Die entschlossene Generation
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Die entschlossene Generation

Kriegsenkel verändern Deutschland

  1. 247 Seiten
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Die entschlossene Generation

Kriegsenkel verändern Deutschland

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Es ist die Generation der 40- bis 65-Jährigen, es sind die Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge, die an den Schalthebeln der Macht in Politik, Wirtschaft und Kultur sitzen. Jahrzehntelang standen sie im Schatten ihrer Vorgänger, der 68er, und im Gegensatz zu diesen gelang es ihnen nur schwer, ein Gefühl für ihre gesellschaftliche Rolle und ihre Aufgabe zu entwickeln. Das hat sich inzwischen gründlich geändert, denn es waren die Babyboomer, die der Vermutung nachgingen, die Erfahrungen ihrer Eltern während der NS-Zeit und im Krieg könnten etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun haben. Ab der Jahrtausendwende begannen sie, diesen vergessenen Zusammenhang zu untersuchen. Als "Generation Kriegsenkel" drücken sie dem Deutschland von heute ihren unverwechselbaren Stempel auf. Doch was treibt sie an? Welche Ziele verfolgen sie? Wie prägen und verändern sie unser Land?

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DER WEG DER KRIEGSENKEL

Als Mensch der Gegenwart ist der Held gestorben, als Mensch des Ewigen, als vollkommen gewordener, nicht auf Partikularitäten festgelegter, universaler Mensch wird er wiedergeboren.
Joseph Campbell

DEN SCHLEIER HEBEN

Wir sind Kinder einer Generation, deren Lebenszuversicht Bis in die Wurzeln hinein ausgerissen wurde.
Wir haben nicht die Zuversicht geerbt, die Gewissheit,
Dass es diesen ureigenen Platz für uns gibt im Strom des Lebens.
Dass wir in einer langen Reihe ganz vorn stehen
Vor jenen Menschen,
die den Weg schon gegangen sind
Und die uns deshalb das Wissen darum vermitteln konnten,
Wo unser ganz eigener,
unverwechselbarer Ort liegt in diesem Kosmos.
Als man den Fluss austrocknete und den Bewohnern die Luft nahm, als man sie zwang, das lebendige Wasser aufzugeben, und sie in trübe Aquarien auf klapprige Lastwagen warf, die mit unbekanntem Ziel unterwegs waren, da hatten alle, auch die, die nachkommen würden, den Zugang zum Quell des Lebens verloren.

Das ist das Erbe:

Nicht die Sicherheit der Heimat,
Die von Anbeginn der Zeiten da war,
Sondern das Geworfensein in ein Dasein,
das uns nicht kennt
und uns nicht will.
Trotz allem leben wir.
Suchen nach Glück und Sinn,
und nach dem Potenzial,
das wir verwirklichen könnten.
Aber wie kann das gehen,
wenn die Kraft dafür aufgewendet werden muss,
Wurzeln in die Erde zu schlagen,
die eigentlich längst schon da sein müssten?

Das ist die Aufgabe:

Zu klären,
wie sind wir, die Kinder und Enkel
eigentlich so geworden, wie wir sind.
Und es weiter zu sagen.
Ich glaube, es ist an der Zeit,
den Schleier zu heben und hinzuschauen.
Vielleicht die
Zeit der Heilung.
PostelbergKindeskinder

