Der neue Norden
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Der neue Norden

Die Arktis und der Traum vom Aufbruch

  1. 216 Seiten
  2. German
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Der neue Norden

Die Arktis und der Traum vom Aufbruch

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Die Arktis und der Traum vom Aufbruch

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Information

Verlag
SCOVENTA
Jahr
2011
ISBN
9783942073066
INHALTSVERZEICHNIS
Kaffee
Iqaluit – 63 Grad Nord – Der Traum vom Jackpot
Imaqa
Maarmorilik – 71 Grad Nord – Die Schatzinsel
Progressum
Kiruna – 67 Grad Nord – Der Griff nach den Sternen
Futurum
Narvik – 68 Grad Nord – Der Rhythmus der Zivilisation
Into the Wild
Nyksund – 69 Grad Nord – Die Pioniere
Romantik
Harstad – 68 Grad Nord – Die Romantik ist eingefroren
Technik
Hammerfest – 70 Grad Nord – Die Fabrik
Diplomatie
Oslo – 59 Grad Nord – Die rote Arktis
Grenzen
Kirkenes – 69 Grad Nord – Der Netzwerker
Industria hominum naturam vincit
Hammerfest – 70 Grad Nord – Nachhaltiges Wachstum
Die Stille, das Licht und so weiter
Havøysund – 71 Grad Nord – Fisch für die Welt
Nordpoldämmerung
Im Nichts – 90 Grad Nord – Ultima Thule
Im Gepäck
Danksagung
Reisestationen
Unterwegs nach Nyksund (mit Sitzheizung)
Es ist merkwürdig. Als das Flugzeug nach Kiruna den Polarkreis überquerte, musste ich ausgerechnet an einen Satz denken, den Leutnant John Dunbar zu Beginn des großen Leinwand-Westerns »Der mit dem Wolf tanzt« sagt: »Sie wollen den Westen kennen lernen?«, fragt sein Gegenüber. Dunbar antwortet: »Yes Sir, solange es ihn noch gibt.« Vielleicht ist es so auch mit dieser Reise. Ich möchte den Norden sehen, solange es ihn noch gibt und in dem Moment dabei sein, wenn er von Ingenieuren und Diplomaten erobert und verändert wird. Kiruna, die nördlichste Stadt Schwedens, liegt jetzt hinter mir. Narvik auch. Ich bin per Mietwagen unterwegs zu einer Geisterstadt, irgendwo hinter den Felsen der Vesterålen (die Sie für eine Verlängerung der Lofoten halten werden), dann weiter nordwärts. Und überall treffe ich diese Menschen, die der Gegenwart trotzen, die nach vorne blicken und etwas schaffen wollen, mit eingebautem Traumantrieb, gewissermaßen. Sie hätten den Flughafendirektor sehen sollen, der von der Eroberung des Weltraums sprach. Sie hätten die Energie-Kundschafter hören sollen, mit denen ich eben telefonierte: berauscht von der Jagd nach dem Schatz im Nordmeer. Und wussten Sie, dass Narvik der Hafen nach China ist? Ich auch nicht. Aber das ist es ja. Sie halten hier alles für denkbar. Sie denken groß. Und das hat nicht nur mit der Dunkelheit zu tun, mit der Abgeschiedenheit. Diese Aufbruchstimmung hängt vor allem mit dem Tauwetter und geopolitischen Überlegungen zusammen – mit dem Gas, dem Öl, den Russen. Und mit großem Power-Point-Kino, Power-Point können sie im Norden alle.
Was geschieht eigentlich, wenn eine ganze Region zu träumen beginnt? Wenn eine Region von der Peripherie zum Zentrum werden möchte? Wenn die Inuit auf Grönland und die Bürgermeister im leeren Nordnorwegen über Nacht zu Global Playern werden?
