Macht
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  1. 304 Seiten
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Über dieses Buch

Bertrand Russell (1872-1970) war Mathematiker und als solcher, was seine philosophischen Neigungen anbelangt, zunächst an der Ergründung einer Prinzipienlehre als Grundlage einer "Universalmathematik" interessiert. Als sein philosophisches Hauptwerk gilt dem gemäß auch ganz folgerichtig das gemeinsam mit seinem Lehrer Alfred North Whitehead verfasste dreibändige Werk Principia mathematica (1910-1913).Doch früh schon wandte sich Russell populär- und sozialphilosophischen Themen zu. Letzteren auch als "Aktivist", was ihm neben dem Verlust seiner Dozentur in Cambridge 1918 eine sechsmonatige Gefängnisstrafe einbrachte. Nicht nur hatte er öffentlich und vehement die Beendigung des Ersten Weltkrieges gefordert, er hatte darüber hinaus lautstark und kompromisslos zur Kriegsdienstverweigerung aufgerufen. Von dieser brennenden Jugendlichkeit ist das gesamte sozialphilosophische Werk geprägt. Neben dem mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Essay Ehe und Moral (1950) insbesondere die ebenso kraftvoll-naive wie hellsichtig-analytische Studie Macht aus dem Jahre 1938, die der Europa Verlag nun neu aufgelegt hat.In 18 Kapiteln analysiert Russell den menschlichen Machttrieb, seine institutionellen Manifestationen, das Verhältnis von Führern und Geführten, das Phänomen der nackten Gewalt und auch subtile Formen der Macht, wie die wirtschaftliche oder jene über die (öffentliche) Meinung. Und auch wenn das globale Organisationsmodell, das Russel als Ausweg aus der Macht-Falle anbietet, als in jeder Hinsicht überholt gelten dürfen sollte, seine Einsichten in die Strukturregeln von Machtverhältnissen sind dies zweifellos nicht. Und seine grundsätzlichen Überlegungen zu den anthropologischen Ursachen, Bedingungen und Konsequenzen des Phänomens der Macht als eines der zentralen gesellschaftlichen Probleme lohnen nach wie vor die Lektüre. --Andreas Vierecke -- Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.