NEBELJAHRE

Was vorüber ist
ist nicht vorüber
Es wächst weiter
in deinen Zellen
ein Baum aus Tränen
oder / und vergangenem Glück
Rose Ausländer
Ein Großteil der Babyboomer wuchs in den 1960er- und 1970er-Jahren auf. Man könnte meinen, diese Jahre stünden für eine glückliche Zeit. Gemessen an den Schrecken der von den Nationalsozialisten heraufbeschworenen Weltkatastrophe war es auch eine glückliche, weil friedliche und von kriegerischen Konflikten freie Zeit. Dies galt zumindest für uns Deutsche, auch wenn über uns das Damoklesschwert des Kalten Krieges mit seinem an Megatonnen gemessenen Vernichtungspotenzial schwebte.
Trotzdem empfinden viele Babyboomer die Jahre, in denen sie groß wurden, als eine »bleierne Zeit«.
Wer sich so ausdrückt, bezieht sich allerdings nicht auf den gleichnamigen Film Margarethe von Trottas über den Deutschen Herbst. Natürlich ist auch das Blei aus den Pistolen der RAF-Terroristen ein Signum dieser Zeit gewesen. Aber dieses Thema hatte für die Babyboomer nicht die gleiche Relevanz wie für die Vorgängergeneration, die 68er, als deren Willensvollstrecker sich Baader, Meinhof und Co. bekanntermaßen stilisierten.
»Bleiern« etikettiert das gesellschaftliche und psychologische Klima von damals, ein unbestimmbares, ungreifbares Grau, in dem vieles zu verschwimmen schien, was Kontur und Bedeutung, Bestimmbarkeit und Sinn erforderte. Das Gefühl steht in auffälligem Kontrast zum politischen Aufbruch jener Zeit, dem wachsenden Wohlstand und dem überall zu bestaunenden Fortschritt, technologisch und gesellschaftlich.