Sie kennen den Ordner, den ich auf meinem Rechner anlegte, als Russland im Sommer 2007 ein Fähnchen in den Meeresboden unter den Nordpol bohrte. Dieser füllt sich stetig. Eben noch hörte ich von einem Unternehmen, das in Finnland und Nordschweden Uran abbauen möchte – es wirbt mit dem Slogan »fuelling the future« und einer Arktis, die auf der »Political And Economic Risk Map« mit »Low Risk« überschrieben war. Ich stieß auch auf ein Interview aus Russland. In den Jahren zwischen 2030 und 2050, sagte da ein Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, werde sich die Energieproduktion der Welt hauptsächlich auf Feldern im Fernen Osten und in der Arktis abspielen. Und ich schnappte eine neue Wettervorhersage für die Zukunft der Arktis auf: »Wärmer, wilder, nasser« werde es hier oben, so der Experte.
Den Ordner habe ich »Der neue Norden« genannt.
(Aus einem Brief des Autors an den Verlag)
KAFFEE
Iqaluit – 63 Grad Nord – Der Traum vom Jackpot
Zehn Minuten, heißt es. In Iqualuit, einem Ort im vereisten Nordosten Kanadas, den vor Jahren nur Abenteurer und Testpiloten kannten, gibt es nach Feierabend neuerdings zehn Minuten Rush Hour, in denen nichts mehr geht. In diesen zehn Minuten stauen sich die Fahrzeuge vor der einzigen Kreuzung. Über diese zehn Minuten diskutiert der Stadtrat, weil er die Rufe nach einer Ampelanlage nicht länger überhören kann, und die Bürgermeisterin, die im Hauptberuf ein kleines Café namens »Grind & Brew« betreibt, sagt darüber beschwichtigend, das alles sei nun einmal die Folge des erhofften Aufschwungs. Wie sollte es auch anders sein, wenn sich die Bevölkerung eines entlegenen Fleckchens am Polarkreis innerhalb weniger Jahre auf nunmehr siebentausend Einwohner verdoppelt.
Die Journalisten, die es im Frühjahr 2010 nach Iqaluit verschlagen hatte, quittierten das Schauspiel mit einem ungläubigen Lächeln. Sie waren sich darin einig, dass es Iqaluit nur dank seiner Abgeschiedenheit zu einem Konferenzort gebracht hatte, an dem die Finanzminister der sieben großen Industriestaaten unbehelligt reden konnten, und je länger sie die Einwohner beobachteten, je mehr sie im Dunkel der Wintertage von Alkoholismus, Selbstmord und Sozialhilfe hörten, umso unwahrscheinlicher schien es ihnen, dass dieser Frostwinkel in der Baffin Bay eines Tages aufblühen könnte. Der Artikel über »Die täglichen zehn Minuten Verkehrsstau in Iqaluit« jedenfalls, der in einer renommierten Tageszeitung erschien, fiel in der Anlage in die Kategorie »Kurioses aus dem Völkerkundemuseum«.
Irgendetwas freilich musste an dieser Geschichte dran sein. Sonst hätte der Journalist, der für das G7-Treffen nach Iqaluit geflogen war, über die Minister berichtet und nicht über die Kreuzung, und sonst hätte es der Artikel kaum auf die Titelseite des Wirtschaftsteils geschafft, eingekeilt in Berichte über das »Risiko Staatsbankrott«, die »digitale Evolution« und Fertighäuser von Ikea. Eine Erklärung ist die Geschichte hinter der Geschichte: In der Arktis werden gewaltige Rohstoffmengen vermutet, deren Erschließung den Norden ebenso zu einer Schlüsselregion machen könnte wie das Tauwetter, das neue Handelswege eröffnet. Eine andere Erklärung liefert das Foto, das der Journalist in Iqaluit aufnahm und mit dem Titel »Zeichen des Aufbruchs« versah. Es zeigt eine Ortsdurchfahrt, die mit ihren schlichten Häusern zu beiden Seiten, mit den Stromleitungen und Allradwagen wie eine Westernstadt in Schnee und Eis erscheint. Gerade das machte mich stutzig. Denn auch andere Bilder, die sich die Gegenwart vom Norden macht, gleichen deutlich den Bildern, die in Amerika mit den sinnstiftenden Bildern des »Trecks nach Westen« verbunden sind. Sie erzählen fast gleichnishaft von Wildnis und Zivilisation, sie suchen unentwegt nach Pionieren der Technik und Helden der Einsamkeit, und sie erliegen häufig der Vorstellung, in der unberührten Weite der Arktis noch entdecken zu können, was im urbanisierten Europa kaum noch erkennbar ist: den Kern der menschlichen Dinge. Fast wöchentlich gab es in den letzten Wintern Reportagen zu sehen, die diese Inszenierung aufrecht erhielten. Sie trugen Titel wie »Taxi zum Eismeer«, »Der Obstmann vom Dempster Highway«, »Alaskas Mega-Maschinen« und »In den Fußstapfen Fridtjof Nansens«, sie berichteten von den Truckern und Fischern Alaskas ebenso wie von Ingenieuren im Polarmeer und Wissenschaftlern auf Spitzbergen, die mit dem Gewehr auf dem Rücken zur Arbeit gehen. Und oft genug sind irgendwo auch deutsche Auswanderer oder Touristen zu sehen, Auswanderer und Helden auf Zeit, die in diesen unwirklichen Welten mit Schlittenhunden, Eisbrechern und Postbooten unterwegs sind, um der Gegenwart noch stärker als den Naturgewalten zu trotzen.
