Die Heilung des verlorenen Ichs
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Die Heilung des verlorenen Ichs

Kunst und Musik in Europa im 21. Jahrhundert

  1. 176 Seiten
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Die Heilung des verlorenen Ichs

Kunst und Musik in Europa im 21. Jahrhundert

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Über dieses Buch

In keinem Bereich wird so deutlich wie in der Musik, in welch hohem Maß Europa kulturell von seiner Substanz lebt. Die Hoffnung, die Neuerungen des 20. Jahrhunderts würden bald genauso akzeptiert werden wie vormals die von Beethoven und Wagner, hat sich nicht erfüllt, und immer noch wird als neu bzw. als "Avantgarde" gefeiert, was mittlerweile oft schon 50 oder gar 100 Jahre alt ist. Ist Europa erschöpft, müde geworden? In seinem Buch geht der Komponist und Philosoph Wolfgang-Andreas Schultz den tieferen Ursachen für diese Stagnation nach. Sie reichen weit zurück bis in eine Zeit, als in Europa bestimmte Weichenstellungen erfolgten, die das Verhältnis des Ich zum Anderen und zur Natur festlegten. Mit Bezug auf Gottfried Benns Gedicht "Verlorenes Ich", das die prägenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck bringt, zeigt Schultz, wie die Vorstellung eines isolierten, vom Anderen und von der Natur getrennten Ichs zur Krise der modernen Kunst führt, legt aber auch dar, dass Europa in eigenen, teilweise vergessenen Traditionen die Ressourcen finden kann, um kulturell lebendig zu bleiben. Dazu muss Europa sein Selbstbild kritisch befragen, es braucht eine neue Lesart seiner eigenen Geschichte, gerade auch der Musikgeschichte der letzten Jahrhunderte. Für die Musik bedeutet das, nicht länger auszugrenzen, sondern innerhalb der abendländischen Tradition wie auch in der Begegnung mit anderen Kulturen die Vielfalt in einer verschiedene Zeiten und Stile umfassenden, gleichwohl persönlichen Musiksprache zu vereinen – das könnte die Utopie für eine Musik des 21. Jahrhunderts sein.

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Information

DIE HEILUNG DES VERLORENEN ICHS –

Abendländische Subjektkonstitution und die Krise der modernen Kunst

I.

»Verlorenes Ich«, so der Titel eines Gedichts von Gottfried Benn, scheint zur Chiffre geworden zu sein für den Erfahrungshorizont des 20. Jahrhunderts. »Die Welt zerdacht. Und Raum und Zeiten, / und was die Menschheit wob und wog, / Funktion nur von Unendlichkeiten –, / die Mythe log.«52 Hier wie an anderen Stellen spielt das Gedicht auf Mathematik und Naturwissenschaften an, auf eine technische Rationalität und die durch sie verursachte Entzauberung und Entfremdung von der Natur.
In den letzten beiden Strophen lässt das Gedicht die Abendmahlsszene anklingen und stimmt ein in die Klage über die metaphysische Unbehaustheit und den Verlust einer spirituellen Heimat und zugleich über den Verlust der Bezogenheit auf Andere, über Vereinzelung und Vereinsamung. » – oh ferne zwingende erfüllte Stunde, die einst auch das verlor’ne Ich umschloß.«
Die Entfremdung vom Anderen, von der Natur und von der spirituellen Welt durchzieht wie ein roter Faden das 20. Jahrhundert. Fühlt sich das Ich verloren in Isolation und Einsamkeit, oder geht es ganz verloren? Jürgen Stolzenberg spricht vom Untergang des »unrettbar gewordenen Ichs, (…) einen Untergang, den es sich selbst bereitet hat«.53 Wie zwangsläufig war diese Entwicklung? Ist sie wirklich unumkehrbar? Aus einer gewissen Distanz zum 20. Jahrhundert und mit Blick auf andere Kulturen lassen sich historische Wendepunkte benennen, die zu einer spezifisch europäisch/westlichen Ich-Konstitution geführt haben – und zu einer Krise, die sich nicht nur in der Gesellschaft und ihren ökologischen Problemen manifestiert, sondern auch in den Künsten.