Schöne neue Welt

Nach Katastrophe und Neubeginn der 1940er-Jahre und der materiellen Betäubung der sichtbaren und unsichtbaren Kriegsfolgen durch das Wirtschaftswunder der 50er-Jahre haben vor allem die 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine außerordentlich prägende Wirkung auf die Gesellschaft der noch jungen Bundesrepublik entfaltet. Besonders die Studentenrevolte in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts mit ihren gegen Tradition, Autoritäten sowie den gesellschaftspolitischen Status quo im Allgemeinen gerichteten revolutionären Zielen und Aktionen rüttelte die Westdeutschen auf und entfaltete in den kommenden Jahrzehnten eine unübersehbare transformative Wirkung.
Emanzipation und Gleichberechtigung, eine repressionsfreie Erziehung (der eigentliche Kern des ursprünglich als antiautoritär bezeichneten und später zum Synonym für die negativen Folgen der 68er Revolte avancierten Modells), Chancengleichheit und Demokratie auf allen Ebenen – diese Forderungen und Ziele prägten den politischen Diskurs genauso wie das sonstige Klima in der Bundesrepublik.
In den 1970er-Jahren setzte sich der politische Aufbruch fort, allerdings auf andere Weise, als von den Protagonisten initiiert. Die Utopie des Aufbruchs schlug um in Dystopie, der gesellschaftsverändernde Impuls der 68er mutierte zur bleiernen Zeit des RAF-Terrorismus. Nach der Wahl von Willy Brandt zum Bundeskanzler und dem Amtsantritt der sozialliberalen Regierung verlagerten sich die Aktionen von der Straße in die Institutionen. Der lange Marsch durch dieselben hatte begonnen.
Für die Babyboomer und ihren Lebensweg sollte sich dieses bleigraue Jahrzehnt allerdings als formend erweisen.
Die Zeit der Adoleszenz ist die prägende Phase in der Entwicklung des Menschen. Sein Selbstverständnis und seine Weltsicht werden in dieser Zeit ausgebildet. Verhaltensmuster, Überzeugungen und ethische Normen entstehen durch schulische Erziehung und Orientierung an den Eltern. Glaubwürdige Vorbilder und eine Vernunftsgründen zugängliche, damit greifbare und gestaltbare Realität stellen den Bezugsrahmen dar, an dem sich die bzw. der Heranwachsende orientiert.
Das Jahrzehnt zwischen der Wahl von Salvador Allende zum chilenischen Staatspräsidenten 1970 und dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan am Ende des Jahrzehnts war die Zeit, in der die Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge die Schule besuchten oder in Ausbildung waren. Einige hatten auch schon den Einstieg ins Berufsleben geschafft. Es war die Zeit der ersten oder schon die der großen Liebe. Ein Jahrzehnt wichtiger Weichenstellungen für das eigene Leben.
Rein äußerlich betrachtet, standen alle Zeichen auf Wandel und Zukunft. Schon in den 1950er-Jahren hatte man mit dem Wiederaufbau der Städte die Verbindung zur Vergangenheit großflächig gekappt. Das Schwere, Düstere und Unübersichtliche der gründerzeitlichen Stuckarchitekturen sollte verschwinden. Die Gelegenheit war günstig, denn viele Innenstädte mussten infolge ihrer schweren Kriegszerstörungen weitgehend neu aufgebaut werden. Dieser architektonische Neubeginn erfolgte ganz im Stil des Bauhauses und sollte Licht, Klarheit, Funktionalität und Zukunftszugewandtheit miteinander verbinden. Im Westen entstanden Innenstädte wie aus dem Lego-Baukasten, bunt, aber auch quadratisch und uniform. Ähnlich verfuhr man im Osten, wo die begrenzteren ökonomischen Ressourcen allerdings eine grau gefärbte und noch eintönigere Stadtarchitektur als in Westdeutschland erschufen.