Dieses auffällig starke Interesse an der zivilisatorischen Grenze im Norden ist nicht nur eine Reaktion auf eine Welt, die sich in den vergangenen zehn Jahren rapide technologisch beschleunigte, ohne dass Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hier hätten mithalten können. Hier drückt sich auch die Sehnsucht nach einem Umfeld aus, in dem man noch Pläne schmieden, Spuren hinterlassen, von vorn beginnen kann – die Sehnsucht, einen wirklichen Aufbruch erleben zu dürfen.
Der Norden oder das, was wir für »den Norden« halten, ist in unseren Köpfen eben schon immer eine Projektionsfläche gewesen, auf der wir unsere Sehnsüchte und Träume abbilden. Schon die Geschichte, die Mary Shelley von Victor Frankenstein und seiner an Einsamkeit leidenden Kreatur erzählte, lief nicht von ungefähr auf einen Showdown im nordischen Nichts hinaus – auf ein Schiff, dessen Kapitän eigentlich aufgebrochen war, um nahe dem Nordpol neue Seepassagen zu erschließen, und einen Mann, der im Whiteout des Packeises vor allem sich selbst zu begegnen fürchtete. Der Norden, das ferne, karge und unvorstellbare Nichts, diente als gedankliche Hilfskonstruktion. Überhaupt: die Literatur. Wie sehr sie unsere gedanklichen Begegnungen mit dem Norden vorstrukturiert, zeigt eine Anekdote um den Norweger Fridtjof Nansen. Er war einer jener Polarhelden, die zu Kaisers Zeiten eine Begeisterung auslösten wie später nur die amerikanischen Mondfahrer; seine Bücher zählen bis heute zum Reisegepäck von Abenteurern, Ingenieuren und Touristen. Als dieser Mann 1893 nach Norden aufbrach, soll sich in der Bordbibliothek nicht nur ein Exemplar von Jules Vernes »Abenteuern des Kapitän Hatteras« befunden haben. Sein ganzes Schiff, die legendäre »Fram«, war nach der »Forward« des Kapitäns benannt, der von einem eisfreien Nordpol träumte. Denn auch »Fram« bedeutete »Vorwärts«, und der Weg nach Norden, das war der Weg voran. Dieser Weg war auch immer ein denkwürdiger, von Zweifeln und Wahnvorstellungen begleiteter. Denkt man bloß an das Schicksal der »Forward«, die von der Besatzung in Stücke geschlagen und verfeuert wurde, um zu überleben. Oder an Hatteras, ihren Kapitän. »Meine Freunde«, rief der noch im Nervensanatorium. »Ihr seht, unser Heil liegt im Norden, immer im Norden! – Wir werden gerettet sein!« Nansen war sich seiner Sache trotzdem sicher. Auf den ersten Seiten seines Bestsellers »In Nacht und Eis« hinterließ er den Ratschlag: »[…] und willst Du den menschlichen Geist in seinem edelsten Kampfe gegen Aberglauben und Finsternis sehen, so lies die Geschichte der arktischen Reisen«.