II.

»Ich-Konstitution« bezeichnet die Art, wie sich das Ich selbst versteht, sich selbst sieht, sich selbst inszeniert; sie ist etwas anderes als die Ich-Bildung in der Entwicklung des einzelnen Menschen.54 Theorien über die Ich-Bildung können in Theorien über die Ich-Konstitution eingehen, müssen es aber nicht. Jahrhundertelang hat sich die Philosophie des Abendlandes mit der Frage der Ich-Konstitution beschäftigt, ohne über nennenswerte psychologische Kenntnisse der Ich-Bildung zu verfügen, und gerade an entscheidenden Wendepunkten des abendländischen Denkens könnte dieser Mangel zu blinden Flecken in der Philosophie geführt haben. Man kann auch davon ausgehen, dass lange Zeit bestimmte philosophische Konzepte der Ich-Konstitution und die in der Gesellschaft gelebten Erfahrungen zweierlei waren – und schließlich gab es auch innerhalb der Philosophie diesbezüglich kontroverse Standpunkte.
Die Begriffe »Ich«, »Individuum« bzw. »Individualität« und »Subjekt« liegen eng beieinander und durchdringen sich derart, dass es besser ist, mit einer gewissen begrifflichen Unschärfe zu leben, als die Begriffe künstlich durch scharfe Abgrenzung zu definieren und voneinander zu trennen. Bei der Rede vom »Ich« wird ja in den allermeisten Fällen nicht von der gleichsam abstrakten Instanz gesprochen, sondern von einem konkreten und damit in gewisser Weise immer individuellen Ich.
Die Selbstbefragung in der Beichte, die mittelalterliche Mystik und später die Reformation haben dazu beigetragen, dass man für die Zeit ab ca. 1600 von einer zumindest lockeren Verbindung von Ich-Gefühl mit dem Bewusstsein, Individuum zu sein, ausgehen kann; Porträts, Selbstporträts und Autobiografien zeugen davon.55
Wie unterschiedlich die Vorstellungen über das Ich – und damit verbunden über Körper und Geist, Leib und Seele – in derselben Zeit sein können, mag am 17. Jahrhundert gezeigt werden. Descartes’ »Discours de la méthode« von 1637 markiert ja einen der Wendepunkte des abendländischen Denkens. Auf der Suche nach sicherer Erkenntnis kommt er zu dem Punkt, sich durch das »cogito, ergo sum« seiner selbst zu vergewissern, allerdings um den Preis einer Trennung, die als »cartesianischer Dualismus« in die Philosophiegeschichte eingegangen ist: »Ich erkannte daraus, dass ich eine Substanz sei, deren ganze Wesenheit (Essence) (…) im Denken besteht und die zu ihrem Dasein weder eines Ortes bedürfe noch von einem materiellen Dinge abhänge, sodass dieses Ich, das heißt die Seele, wodurch ich bin, was ich bin, vom Körper völlig verschieden (…) ist.«56 Nicht zufällig stehen die Begriffe »Substanz« und »Wesenheit« bzw. »Essenz« in dieser Ich-Konstitution im Zentrum.
Dagegen dichtete Angelus Silesius 1657 in seinem »Cherubinischen Wandersmann«: »Ist meine Seel im Leib /und gleich durch alle Glieder: / So sag ich recht und wol / der Leib ist in ihr wieder.«57 Die Leib-Seele-Trennung hat im Abendland eine lange Geschichte, aber gerade die mystischen Strömungen beharren auf der Einheit. So schreibt Gerhard Wehr zu dem Anfang des 17. Jahrhunderts wirkenden Philosophen und Mystiker Jakob Böhme, »dass Geist (res cogitans) und Materie (res extensa) nicht länger in der Art des Cartesius dualistisch auseinandergerissen werden dürfen. Es gibt eine Transparenzerfahrung, bei der die irdische Erscheinung einen Durchblick auf die zugrunde liegende Geistesgestalt eröffnet.«58
So hat es im Abendland auf dem Weg zum Individuum zunächst parallel zwei Auffassungen gegeben, bis sich die von Descartes ausgehende durchsetzte.

III.

