Lucius
Paris/Wien, 1. September 2013
Lucius saß in der Business Class der Air France und betrachtete gedankenverloren die Wolken, die an ihm vorbeizogen. Er konnte sich noch immer keinen Reim auf seine Gefühle in Bezug auf Marie machen. Bisher war er jeglichen Gefühlsregungen gegenüber Frauen immun gewesen … Was war nur los mit ihm? Wo war seine allseits bekannte emotionale Unabhängigkeit hingeraten? Er war doch immer so stolz gewesen, sich mit nichts und niemandem zu involvieren.
»Lieber Gott, was soll ich nur tun?«, fragte er ins Nichts. Er, der so viele Jahre lang nichts mehr von Gott hatte wissen wollen.
Just in diesem Augenblick teilten sich die Wolken und ein überirdisch schönes, strahlendes Licht erschien, erhellte sein Herz. Das konnte einfach kein Zufall sein. Seine Gedanken wanderten weiter, und allmählich verfinsterte eine dicke und dunkle Wolkenfront die Aussicht. Lucius zögerte unwillkürlich: Was wollte Maurice nur von Marie? Mit Grausen dachte er zurück an den Moment, als de la Fontaine ihm den Auftrag erteilt hatte, Marie Chevalier in Wien unauffällig zu folgen und ihm einen minutiösen Bericht von ihrem Tun zu geben. Nicht, dass es ihn störte, dieser attraktiven Frau, die ihn auf rätselhafte Weise betörte, bis in die Stadt der Musik hinterher zu reisen. Und er stellte sich vor, dass auch Véronique mit von der Partie wäre. Beruhigt lehnte er sich in seinem Sitz zurück und schloss die Augen, als ihm das zauberhafte Bild von Véronique erschien. Nicht nur Marie, sondern auch sie war ihm seltsam vertraut. Er fragte sich, wie es möglich war, dass Véronique und er sich derart ähnlich sahen. Jeder Außenstehende hätte sie zweifellos für Geschwister gehalten. Seltsam … Bilder von de la Fontaine im Büro erschienen aus dem Nirgendwo, von diesem Mann wollte er nun wirklich nicht träumen. Stattdessen tauchte Marie vor seinem inneren Auge auf, wie er sie ein zweites Mal in Montmartre getroffen hatte, und er ließ sich einfach von den Bildern treiben.
Umso erstaunter schreckte er auf, als er über die Lautsprecher eine Stimme aus dem Cockpit vernahm, die ankündigte, dass die Landung in Wien in Kürze bevorstand. Die Zeit war tatsächlich wie im Flug vergangen. Lucius schmunzelte in sich hinein und fuhr sich mit den Fingern durch das blonde, leicht gewellte Haar. Sonne, der Kapitän hatte von Sonnenwetter gesprochen, und so, setzte Lucius seine Sonnenbrille auf, sich der Tatsache sehr wohl bewusst, dass es schon Abend wurde. Doch er genoss es, hinter den dunklen Gläsern seiner Brille alles beobachten zu können. Als sie am Gate angekommen waren, erhob er sich von seinem Sitz, schnappte sich seine edle Laptoptasche aus dem Fach für das Handgepäck und verließ als einer der Ersten das Flugzeug. Wenig später hatte er auch seinen Koffer vom Gepäckband genommen, und vor dem Ausgang stand wie verabredet ein ehemaliger Assistent von Maurice de la Fontaine, der in Wien für die Kulturstiftung arbeitete. Sie wechselten ein paar Worte, und mit dem Händedruck zum Abschied wechselte auch ein Autoschlüssel zu Lucius. Als er ihn auf dem Parkplatz betätigte, blinkten die Lichter eines schwarzen Maserati auf. Lucius’ Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln. Wenn er schon kein Motorrad fahren konnte, so war dies gewiss die beste Wahl. Das Navi lieferte ihm die Daten für die Fahrt zum Hotel Ritz-Carlton, und mit sicherer Hand lenkte er den Wagen, der wie zufrieden leise schnurrte durch das nächtlich erleuchtete Wien.