Und so blieb es. Denn genau diese Lesarten des Nordens haben bis heute gehalten, ob man sich dessen bewusst ist oder nicht, sie haben sogar die Zeit des Nationalsozialismus überdauert, in der der Norden als Projektionsfläche einer rassistischen Ideologie herhalten musste, und sie prägen auf eine spezifische Art und Weise selbst noch den suchenden Blick, mit dem wir in Nordeuropa regelmäßig Pioniere des »social engeneering« ausmachen wollen, des Wohlfahrtsstaates. Selbst die Geschichten vom europäischen Norden, von dem dieses Buch handelt (und dabei das zu Dänemark zählende Grönland miteinschließt), können vor diesem Hintergrund schnell zu Frontier-Geschichten geraten, obwohl seine Kleinstädte eher mit mitteleuropäischen Gemeinden als mit trotzigen Siedlungen wie Iqaluit zu vergleichen sind. Das heißt nicht, dass der Norden für Europa eine Bedeutung besäße wie der Westen in den Vereinigten Staaten. Über die Bedeutung des dortigen Frontiergedankens schrieb der amerikanische Historiker Frederick Jackson Turner: »This nation was formed under pioneer ideals.« Die Sehnsucht nach dem Aufbruch aber – die Sehnsucht, wieder Pionier- und Frontiergeschichten erzählen zu können – ist vorhanden, bei den Ingenieuren und Geologen ebenso wie bei der Politik. Sie treibt letztlich selbst jene, die als Touristen in der letzten Wildnis Europas unterwegs sind und bloß die Naturschönheiten zu suchen glauben. Ohne es zu bemerken, folgt Europa auf einmal dem Motto Alaskas: »North to the future.«
Das gilt besonders unter den Bedingungen des globalen Tauwetters. Denn auch der Klimawandel ist ein Grund für das verstärkte Interesse am Norden, mit dem das Aufleuchten der alten, noch von der Gedankenwelt der Romantik ausgeformten Kopfbilder und Träume einhergeht. Allerdings anders, als man denken könnte. Die Herausforderungen, die der Klimawandel für den Norden der Welt bedeutet, sind groß: In Alaska stiegen die Durchschnittstemperaturen in den vergangenen fünfzig Jahren um sechs Grad an, Nordnorwegen erlebte das wärmste Jahrzehnt seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, überall taut der Permafrostboden so stark auf, dass Wissenschaftler der freigesetzten Gase wegen vor einer »Zeitbombe« warnen. Und wer kleine Meldungen liest, liest hinter den Sturmwarnungen der Wissenschaft von Häusern, unter denen der Boden bröckelt, von Rentierherden, die ins Eis der Seen einbrechen, von Museumsgebäuden, deren Holz überraschend verrottet, und dem zunehmenden Frust der Eisangler. In der allgemeinen Wahrnehmung aber geht es nicht um diese Details, sondern um reine Emotionen. Hochglanzaufnahmen von tropfendem Schmelzwasser, von krachenden Eisbergen, nachdenklichen Inuit und verzweifelten Eisbärfamilien fernab ihrer Scholle – im Norden fand die Medienmaschinerie schlichtweg Motive und Metaphern, die jedem Kind die Auswirkungen des Klimawandels verdeutlichen sollten, und über sie wurde der Norden zum Frühwarnsystem stilisiert.