Ein vom Buddhismus geprägtes Denken hat naturgemäß einen kritischen Blick auf Descartes; naturgemäß deshalb, weil der Buddha das feste, identische Ich für eine Illusion hielt. So schreibt Keiji Nishitani: »Die Tatsache jedoch, dass das Ich so begriffen wird, dass das Selbstbewusstsein ständig im Selbstbewusstsein reflektiert und das ›Ich denke‹ vom Standpunkt des ›Ich denke‹ selbst her gedacht wird, meint, dass das Ich die Seinsweise eines in sich selbst verschlossenen Selbst zeigt. Wir können auch von dem an sich selbst haftenden Selbst sprechen.«59 »In sich selbst verschlossen« und »an sich selbst haftend« sind die entscheidenden Begriffe der Kritik an Descartes vom Standpunkt einer fernöstlichen Kultur aus.
Ein Vergleich von Europa und Japan im Hinblick auf die Ich-Konstitution und die Bedeutung von Individualität zeigt beträchtliche Unterschiede, die in der jeweiligen religiösen und philosophischen Tradition verankert sind. Dabei muss allerdings bedacht werden, dass die von Descartes ausgehende Auffassung vom Ich – allen Gegenströmungen zum Trotz – seit dem späten 19. Jahrhundert sowohl das Selbstbild Europas als auch seine Wahrnehmung von außen bestimmt hat.
Der Buddhismus, so der japanische Philosoph Toshihiko Izutsu, ist auf der Idee aufgebaut, »dass alles entsteht und als das existiert, was es ist, dank der unendlichen Anzahl von Beziehungen, die es mit anderem verbindet; (…) So gesehen, ist der Buddhismus ein ontologisches System, das auf der Kategorie der relatio gründet, im Gegensatz zum platonisch-aristotelischen System, das auf der Kategorie der substantia gegründet ist.«60 Im Westen entstand »die Vorstellung«, so Shingo Shimada, »das Eigentliche des Selbst läge in der Substanz der Individualität«, während »das japanische Konzept des Individuums (…) vielmehr auf den Relationen in den jeweiligen Sprechsituationen« beruht. »Das individuelle Verständnis einer Person geht aus den situativen Konstellationen der Relationen hervor.«61 Das zeigt sich bereits an der japanischen Sprache, die viele Worte für »ich« kennt, je nach der Situation, in der sich der Sprechende befindet.
Vermutlich werden beide Auffassungen in ihren extremen Formulierungen der Wirklichkeit der Menschen weder in Europa noch in Japan gerecht: die essentialistische insofern, als sie von einem gleichsam zeitenthobenen Kern des Individuums ausgeht, der sich nicht wandelt im Laufe des Lebens, die relationale insofern, als auch in Japan individuelle Identität durch Erinnerung entsteht und sich keineswegs nur im jeweiligen Jetzt herstellt, also auch Kontinuität aufweist.
So bemüht man sich heute um eine Annäherung beider Positionen, ohne leugnen zu müssen, dass die Kulturen in ihrem Selbstverständnis unterschiedlic...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. INHALT
  5. VORWORT
  6. EUROPAS VERGESSENE SEITEN – Eine Einladung zur Spurensuche
  7. DIE HEILUNG DES VERLORENEN ICHS – Abendländische Subjektkonstitution und die Krise der modernen Kunst
  8. GLOBALISIERUNG UND KULTURELLE IDENTITÄT – Über den schöpferischen Umgang mit der Musik anderer Kulturen
  9. KLANG – DAS ANDERE DER EUROPÄISCHEN MUSIK? – Über das Subjekt in der Kunst
  10. INTEGRALE KUNST – Versuch einer Konkretisierung am Beispiel der Musik
  11. EIN NEUES NARRATIV? – Ein Versuch, die Musikgeschichte anders zu erzählen
  12. PARADIGMEN VON INNOVATION – Neu über das Neue nachdenken
  13. AVANTGARDE – Zur Archäologie eines historischen Phänomens
  14. VERUNTREUTE GEGENWART – Welche Musik wird wahrgenommen?
  15. NACHWORT
  16. QUELLENNACHWEIS