass jeder Bürger seine Arbeitskraft eine bestimmte Zeit lang der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen hat – der erläuternde Zusatz seines 1912 veröffentlichten Buches belegt, dass Ingenieur Popper sich der Mühe unterzog, seinen Reformplan durchzurechnen. Herausgelöst aus der normalen, kapitalistischen Wirtschaft sollten in sozialisierten Betrieben jene Leistungen erbracht werden, die zur Sicherung eines lebenslangen Grundeinkommens für alle nötig waren. Nach den Jahren dieser Nährpflicht stünde es jedem Bürger frei, zu tun, was er wolle.5
Carl Jahoda veröffentlichte nicht nur eine Broschüre, die Poppers Ideen weiterentwickelte6, sondern verfasste auch ein Gedicht zur Nährpflicht, an dessen Schlusszeilen sich Marie noch viele Jahre später erinnerte (Jahoda 1997c): „Es wird die Nährpflicht an den Ochsen scheitern!“ Popper seinerseits bewunderte Ernst Mach und auch darin folgte ihm Carl Jahoda. Einflüsse beider Denker finden sich auch im Werk Marie Jahodas. Poppers Sozialismus kam ohne Geschichtsmetaphysik und Klassenkampf aus. Hier und jetzt konnte die Lebenssituation Elender verbessert werden. Es bedurfte dafür nicht erst der Reifung der Produktivkräfte, der Eroberung der sozialen Hegemonie oder der Zuspitzung des Klassengegensatzes, oder wie die Vertröstungen geschichtsdeterministisch denkender Marxisten sonst noch lauten mochten. Das intellektuelle Milieu des Austromarxismus war vor allem durch zwei Facetten ungewöhnlich: Zum einen eine geradezu hingebungsvolle Anstrengung um Verbesserungen der Lebensbedingungen der benachteiligten Teile der Gesellschaft und zum anderen eine deutlich ausgedrückte Hochachtung vor den Leistungen moderner Wissenschaft, ganz unabhängig davon, von wem sie erbracht wurden – ob Anhänger oder Gegner der eigenen Partei.
In Marie Jahodas Leben finden wird gegenwartsbezogenes soziales Engagement immer wieder: Die Forschungen in Marienthal Anfang der 1930er Jahre waren begleitet von konkreten Hilfsmaßnahmen für die dortige Bevölkerung, und diese nützliche Funktion der Untersucher wurde programmatisch festgeschrieben.7 Stärker als im Buch, das wenige Wochen nach der Machtübergabe an die Nazis in Leipzig erschien und sich wohl auch deswegen jeder offenen politischen Wertung enthielt, findet sich der Wunsch zu helfen in einem Manuskript Zwei Jahre später, das nur fragmentarisch erhalten geblieben ist. Darin wird berichtet, dass „während der ganzen Dauer unserer Arbeit in Marienthal in allen Mitarbeitern der Wunsch (wuchs), in diesem Ort einmal nicht nur Wissenschaftler zu sein und zu beschreiben, sondern Organisator und zu helfen.“ Im September 1933 begann daher eine ungenannt bleibende Zahl der Mitarbeiter mit der Organisation einer lokalen Gruppe des Freiwilligen Arbeitsdienstes und gründete dafür in Marienthal einen Verein „Jugend in Arbeit“. Das Konzept des freiwilligen Arbeitsdienstes der damaligen christlich-sozialen Bundesregierung erfährt in dem Manuskript grundsätzliche Kritik. Alle Sozialutopien – „von Thomas Morus bis zur allgemeinen Nährpflicht des Popper-Lynkeus“ – enthielten zwar die Idee der „freien Arbeit aller für alle“, doch davon unterscheide sich der aus den „Nöten der Weltwirtschaftskrise geboren(e)“ Arbeitsdienst, weil er zwei Arbeitsweisen nebeneinander bestehen lasse: „auf der einen Seite“, heißt es gut marxistisch, „verkaufen Menschen nachwievor ihre Arbeitskraft als Ware … auf der anderen Seite müssen Menschen am selben Ort beherrscht von den gleichen Gesetzen und der gleichen Moral ihre Arbeitskraft verschenken.“ Trotz dieser Kritik wird dem Arbeitsdienst eine positive Seite abgewonnen: „Bei unserem ersten Aufenthalt in Marienthal haben wir erfahren“, was gegen die „psychologische Situation der Arbeitslosen, ihre Resignation“ unternommen werden kann: Arbeitsbeschaffung.8