Das hatte weitreichende Folgen. Die mediale Stilisierung kurbelte einen Kreuzfahrt-Tourismus in der Arktis an, der vor einigen Jahren noch für unvorstellbar gehalten worden wäre. Sie sorgte dafür, dass sich Politiker wie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, Edelpromis wie die drei nordischen Thronfolger und Rockbands wie Sigur Ros oder die White Stripes vor einer weltfernen Kulisse fotografieren ließen. Und vor allem wurden die von ihr geschaffenen Bilder von der ganz großen, von nüchternen wirtschaftlichen und militärischen Interessen befeuerten Geopolitik geentert. Von Russland war, was den Norden betraf, kaum noch die Rede gewesen, seit die Überreste der sowjetischen Nordmeerflotte im Hafenwasser von Murmansk wie Gespenster aus dunklen Zeiten vor sich hinrosteten. Im Sommer 2007, als U-Boote zum Nordpol tauchten, um dort russische Fähnchen in den Meeresboden zu rammen, änderte sich das schlagartig: Russland war zurück. Russland platzte mitten in die Eisbär-Meditationen des Westens hinein. Und schon war über Nacht vom Norden, von den Nordmeeren ebenso wie seinen Küsten, wieder als Wirtschaftsraum mit Potenzial die Rede, von einem »Arktischen Monopoly«, einem neuerlichen Big Game um die Ressourcen unter dem Eis. Ein bewaffneter Konflikt zwischen Russland und den Arktis-Anrainern Kanada, Dänemark, Norwegen und den Vereinigten Staaten schien nur eine Frage der Zeit zu sein. Boote brachen auf, um den Norden neu zu vermessen. Ingenieure brachen auf, um ihn neu zu erschließen. Militärs brachen auf, um sich für Kampfeinsätze im Norden vorzubereiten. Und der »Barents Observer« schrieb, nachdem es zwei deutsche Frachtschiffe im Herbst 2009 durch die eisige Nord-Ost-Passage geschafft hatten: »Welcome to the new Arctic.« Er schrieb es nicht ohne nachdenklichen Unterton.
Viele dieser Aktivitäten hängen mit dem Blick auf Karten zusammen, die von einer Behörde namens United States Geological Survey stammen. Auf den Karten verzeichneten Wissenschaftler des »Circum-Arctic Resource Appraisal Assessment Teams« vor einigen Jahren diejenigen Gebiete nördlich des Polarkreises, oberhalb etwa 66 Grad nördlicher Breite also, in denen sie noch unerschlossene Gas- und Ölreichtümer vermuteten. Die Gebiete, die auf den Karten weiß blieben, weil sie kaum Potenzial zu besitzen schienen, waren vergleichsweise klein. Die marimekkohaft gemusterten, an eine schlichte Farbskala angelehnten Areale hingegen waren so groß, dass sie den Arktisanrainern früher oder später den Kopf verdrehen mussten: »The sum of the mean estimates for each province indicates«, hieß es etwa im Fact Sheet 2008, »that 90 billion barrels of oil, 1,669 trillion cubic feet of natural gas, and 44 billion barrels of natural gas liquids may remain to be found in the Arctic, of which approximately 84 percent is expected to occur in offshore areas.« Diese Karten waren moderne Schatzkarten, sie berauschten eine ganze Region im Norden der Welt, und sie ließen selbst jene Staaten aufhorchen, die tausende Kilometer von der Arktis entfernt lagen. »Bei der Arktis-Frage«, teilte mir im Zuge der Recherchen ein Sprecher des Auswärtigen Amtes mit, »geht es um eine der großen strategischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. […] Seriöse Forschungseinrichtungen vermuten, dass in der Arktis etwa 90 Milliarden Barrel Erdöl und 50 Billionen Kubikmeter Erdgas liegen. Dies wären etwas über 20 % der weltweiten Reserven und würde etwa einem Zwölftel der weltweiten Ölreserven und einem Viertel der Erdgasreserven entsprechen.« Womit die Zahlen des Fact Sheets noch einmal übersetzt wären.
Der Traum, im Norden neue Rohstoffe erschließen zu können, ist allerdings nicht neu. Die Rohstoffe scheinen nur jetzt, da die See zugänglicher, das Eis kleiner und die andernorts verfügbare Rohstoffmenge immer übersichtlicher wird, zum Greifen nahe, und zwar trotz aller Bedenken, die Erschließung könne mit unabsehbaren Konsequenzen für das Ökosystem der Arktis verbunden sein. »Es hat sehr vil grosser von mancherley Metall und reiche Bergwerck in mitnächtigen Landen. Es sein ihr vil, dann man findet schier in alen Thälern und Bergen. Sie sein groß, dann sie sein unerschöpfflich […] So sein sie von mancherley Metall, dann geben Silber, Kupffer, Ertz, Stahel und auß der Maßen gut Eisen.« Das schrieb im 16. Jahrhundert der letzte katholische Erzbischof von Uppsala, Olaus Magnus, nachdem er den Norden bereist, kartiert und beschrieben hatte. Und siehe da: Schon damals war es eine Zeit des Umbruchs, in der solche Nachrichten überhaupt erst in größerem Stile Verbreitung finden konnten, und schon damals war der Hinweis auf die Ressourcen im Norden immer auch Teil eines politischen Kalküls. Dem Katholiken Magnus, betonten die Herausgeber des Bandes »Wunder des Nordens«, ging es während der Reformation darum, »einem europäischen Publikum vor Augen zu führen, wie bedeutend und in vieler Hinsicht wertvoll die Länder des Nordens sind.« Um seine eigene Sache zu retten.