Die Enttrümmerung der vom Bombenhagel schwer beschädigten urbanen Zentren und ihr Neuaufbau wurden als Beseitigung von Geschichte betrieben. In Westdeutschland begann eine Phase, die »zweite Zerstörung« genannt wird. Dort, wo sich in der Mitte von Frankfurt am Main, unweit des Doms, bis zur fast vollständigen Zerstörung bei Kriegsende das alte jüdische Viertel befunden hatte, entstand Anfang der 1970er-Jahre ein flugzeugträgerartiges Betonkonglomerat. Anstelle eines kleinteiligen und historisch gewachsenen Stadtquartiers thronte nun das Technische Rathaus über einem verödeten Areal. Dass dieses Bauwerk das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends allerdings nicht überlebte und zugunsten einer historisierenden Neubebauung des Terrains abgerissen wurde, ist wieder eine andere Geschichte.
Ebenfalls in Frankfurt am Main diskutierte man zur gleichen Zeit, als das Technische Rathaus und neue Bankentürme in die Stadt hineinbetoniert wurden, über die noch vorhandenen Ruinen des pompösen Opernhauses, die der damalige Oberbürgermeister Rudi Arndt von der SPD sprichwörtlich mit Sprengstoff aus der Welt schaffen wollte. Arndt erhielt den Spitznamen »Dynamit-Rudi«, und die Oper wurde spendenfinanziert wiederaufgebaut.
Überall war Aufbruch, und seine aus Beton-Fertigelementen geformte Dynamik wies steil nach oben in den Himmel und in gerader Linie voraus in eine lichte Zukunft.
Auch wir blickten nur nach vorne. Ein Hinten, ein Vorher, ein Zurück kannten wir nicht. Hatte nicht die erfolgreiche Mondlandung von Apollo 11 bewiesen, dass die Menschheit auf dem Weg in eine goldene Zukunft war, ja, dass diese Zukunft bereits in die Gegenwart hineinragte? Und schien Utopia nicht von Jahr zu Jahr an Realität und Gestalt zuzunehmen? Jedenfalls waren wir alle vom Fortschritts- und Zukunftsglauben erfasst, und in unseren Kinderzimmern, die nur langsam zu Jugendzimmern mutierten, fanden sich gebastelte Mondraketen von Airfix und dünne, langbeinige Barbies in »Hotpants«, den »Heißen Höschen« nachgebildet, die die Modewelt der frühen 70er-Jahre und unsere pubertierenden Schülerköpfe mit ihren erotischen Versprechungen durcheinanderwirbelten.
Auf die Einlösung dieser Versprechen mussten wir allerdings warten. Die Brigittes, Ulrikes, Giselas und Barbaras in unseren Schulklassen waren meist in Cordhosen und Ringelpullover gekleidet, während die Norberts, Arndts, Michaels und Rolands von ihren sparsamen Müttern zu Hause mit der Peinlichkeit beauftragt wurden, die schon längst wieder aus der Mode gekommenen, aber noch gut erhaltenen Schlaghosen älterer Cousins aufzutragen.
Der Rektor unserer Schule hatte nur noch einen Arm, der leere Ärmel seines wie immer korrekt gebügelten Jacketts war mehrfach sauber gefaltet und an der Schulter befestigt. Wer erinnert sich noch an die Mundmaler? An der Wohnungstür klingelten in der Vorweihnachts- und Osterzeit ältere Frauen, die selbst gemalte Grußkarten dieser kriegsversehrten Künstler verkauften, die oft beide Arme verloren hatten.
Es gab Momente, da blitzte durch die kariert gekleidete Alltagsoberflächenwelt eine andere Wirklichkeit hindurch.

