KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG
DIE DREI BRIEFUMSCHLÄGE
Als Laura nach ihrer Auseinandersetzung mit Caroline heimkam, hing ein Zettel an ihrer Wohnungstür. Sie dachte schon, es sei eine Nachricht des Gerichtsvollziehers wegen der Steuernachzahlung, doch er stammte von Quentin.
Bin vorbeigekommen, Sie waren nicht da. Hab’s auf Ihrem Handy versucht. Keine Reaktion. Rufen Sie mich an. Q.
»Sie können mich mal, Quentin«, murmelte sie und nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank. »Ihr könnt mich alle mal.«
Sie drehte den Verschluss ab und trank aus der Flasche, bis ihr Mund überlief und ihr das blubbernde Wasser übers Kinn, auf die Bluse und zwischen die Brüste rann, alles egal. Sie ging ins Schlafzimmer, öffnete die Terrassentür und trat in den Garten. Es hatte heftig geregnet, doch inzwischen tröpfelte es nur noch, und die Luft war immer noch warm. Da sich auf ihren Gartenmöbeln Pfützen gebildet hatten, setzte sie sich auf das Mäuerchen neben dem Teich, fuhr mit den Fingern durch die schleimige Wasseroberfläche und konnte gerade eben ihr Handy ausmachen, das immer noch zwischen Steinen im Schlamm ruhte. Sie hätte sich den Blusenärmel hochschieben und es herausfischen können, aber sie beschloss, es zur Erinnerung an Edys Anruf und das Ende ihrer Karriere zu lassen, wo es war. Da brummte in ihrer Jeanstasche ihr neues Telefon. Sie zog es heraus und warf einen raschen Blick aufs Display. Quentin.
»Sie können ja ganz schön penetrant sein«, sagte sie.
»Sehr charmant.«
»Entschuldigung. Ich bin aus Georgie by Georgie rausgekickt worden. Wissen Sie das schon?«
»Lassen Sie uns ein andermal darüber sprechen. Ich bin in London.«
»Das dachte ich mir.«
»Kommen Sie doch morgen zum Tee her.«
»Ich möchte gerade niemanden sehen.«
»Hören Sie auf, sich selbst zu bemitleiden. Ich muss Sie sprechen.«
»Dafür ist es zu spät, Quentin. Ich bin raus aus dem Stück. Ich brauche Ihr Geld nicht mehr.«
»Wir sollten trotzdem reden. Kommen Sie schon, Laura. Auf ein Teestündchen zu zweit.«
»Wo sind Sie denn abgestiegen?«
»Im Savoy.«
»Genau wie Georgie.«
»Ja. Genau wie Georgie.«
Laura hatte angenommen, der Angestellte am Empfang würde ihr den Weg zum Thames Foyer weisen, stattdessen hieß es, Mr Quentin Holloway erwarte sie in seiner Suite. Abgesehen davon, dass sie sich ärgerte, nicht in einem ihrer Londoner Lieblingssalons Tee trinken zu können, irritierte es sie, dass Quentin sich eine Suite in einem der feinsten Hotels der Stadt leisten konnte, aber nicht bereit war, das Stück zu sponsern. Als Quentin sie einließ, wirkte er jedoch kein bisschen zerknirscht.
»Ach, meine liebe Laura«, krähte er. »Wie schön, dass Sie kommen konnten!«
Er trug ein weißes Hemd mit blauen Nadelstreifen zu einer hellgelben Hose, eine Kombination, die Laura an die Farben in Carolines Salon erinnerte. Er führte sie in den ganz im Art-déco-Stil gehaltenen Wohnbereich. »Ich dachte, wir reden erst mal und trinken anschließend Tee, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte er.
»Ist mir recht.«
»Gut.« Quentin winkte sie zu sich ans Fenster, von wo aus man seitlich über den Fluss auf das Südufer der Themse blickte. »Man kann sich kaum noch vorstellen, wie es hier früher aussah.«
»Man muss wohl mit der Zeit gehen.«
»Paris hat es geschafft, seinen Charakter zu bewahren. London hingegen … London verändert sich vollständig. Manches mag ich ganz gern. Die Tate Modern natürlich, wo wir zusammen zu Mittag gegessen haben. Aber manchmal betrachte ich die Skyline, sehe, sagen wir, das London Eye da drüben und frage mich, wo bin ich hier eigentlich? In Blackpool?«
»Ich bin in London geboren und aufgewachsen, aber ich ziehe das moderne London vor. Das alte ist so voller Touristen.«
Quentin wandte sich vom Fenster ab und sah sich im Raum um. »Wenn Georgie in London war, kam sie immer hierher. Unglücklicherweise verband eine Hassliebe sie mit diesem Ort.«
»Warum Hass?«
»Ach, Erinnerungen«, sagte er wehmütig. »Vielleicht sollten wir uns setzen.«
Laura wählte einen Sessel, Quentin ließ sich auf dem Sofa nieder. Auf dem Tisch zwischen ihnen stand eine große, noch in Folie gewickelte Schale mit Obst, daneben lagen diverse Luxus-Reisemagazine sowie drei Briefumschläge.
»Ich muss Ihnen etwas gestehen«, sagte er, ohne auch nur im Mindesten schuldbewusst zu wirken. Er hielt inne, wohl in der Annahme, sie werde neugierig nachfragen.
»Bitte«, ermutigte sie ihn.