Aus ähnlichen Gründen gelangte in der Orientierungs- und Umbruchphase nach dem Zweiten Weltkrieg auch August Hoppes Buch »Nördliche Utopia« in die Buchläden. Seine Kenntnis des Nordens mochte auf einen »drei Jahre dauernden Aufenthalt im nördlichen Norwegen« zurückgehen, über den sich der Autor in diesen Nachkriegsjahren ausschwieg. Aber das machte nichts. Denn Hoppe entzauberte die althergebrachte Redewendung, »dass das nördliche Norwegen keine Landschaft, sondern ein Problem ist«. Die nordnorwegische Küste, die ja das nördliche, von der eisigen Ostsee verbundene Schweden und Finnland in einem zerklüfteten Bogen überspannt, schließe eine Region ab, die »mehr sein kann als es ist«. Ja, der Norden Skandinaviens könne »volkswirtschaftliche, ja weltwirtschaftliche Bedeutung« gewinnen, so wie es in Nordamerika einst Alaska vermochte. Natürlich wusste auch Hoppe, als er von »112.182 Quadratkilometern Zukunft« schwärmte: »Nordnorwegen ist nicht Alaska, der Altafluß ist kein Yukonriver. Ein Klondyke wird sich nicht in der lappischen Moostundra wiederholen.« Der Norden aber hatte Potenzial. »Er birgt die Möglichkeiten, ein Land zu werden, das eine große Entwicklung vor sich hat. […] Alles ist noch der Zukunft überlassen. Das ist die große Chance, die diesem Land gegeben ist.« Und es gab andere, die das ebenso sahen. Etwa zur gleichen Zeit erschienen auch die Bücher »Zum Dach Europas« und »Arktis. Erdteil der Zukunft« von Vitalis Pantenburg, der vor dem Krieg noch »Russlands Griff um Nordeuropa« befürchtet hatte und sich nun Gedanken um das »koloniale Nordland« machte, zudem Ernst Hermanns »Das Nordpolarmeer. Das Mittelmeer von morgen«. Diese Bücher waren nicht als zynisches Postscriptum auf die Besatzungszeit in Norwegen gedacht, die mit der vollständigen Niederbrennung der Nordprovinzen im Winter 1944/45 geendet hatte. Sie waren auf ihre Art ein Echo dieser Jahre – und Ausdruck des sich nun entfaltenden Kalten Krieges. Der Norden Skandinaviens, Europas Nordflanke, sollte im Zuge der Ost-West-Konfrontation nicht zum sicherheitspolitischen Vakuum werden.