Marie
Wien/Paris, 1. September 2013
Marie sah sich glücklich in ihrem Zimmer im Radisson Blue Style Hotel um, das quasi vis-à-vis des berühmten Literatencafés »Café Central« lag. Hatte ihr Instinkt doch eine gute Wahl getroffen. Nach dem Flug hatte es ihr gutgetan, sich ein wenig auf dem Bett auszuruhen. Aber sie war in Wien, es war noch nicht sehr spät, und ein milder Abend lockte. Nein, auch dieser Stadt wollte sie nicht auf flachen Schuhen begegnen, und so wählte sie bewusst das Paar High Heels aus ihrem Koffer, das sie für besondere Abende mitgenommen hatte. Sie hoffte, dass diese Schuhwahl den Tag auf die Weise beeinflussen würde, die sie erhoffte. Sie versuchte vergeblich den Gedanken an Julien de la Tour zu unterdrücken, an das vertraute Gespräch auf der Taxifahrt, an seinen Arm, den er um sie gelegt hatte. Natürlich war dies ihr eigentliches Ziel, sie wollte ihn vom Theater abholen. Eine ungefähre Vorstellung davon, wann seine Proben enden würden, lieferte ihr die jahrelange Erfahrung – wie oft sie doch auf ihren Vater gewartet hatte vor Bühneneingängen und in engen Gassen hinter den berühmten Opernhäusern der Welt.
Frohen Mutes trällerte sie vor sich hin, während sie durch die Gassen von Wien wanderte und so tat, als bemerke sie selbst nicht, wie ihre Füße unwillkürlich auf die Arkaden der Oper zusteuerten. Sie verweilte bei den Auslagen des »Arcadia Opera Shops« und blickte sich wie zufällig immer wieder um, da sie sichergehen wollte, dass sie den Bühneneingang nicht aus dem Blick verlor.
Eines der Schaufenster war mit einem Plakat von »Parsifal« dekoriert, dazu fanden sich CDs und DVDs von Julien in der Auslage. Sie betrachtete neugierig die Sammlung und erkannte, dass Julien zahlreiche Aufnahmen unter dem Dirigat ihres Vaters bestritten hatte. Ihr wurde das Herz warm. Sie schaute genau in dem Moment hinüber zum Künstlereingang, als Julien herauskam. Sie wollte schon auf ihn zustürmen, angetrieben von einem überwältigenden Gefühl der Zugehörigkeit, als sie realisierte, dass eine bildschöne Blondine ihn begleitete. Der Figur nach zu schließen, musste sie Balletttänzerin sein. Ja, auch die Bewegungen stimmten, die Marie so gut von Véronique kannte. Doch dies war eine fremde Frau, und Marie war wie vor den Kopf gestoßen. Sie drehte sich rasch um und behielt das Spiegelbild der beiden im Blick, das langsamen Schritts und in vertrauter Unterhaltung über die Auslage der Geschäfte zu wandern schien. Als sie dann noch mit ansehen musste, mit welch’ strahlenden Augen Julien sich seiner Begleiterin zuwandte, war es mit ihrer Fassung vorbei. Hatte er ihr etwas vorgemacht, ihr eine wachsende Nähe nur vorgespielt? Oder hatte sie sich von ihren Gefühlen davontragen lassen. War etwa er der Böse, vor dem Maria sie in Véroniques Vision gewarnt hatte? Marie zitterte und fühlte sich, als habe ein Dolch ihr Herz durchbohrt. Sie kannte Julien doch kaum, aber konnte sie ihn so falsch verstanden haben? Was nur sollte sie tun? Jetzt gleich wären die beiden auf ihrer Höhe, und Julien würde sie bemerken. Marie streifte die High-Heels ab und raschen Fußes lief sie schräg über den Platz. Als die Türen des »Starbucks« sich hinter ihr schlossen, atmete sie tief durch. Und als wäre es ganz natürlich, schlüpfte sie wieder in ihre Schuhe, bevor sie sich in die Schlange vor dem Tresen einreihte und vollkommen automatisch einen Café Latte mit Sojamilch bestellte. Wie ferngesteuert, setzte sie sich an einen Tisch und nahm nicht wahr, dass zwei Männer hinter ihr in das Café kamen und am Nebentisch Platz nahmen. In einem anderen Moment wäre ihr nie entgangen, dass die beiden sie offensichtlich beobachteten – und dass nicht nur, weil sie sie attraktiv fanden.