Betty Jahoda, die vor der Heirat und der Geburt der Kinder im Betrieb ihres späteren Ehemanns als Buchhalterin arbeitete, wurde durch die Geschehnisse des Ersten Weltkriegs, die, soweit es die Zensur zuließ, auch in der Fackel gegeißelt wurden, so nachdrücklich beeinflusst, dass sie Pazifistin wurde. In der Ersten Republik votierte sie nach der Erinnerung Maries für die Sozialdemokraten, zu deren jungen Aktivisten Marie damals schon zählte. Der Krieg blieb auch dem Schulkind – bei Kriegsende war Marie gerade einmal 11 Jahre alt – nicht verborgen, da die Versorgungsmängel die Stadtbewohner besonders heftig trafen. Den Sommer 1919 konnte Marie in Dänemark verbringen, dessen Regierung sich bereit erklärt hatte, hungernde Wiener Kinder aufzupäppeln. Später erinnert Jahoda diesen Aufenthalt, die erste längere Abwesenheit von der Familie, als den Eintritt ins Erwachsenenleben. Was ein wenig frühreif erscheinen mag, war unter angehenden Intellektuellen dieser Zeit nicht ganz so ungewöhnlich, wuchsen doch Kinder des Wiener Bürgertums in einer höchst intellektualisierten Umwelt auf, die ihnen schon früh Dinge zutraute, die zu anderen Zeiten als Überforderung erschienen wären. Nicht vergessen sollte man auch, dass Knaben sich im Alter von 17 Jahren zum Militärdienst melden konnten. So wie der Krieg die Mutter Jahodas zur Pazifistin werden ließ, politisierte er eine ganze Generation schon in sehr jungen Jahren.
Das Realgymnasium besuchte Marie im 8. Wiener Gemeindebezirk in der Albertgasse, eine Privatschule, die für ihre vergleichsweise weltoffene Haltung bekannt war. Das genügte der Gymnasiastin nicht mehr, als sie sich für politische Angelegenheiten zu interessieren begann. Marie wechselte von einer eher unpolitischen Pfadfindergruppe, in der sie „so verrückt das klingen mag, mit 14 Jahren“ (Jahoda 1979: 106) eine führende Rolle einnahm, alsbald zu den sozialistischen Mittelschülern, wo sie rasch sichtbar hervortrat. Die erste Veröffentlichung Jahodas stammt aus dem Jahr, in dem sie die 7. Klasse besuchte. Der Artikel war mit M.J. gezeichnet und erschien im Organ des Bundes Sozialistischer Mittelschüler Der Schulkampf. (M. J. [=Marie Jahoda] 1925). Darin berichtet die Verfasserin über die Sitzung des Zentralausschusses der Wiener Schulgemeinde, ein Gremium, das sich aus Vertretern der Lehrer und Schüler zusammensetzte, und das wohl ein Ergebnis der schulreformerischen Ambitionen der Stadt Wien war. Was genau die Kompetenzen dieses Gremiums waren (dem Jahoda offenkundig als Schülervertreterin angehörte), bleibt ungesagt, aber die Schulkämpferin beklagt, dass sich bei der Sitzung andere, wohl konservative, Schülervertreter dagegen ausgesprochen hätten, dass statt der Lehrerkonferenz dieser Ausschuss die letzte Instanz in Disziplinarverfahren (gegen Schüler) würde. Bedauerlicherweise hätten die sozialistischen Schülervertreter Kompromisse eingehen müssen, was angesichts des Eindrucks, den man als Sitzungsteilnehmerin gewinnen musste, dass dort bloß „Erwachsene … zur Beobachtung der Schüler mit ihnen zusammenkämen, [statt] um mit ihnen zu arbeiten“, unvermeidlich war.
Dieser durchaus schon im Denkstil des Austromarxismus verfasste Text ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. Marie Jahoda und Wien als City of the Century
  5. Ein historischer Text in aktueller Annäherung
  6. Editorische Notiz
  7. Anamnesen im Versorgungshaus.
  8. Ein Beitrag zur Lebenspsychologie
  9. Die Dissertation von Marie Jahoda
  10. Kontextualisierung der Lebensgeschichten. Sozial-ökonomische Entwicklung Wiens 1850–1930
  11. Chronik zur Lebensspanne der Befragten
  12. Marie Jahoda – ein Porträt
  13. Lebenslauf und Bibliografie Marie Jahoda
  14. Danksagung
  15. Bildnachweise
  16. Autorin und Autoren, Herausgeberin und Herausgeber
  17. Impressum