Er senkte den Kopf, als habe sie ihm die Beichterlaubnis erteilt. Dann räusperte er sich und fuhr fort: »Als Gegenleistung für den Probedurchlauf meines Stücks habe ich Ihnen den uneingeschränkten Zugang zu Georgies Papieren zugesichert. Ich fürchte, dass ich dem nicht in vollem Umfang nachgekommen bin.« Wieder hielt er inne. »Gewisse Schriftstücke habe ich zurückgehalten.«
»Zum Beispiel?«
»Sie haben mich einmal gefragt, warum Georgie ihre Schauspielkarriere aufgegeben hat. Ich sagte, ich wüsste es nicht, aber das stimmt nicht.« Quentin faltete die Hände im Schoß und seufzte. »Es muss etwa neunzehnhundertsiebenundzwanzig gewesen sein. Georgie war zu der Zeit wegen des Erfolgs von The Woman Walks Free ziemlich berühmt. Aber ihr Aufstieg fiel mit einem entscheidenden Wendepunkt in der Filmindustrie zusammen, der Ablösung des Stummfilms durch den Tonfilm. Eines Tages luden die renommierten, heute nicht mehr existierenden Montgomery Studios sie zu einem Vorsprechen in dieses Hotel ein, in genau diese Suite. Es ging darum, ob ihre Stimme – nicht nur ihr Gesicht – dem amerikanischen Tonfilmpublikum gefallen könnte. Georgie wurde von Mister Montgomery, dem Studioboss, und dem Produzenten Hubert Hoffstetter oder Hub, wie er sich gern anreden ließ, empfangen. Um ihre Stimme zu testen, forderte man sie auf, die Speisekarte des Savoy Grill vorzulesen. Ich habe Georgies schriftlichen Bericht über das Ereignis zwischen ihren anderen Unterlagen entdeckt.«
»Und dieses Papier haben Sie mir vorenthalten?«
Quentin griff nach einem der Umschläge. »Hier«, sagte er. Der Umschlag trug die Aufschrift »Savoy«.
Darin befanden sich nicht nur Georgies Notizen, sondern auch die Speisekarte. Letztere war ziemlich vergilbt – kein Wunder, sie war über achtzig Jahre alt – und wies an einer Ecke einen Fleck auf, vermutlich von Rotwein. Auf der Vorderseite prangte über den Worten »The Savoy. Grill Room« ein Wappen.
»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, Laura, aber wären Sie wohl so nett, die Karte vorzulesen?«
»Was geht hier vor sich, Quentin?«
»Bitte. Tun Sie mir den Gefallen.«
Sie nahm die Worte auf dem Blatt Papier in sich auf, versuchte einen Moment lang, sich in die aufgeregte, ängstliche junge Schauspielerin hineinzuversetzen, herbeizitiert von dem berühmten Hollywood-Produzenten für ein Vorsprechen, das ihre Laufbahn, ja ihr ganzes Leben hätte ändern können. »In Ordnung«, sagte sie.
»Hätten Sie was dagegen, dafür aufzustehen?«
Laura erhob sich, nahm die Speisekarte in die Hand und las: »Suppen: Petite Marmite. Consommé Julienne. Tomatencreme. Hasensuppe. Fisch: Bergforelle in Krabbensauce. Heilbutt mit Sauce hollandaise. Austern-Pastetchen. Fleisch: Lendenbraten und Rinderhochrippe. Putenbraten und Bratwürste. Gebratene Schweinshaxe mit Apfelsauce. Ochsenzunge …«
Quentin klatschte in die Hände. »Genug!«, rief er. »Das reicht.«
Laura war kurz davor, die Geduld zu verlieren. »Können wir mit diesen Spielchen jetzt aufhören, Quentin? Erzählen Sie doch einfach, was damals in dieser Suite geschehen ist.«
»Montgomery saß da drüben in der Ecke.« Quentin zeigte auf einen Stuhl, der in den vergangenen acht Jahrzehnten sicher mehrmals ersetzt worden war. »Er dürfte zu der Zeit an die siebzig gewesen sein. Er erhob sich und ging, auf seinen Gehstock gestützt, ins Schlafzimmer. Und dann schlug Hub Georgie vor, Montgomery dorthin zu folgen.« Vor Wut weiteten sich Quentins Äuglein. »Eine junge Frau am Anfang einer vielversprechenden Karriere. Was sollte sie machen?«
»Was hat sie gemacht?«
Quentin sah Laura ungläubig an. »Die meisten Frauen damals hätten vermutlich gedacht, sie hätten keine Wahl.« Er hob den Zeigefinger. »Aber nein. Georgie ist nicht in das Schlafzimmer gegangen. Das verboten ihr ihr Stolz und ihre Integrität. Montgomery hat sie daraufhin vernichtet. Ich habe nie herausgefunden, was er den Leuten über sie erzählt hat, aber von dem Tag an existierte sie für die Studios nicht mehr. Obwohl das alles in diesem Hotel passiert war, ist sie immer wieder hergekommen. Es war eine Trotzreaktion. Eine bittersüße. So bittersüß.«
Laura setzte sich neben Quentin. »So was ist früher häufig passiert«, sagte sie. »Zu meiner Zeit auch noch. Und heute ist es bestimmt nicht anders. Die ›Besetzungscouch‹.«
»Ich weiß. Aber sie hätte ein Star werden können.«
»Vielleicht war es für sie letzten Endes besser so. Denken Sie an ihre großartige Karriere als Fotografin.«
»Sie haben ja recht. Aber immer wenn wir über ihre Zeit beim Film sprachen, leuchteten ihre Augen. Als wäre in ihr drin ein Licht angeknipst worden, unweigerlich gefolgt vom Schatten des Bedauerns.«
»Wollen wir jetzt Tee trinken?«, schlug Laura vor.
»Vielleicht keine schlechte Idee.«
Quentin gab telefonisch seine Bestellung durch, nicht ohne um seine Spezialsorte von der Numalighur-Plantage zu bitten. Das schien weiter keine Probleme aufzuwerfen, denn kaum hatte er den Hörer aufgelegt, klopfte es bereit...