Marie hatte Augen für niemanden. Sie fühlte eine tiefe Einsamkeit. Véronique, ja, die hätte ihr jetzt geholfen …
Mit leerem Blick starrte sie durch die Fensterscheibe nach draußen zur Staatsoper hinüber und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Der Schmerz, Julien mit einer anderen Frau derartig vertraut zu sehen, hatte sie überrumpelt, mehr als sie es sich zuvor hatte vorstellen können. Überhaupt hatte sie so eine Verlustangst noch nie verspürt. Marie fühlte sich gleichzeitig hilflos und mutterseelenallein auf der Welt.
Wie gerufen, begann Maries Handy zu vibrieren, und sie sah glücklich die vertraute Nummer ihrer besten Freundin.
Als sie die vertraute Stimme hörte, die sagte, »Chérie, irgendwie hatte ich das Gefühl, dass du mich brauchst. Ist das so?«, liefen ihr Tränen der Dankbarkeit über die Wangen.
»Ja, so ist es!« Maries Stimme war die eines kleinen verstörten Mädchens.
»Was ist passiert? Erzähl. Ich bin bei dir.« Die Worte hüllten Marie ein in die vertraute Gegenwart von Véronique und ihr war, als säße die Freundin gleich neben ihr im Wiener Café.
»Julien hat eine andere!«, stieß Marie voller Verzweiflung aus und überraschte sich selbst mit der Vehemenz ihrer Gefühle.
»Wie? Julien hat eine andere? Wie kommst du denn darauf?«, fragte Véronique verdutzt.
»Heute Morgen im Flieger hatte ich das untrügliche Gefühl, dass ich ihn treffen würde. Also lief ich zur Staatsoper und betrachtete die Schaufenster des Opera Shops, als Julien mit einer atemberaubend schönen Frau zum Bühneneingang herauskam.«
»Verstehe. Aber was ist das Problem? Hast du mit ihm gesprochen?«
»Nein! Er kam Arm in Arm mit ihr heraus! Wie sollte ich ihn da ansprechen? Ich hätte mich doch lächerlich gemacht. Es hätte so ausgesehen, als wäre ich ein Fan von ihm und hätte mich so lange vor der Oper herumgedrückt, bis er herauskam«, rief Marie verzweifelt.
»Hm, verstehe. Hast du da nicht zu viel hineininterpretiert? Weil du selbst dich so gar nicht kennst, als Frau, die auf einen Mann wartet, der ihr etwas bedeutet? Kannst du das eigentlich vor dir selbst zugeben, wenn es so wäre – oder dass es so ist? Jedenfalls bedeutet das, was du gesehen hast, doch noch lange nicht, dass Julien mit dieser Frau in irgendeiner Weise liiert ist. Ich muss der Tochter deines Vaters ja wohl nicht erklären, dass man in Künstlerkreisen einander sehr nahe kommt, ohne dass eine irgendwie geartete Beziehung existieren muss.«
»Das kann ja sein.« Jetzt hörte Marie, dass sie fast quengelig klang, wie ein kleines Kind, das man eines Fehlers beschuldigt, und sie rief sich zur Ordnung. »Ach, Véronique, du kennst mich so gut. Ich habe mich so erschreckt, weil – weil es mir so wehgetan hat. Dass er bei einer anderen war. Und nicht an meiner Seite …«
»Du wirst eine Lösung finden, ma chère. Was machst du jetzt, hast du noch andere Pläne?«
»Ich würde ihn sooo gerne eifersüchtig machen …«
»Wieso denn das, Marie?«
»Weil ich Julien am liebsten genau auf die gleiche Weise verletzen möchte«, erwiderte Marie trotzig.
»Das ist doch absurd!«, rief Véronique aus. »Das passt überhaupt nicht zu dir.«
»Ist mir doch egal. Weißt du, ich habe irgendwie gedacht, er freut sich auf mich, und jetzt …«
»Dennoch, ma chère, lass das bitte bleiben! Eifersucht ist kein guter Berater«, flehte Véronique die Freundin an. »Du kennst ja den Spruch: »… mit Eifer sucht, was Leiden schafft«. Und das schlägt am Ende auf dich zurück. Du kannst ja gerne einen anderen treffen, aber lass Julien bitte aus dem Spiel.«
»Du hast ja recht«, lenkte Marie ein. »Irgendwie sind meine Emotionen gerade mit mir durchgegangen. Es war einfach zu viel zu bewältigen in den letzten Wochen.«
»Das versteh ich nur zu gut. Wo bist du überhaupt?«
»Bei »Starbucks« gegenüber von der Oper.«
...