Eine verborgene Wirklichkeit

Ein Standardsatz meiner Mutter lautete: »Strom sparen, und ihr helft siegen.« Ich hörte ihn immer dann, wenn ich als Kind und auch noch als Jugendlicher abends nicht rechtzeitig das Licht an meinem Bett löschte oder es im Badezimmer ihrer Meinung nach zu lange brennen ließ. Dabei pflegte sie zu lächeln, so als ob ihr selbst bewusst gewesen wäre, wie sehr dieser Satz aus der Zeit gefallen war und nicht mehr in die Gegenwart gehörte. Aber genau hier, in meiner Gegenwart als Heranwachsender, hörte ich diesen Satz, und mir wurde erst später klar, dass hier ein Slogan der nationalsozialistischen Kriegspropaganda Eingang in unser Einfamilienhaus gefunden hatte.
Zu meiner Alltagserfahrung gehörten auch die Gastarbeiter, die in Wohnheimen meines Viertels lebten und in den Industriebetrieben meiner Heimatstadt beschäftigt waren. Mein Schulweg führte an diesen Heimen vorbei, und dadurch lernte ich schon früh türkische und italienische Wörter und Begrüßungen kennen.
Die Lokalpolitiker und Firmeninhaber pflegten die Hilfsarbeiter aus Süditalien, Anatolien und dem Alentejo als »unsere lieben ausländischen Mitbürger« anzusprechen. Vielen war dabei die Anstrengung, solche Menschen in den Adelsstand des Mitbürgers zu erheben, durchaus anzumerken. Die gleichen Leute wurden doch noch vor – aus damaliger Perspektive betrachtet – verhältnismäßig kurzer Zeit, also zwei bis drei Jahrzehnten, in ganz andere Schubladen einsortiert. Die Anstrengung, als lupenreiner Demokrat dastehen zu wollen, war in jenen Jahren ebenso alltäglich wie die SS-Kameradschaftstreffen im Dorfkrug eines namenlosen Weilers gleich hinterm nächsten Wald.
In den Wohnzimmern zu Hause erfolgte das Aufblitzen dieser anderen Wirklichkeit so schnell hintereinander, dass es zur kontinuierlichen Beleuchtung wurde. Die Gastarbeiter, die man im Lebensmittelgeschäft traf oder die als Kollegen im gleichen Betrieb tätig waren, wurden dort nicht mehr als »liebe ausländische Mitbürger« tituliert, sondern waren plötzlich Kanaken und Polacken, Itaker und Knoblauchfresser.
Und noch so ein Blitz: Während Rudi Carrell und Hans Rosenthal über den Schwarz-Weiß-Bildschirm flimmerten, redeten die Eltern und Großeltern über »dahamm«. Dahamm, das waren je nach Herkunft Orte wie Kaaden und Saaz, Iglau, Jungbunzlau, Deutsch-Krone, Oppeln, Glogau, Breslau und Königsberg, die ich weder in der näheren noch – soweit ich das als guter Schüler in Geografie erkannte – in der ferneren Umgebung ausfindig machen konnte. Aber dort, in den Mauern dieser Geisterstädte, lag die Heimat, und man sprach von ihnen in einem vertrauten, zärtlichen Ton.
Einige dieser Städtenamen entdeckte ich dann auch auf einer Deutschlandkarte »in den Grenzen von 1937«, die während meiner Gymnasialzeit ab 1971 meinen Klassenraum zierte. Die meisten lagen in einer deutschen Gegend, die ausweislich der Karte »derzeit unter polnischer Verwaltung« stand. Dort, in diesem polnisch verwalteten Deutschland, gab es auch noch ein paar andere Orte, die in den Gesprächen zu Hause überhaupt keine Rolle spielten, aber später im Geschichtsunterricht wichtig wurden, zum Beispiel Auschwitz. Auch in einem anderen Teil Deutschlands, der mit »SBZ« beschriftet war und »unter sowjetischer Verwaltung« stand, waren Ortsnamen zu finden, die in den häuslichen Gesprächen vorkamen und die auch auf Straßenschildern meiner Heimatstadt verzeichnet waren.
Was das alles bedeuten könnte, gab mir Rätsel auf. Von unseren Lehrern erklärte es niemand. Erst später erfuhr ich aus mancher Todesanzeige, dass einige der Verstorbenen aus diesen östlich gelegenen Landesteilen des Deutschlands von 1937 stammten und dort viele Jahre gelebt hatten.
Noch eine Erfahrung hätte mir in diesen Jahren zu denken geben können. Es fehlten die Gräber von nahen Verwandten und die Friedhöfe, auf denen sie bestattet waren.
Als Kinder bzw. Heranwachsende bewegten wir uns in den 1970er-Jahren über die Oberfläche einer Realität, unter der sich noch andere Wirklichkeiten zu befinden schienen, die uns nicht zugänglich waren. Es gab sie aber, und sie wurden in kurzen Momenten sichtbar. Wir nahmen sie wahr wie die noch nicht aufgeräumten Trümmergrundstücke und die ausgedehnten Freiflächen innerhalb unserer Städte, wie die massiven Hochbunker in den Zentren und die toten Gleise Richtung Osten: als etwas, das fraglos zu unserer Alltagswelt gehört. Deshalb störte es uns auch nicht weiter, und wir kamen lange Zeit nicht auf den Gedanken, uns eingehender mit ihnen zu beschäftigen.
Unsere Eltern taten das schließlich auch nicht, ebenso wenig wie unsere Lehrer oder die damals politisch Verantwortlichen im Land. Außer vielleicht in Sonntagsreden, aber die interessierten uns nicht.
Dass unter der aufgeräumten Oberfläche der Alltagswelt Dämonen einer Zeit hausten, die alles andere als friedlich und lebensförderlich war, konnten wir unter diesen Umständen nicht erkennen. Wir bemerkten auch nicht, wie sie sich in unser Leben schlichen und unheilvolle Kräfte zu entfalten begannen. Es war niemand da, der uns vor ihnen hätte warnen oder gar in Schutz nehmen können. Und so konnten sie sich ungehindert das Leben der Kriegsenkel zur Beute nehmen.