Für den Norden selbst waren diese strategischen Überlegungen gleichermaßen gut wie frustrierend. Sie waren gut, weil die Peripherie unter den Vorzeichen des Kalten Krieges tatsächlich nicht aufgegeben wurde, weil mit der militärischen Bedeutung des Nordens auch einige Arbeitsplätze im Norden verbunden waren. Sie waren aber schlecht, was den erhofften großen Aufbruch betraf. Denn mit einem Sowjetrussland als Nachbar, das in allen Hauptstädten der westlichen Welt als Bedrohung aufgefasst wurde, war eine wirkliche Modernisierung der kargen Gebiete nicht wirklich vorstellbar, und zwar auch dann nicht, als auf einmal wieder verstärkt von Rohstoffen die Rede war. »Um Verwicklungen mit der Sowjetunion auszuweichen«, schrieb Claus Gennrich 1979 im Merian-Heft »Norwegens Norden«, »hat Norwegen die Erschließung der Öl- und Gasquellen vor Nordnorwegen in die Zukunft verschoben. Es liegen aber Anhaltspunkte dafür vor, dass dort reichere Schätze winken als im norwegischen Teil der Nordsee […] Die Sowjetunion indessen sondiert schon bei multinationalen Gesellschaften nach Möglichkeiten, den Eismeerboden technisch zu erschließen.« Nach Ende des Kalten Krieges, als Europa auf einmal den Norden auf seiner Wetterkarte entdeckte, wurde umso stärker der Blick wieder nach Norden gerichtet – auf die »Barentsregion«, deren Modernisierung und Vernetzung vor allem die norwegische Außenpolitik vorantrieb. »The further north you go«, sagten nun russische Außenminister, die Kirkenes besuchten, »the better East-West relations«. Daran glaubten sie im Norden, allen gelegentlichen Muskelspielen Russlands mit seinen U-Booten und Jagdflugzeugen zum Trotz. Sie erinnerten sich an die Zeiten des russisch-norwegischen Pomorhandels, des grenzüberschreitenden Küstenhandels, der Mitte des 18. Jahrhunderts begonnen und mit der Oktoberrevolution geendet hatte. Sie sprachen so selbstverständlich von der Vereinbarkeit von Aufbruch und friedlicher Kooperation wie andere, die Unternehmen der Energie-Industrie vor allem, von der Vereinbarkeit von Natur und Technik. Und die regionalen Entwicklungsgesellschaften, die jetzt nördlich des Polarkreises gegründet wurden, um die Modernisierung voranzutreiben, gaben sich Namen wie Progressum und Futurum. Das Schlagwort von der »Zukunftsregion Barents« machte die Rede, als könne sich der Norden am bundesdeutschen Ortsverschönerungsprogramm »Unser Dorf hat Zukunft« beteiligen. Die Russen. Das Gas. Das Öl. Der Fisch. Nein, sagte man, diese Chance zum Aufbruch will man nicht vorüberziehen lassen, im schwedischen Kiruna, wo sie nach den Sternen greifen, ebenso wenig wie im Hafen von Narvik, der vom großen Umschlag träumt, in Harstad auf den Lofoten, wo sie auf das Öl warten, ebenso wenig wie in der neuen Fabrik in Hammerfest, die das Gas aus dem Nordmeer bereits abzapft und verschiffbar macht. Erst recht nicht in Grönland, das nach Jahrzehnten, in denen man sich in dänische Plattenbauten zurückzog, von einer nationalistischen Hochstimmung ergriffen worden ist. Jemand hat gefragt, ob diese Projekte nicht vor allem eines sind: eine Überlebenstechnik. Das ist gut möglich.
Der Norden des Nordens jedenfalls begreift das Ende des Kalten Krieges und das neue Interesse am Norden als historische Chance, alte Träume zu verwirklichen und die eigene Modernisierung voranzutreiben. Diese Haltung gilt allerdings auch für die großen Energie- und Grubenunternehmen, die eine geschickte Lobby- und PR-Arbeit treiben, teils so hinterhältig, wie es Andri Snær Magnason in seinem Dokumentarfilm »Dreamland« (2009) über die Aluminiumproduktion auf Island beobachtete, teils mit der ehrlichen Absicht, bei der Ausbeutung der Natur in der Arktis nicht die Fehler zu wiederholen, wie sie bei der hemmungslos zynischen Rohstoffjagd in Dritte-Welt-Ländern gemacht wurden. Schließlich geht es um Arbeitsplätze, auch langfristig gesehen. Diese Arbeitsplätze bietet auch der Tourismus, der mit den Investoren und Ingenieuren nordwärts zieht: Bis zum eigentlichen Nordpol mag es noch eine Strecke hin sein. Doch was macht das schon hier in der Peripherie, in den dünn besiedelten Streifen einer kargen und erhabenen Landschaft, in denen...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Inhaltsverzeichnis
  3. Im Gepäck
  4. Danksagung
  5. Reisestationen