Vom Verschwinden einer Katastrophe

Die 1970er-Jahre waren in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland so etwas wie ein Scharnierjahrzehnt. Wichtige innen- und außenpolitische Entscheidungen, aber auch ein insgesamt liberaleres gesellschaftliches Klima beendeten den kleinbürgerlichen Mief der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte und läuteten eine im umfassenden Sinn dieses Wortes gemeinte freiheitsorientierte Ära ein. Frauenbewegung und Emanzipation, die pazifistische Grundhaltung vieler junger Menschen, die sich an der wachsenden Zahl von Kriegsdienstverweigerern ablesen ließ, die Bereitschaft zum Protest gegen Atomanlagen oder die Hausbesetzerszene im Frankfurter Westend, in Berlin-Kreuzberg und anderswo waren Ausdruck dieser neuen Sehnsucht nach Freiheit.
Bereits das Jahr 1970 brachte für die Bundesrepublik Deutschland eine entscheidende Weichenstellung mit sich. Nach dem Regierungsantritt der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt 1969 war klar, dass der Kurs der Konfrontation, der die deutsche Außenpolitik seit Adenauer gekennzeichnet hatte, nicht mehr fortgesetzt werden würde. Die sogenannte neue Ostpolitik führte den deutschen Bundeskanzler bereits im März 1970 zu seinem legendären Staatsbesuch in die damalige DDR-Bezirkshauptstadt Erfurt. Das Treffen mit dem DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph ging als »Begegnung der beiden Willis« in die Geschichte ein und schlug, auch wenn es keine besonderen Ergebnisse erbrachte, eine erste kleine Bresche in die undurchdringliche Mauer, die damals Deutschland von Deutschland, Europa-West von Europa-Ost und die ganze Welt teilte.
Die Erfurt-Reise leitete die Ära der Entspannungspolitik ein, die schon bald, nämlich im August 1970, zum Moskauer Vertrag mit der Sowjetunion über Gewaltverzicht und Zusammenarbeit führte. Im Dezember desselben Jahres schließlich wurde mit der damaligen Volksrepublik Polen der Warschauer Vertrag unterzeichnet. Vereinbart wurden Schritte zu einer Normalisierung der beiderseitigen Beziehungen, Gewaltverzicht sowie die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens. Noch am gleichen Tag kam es zum legendären »Kniefall von Warschau«. Beim Besuch der westdeutschen Delegation am Mahnmal für die Gefallenen des Warschauer Gettos kniete sich Brandt für ca. eine halbe Minute nieder.
Diese Demutsgeste an einem Mahnmal für die Opfer deutscher Verbrechen erfolgte spontan, wie Brandt später notiert. Die Wirkung aber, die der Kniefall des westdeutschen Regierungschefs und der Warschauer Vertrag politisch und gesellschaftlich in der alten Bundesrepublik haben sollte, war immens. Die Geste wurde in Teilen der Bevölkerung als Verrat an deutschen Interessen aufgefasst. Vertriebenenverbände und die CDU/CSU-Opposition im Bundestag geißelten die Preisgabe der deutschen Ostgebiete durch die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie. Die sozialliberale Regierung, vor allem aber Willy Brandt selbst, der Friedensnobelpreisträger von 1971, sah sich starken Anfeindungen insbesondere von Heimatvertriebenen ausgesetzt. Dabei habe er nichts preisgegeben, was nicht andere für Deutschland schon längst unwiderruflich verspielt hätten, erläuterte Brandt seine neue Ostpolitik.
In der Folge, und dies ist die negative Komplementärseite der neuen Ostpolitik in Bonn, rückten zwar nicht der Nationalsozialismus als solcher, wohl aber der Zweite Weltkrieg und seine Folgen zunehmend in den Hintergrund. Dies zeigte sich an der gesellschaftlichen Bedeutung der Vertriebenenverbände. Die Ostverträge, die gegen den erbitterten Widerstand der Opposition 1972 vom Bundestag verabschiedet worden waren, hatten auch in dieser Hinsicht »ihre heilsame Wirkung getan«, wie Dietrich Strothmann am 25.01.1985 in der Zeit notierte. Die Verträge hätten nämlich der Bereitschaft zur Versöhnung einen politischen Ausdruck verschafft, zu denen sich Millionen Deutsche den östlichen Nachbarn gegenüber schon längst bekannten. Die Vertriebenenorganisationen, die die angebliche Verzichtspolitik von Willy Brandt lautstar...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. INHALT
  6. VORWORT
  7. DIE KRIEGSENKEL-ERFAHRUNG
  8. DER WEG DER KRIEGSENKEL
  9. WIE KRIEGSENKEL DEUTSCHLAND VERÄNDERN
  10. LITERATURAUSWAHL