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Information

ACHTZEHNTES KAPITEL
DIE ZÄHMUNG DER MACHT

Als er am Hange des Thai-Berges vorbeikam, begegnete Konfuius einer Frau, die bitterlich neben einem Grab weinte. Der Meister spornte das Tier und eilte ihr entgegen; dann sandte er Tselu hinüber, um sie auszufragen. >Deine Klage verrät<, sagte er, >dass du Leid um Leid erduldet hast.< Sie erwiderte: >So ist es. Einst wurde an dieser Stelle der Vater meines Gatten von einem Tiger getötet. Auch mein Gatte wurde getötet, und nun ist mein Sohn auf die gleiche Weise umgekommen.< Der Meister sagte: >Warum verlässt du nicht diesen Ort?< Die Antwort lautete: >Hier gibt es keine gewaltsame Regierung.< Da sagte der Meister später: >Denkt daran, meine Kinder: Eine gewaltsame Regierung ist schrecklicher als Tiger.«<
Das Thema dieses Kapitels ist der Frage gewidmet, wie man eine Regierung errichten kann, die weniger schrecklich als Tiger ist.
Das Problem der Zähmung der Macht ist, wie das obige Zitat zeigt, sehr alt. Die Taoisten hielten es für unlösbar und befürworteten die Anarchie; die Anhänger des Konfuzius glaubten an eine bestimmte ethische und regierungstechnische Erziehung, die die Machthaber in weisevoller Mäßigkeit und Mildtätigkeit verwandeln sollte. Zugleich kämpften in Griechenland Demokratie, Oligarchie und Tyrannei um die führende Stellung; Demokratie sollte ursprünglich den Missbrauch der Macht verhindern, brachte sich aber ununterbrochen selbst Niederlage auf Niederlage bei, indem sie der zeitweiligen Popularität eines Demagogen zum Opfer fiel.
Plato suchte wie Konfuzius die Lösung in der Regierung von Männern, die zur Weisheit erzogen worden waren. Diese Ansicht ist von Mr. und Mrs. Sidney Webb neu belebt worden, die eine Oligarchie bewundern, in der die Macht jenen anvertraut ist, welche die »Berufung zum Führertum« haben. Zwischen Plato und den beiden Webbs hat die Welt Militärautokratie, Theokratie, erbliche Monarchie, Oligarchie, Demokratie und die Herrschaft der Heiligen ausprobiert – die letztere Form ist nach dem Versagen von Cromwells Experiment in unseren Tagen von Lenin und Hitler neu belebt worden. All dies beweist, dass unser Problem noch nicht gelöst worden ist.
Jedem, der Geschichte oder die Natur des Menschen studiert, muss es klar sein, dass die Demokratie, wenn auch keine völlige Lösung, so doch den wesentlichen Teil einer Lösung darstellt. Die ganze Lösung kann nicht gefunden werden, wenn wir uns auf politische Bedingungen beschränken; wir müssen die Wirtschaft, die Propaganda und die von Umständen und Erziehung beeinflusste Psychologie in Rechnung stellen. Unser Thema scheidet sich so in vier Abschnitte: 1. politische Bedingungen, 2. wirtschaftliche Bedingungen, 3. propagandistische Bedingungen, 4. psychologische und pädagogische Bedingungen. Wir wollen in dieser Reihenfolge vorgehen.
1. Die Verdienste der Demokratie sind negativer Natur: Sie sichert keine gute Regierung, sondern verhindert bestimmte Übel. Solange die Frauen keinen Anteil an politischen Dingen nahmen, bestimmten verheiratete Frauen nicht über ihr Eigentum und nicht einmal über das, was sie selber verdienten; eine Arbeiterin, die einen betrunkenen Mann hatte, konnte bei niemandem Hilfe finden, wenn er sie davon abhielt, ihren Lohn zur Erhaltung ihrer Kinder zu verwenden. Das oligarchische Parlament des achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts gebrauchte seine legislative Gewalt, um den Wohlstand der Reichen auf Kosten der Land- und Stadtarbeiter zu erhöhen. Nur die Demokratie hat das Gesetz daran gehindert, die Gewerkschaftsbewegung unmöglich zu machen. Ohne die Demokratie wären Westamerika, Australien und Neuseeland von einer halbservilen gelben Bevölkerung bewohnt, die von einer geringen weißen Aristokratie regiert werden würde. Die Übel der Sklaverei und der Leibeigenschaft sind bekannt, und wo immer eine Minderheit über ein sicheres politisches Machtmonopol verfügt, kann die Mehrheit früher oder später leicht in Sklaverei oder Leibeigenschaft absinken. Die Geschichte zeigt, wie man übrigens erwarten konnte, dass Minderheiten nicht mit der Vertretung der Interessen von Mehrheiten betraut werden dürfen.
Noch heute ist eine Tendenz so stark wie in früheren Zeiten, anzunehmen, eine Oligarchie sei bewunderungswürdig, wenn sie aus »guten« Männern bestünde. Die Regierung des römischen Reiches war »schlecht« bis auf Konstantin und wurde dann »gut«. Im Buch der Könige gibt es jene, die vor dem Auge des Herrn recht handeln, und jene, die Übel tun. In der englischen Geschichte, wie man sie den Kindern beibringt, gibt es »gute« Könige und »schlechte« Könige. Eine Oligarchie von Juden ist »schlecht«, aber eine von Nazis ist »gut«. Die Oligarchie der zaristischen Aristokraten war »schlecht«, aber die der Kommunistischen Partei ist »gut«.
Diese Haltung ist erwachsener Menschen unwürdig. Ein Kind ist »artig«, wenn es folgt, und »unartig«, wenn es nicht folgt. Wenn es erwachsen ist und ein politischer Führer wird, behält es die Ideen des Kinderzimmers zurück und definiert als die »Guten« jene, die Befehlen gehorchen, und als die »Bösen« solche, die ihnen Widerstand leisten. Infolgedessen besteht unsere eigene politische Partei aus »guten« Leuten und die gegnerische aus »schlechten«. Eine »gute« Regierung ist eine Regierung unserer Gruppe, eine »schlechte« ist eine Regierung der anderen Gruppe. Die Montagues sind »gut«, die Capulets »schlecht« oder umgekehrt.
Wird ein solcher Gesichtspunkt ernst genommen, so macht er das gesellschaftliche Leben unmöglich. Nur Gewalt kann entscheiden, welche Gruppe »gut« und welche »schlecht« ist, und die getroffene Entscheidung kann in jedem Augenblick durch einen Aufstand gefährdet werden. Keine Gruppe wird, wenn sie zur Macht kommt, sich um die Interessen der anderen kümmern, ausgenommen in-. sofern, als sie von der Furcht vor wachsender Empörung befallen ist. Wenn das gesellschaftliche Leben irgendwie besser als eine Tyrannei sein soll, erfordert es eine gewisse Unparteilichkeit. Da aber in vielen Dingen kollektives Handeln erforderlich ist, ist dann die einzige anwendbare Form der Unparteilichkeit die Herrschaft der Mehrheit.
Wenn aber die Demokratie auch notwendig ist, so ist sie doch keineswegs die einzige politische Bedingung für die Zähmung der Macht. Es ist in der Demokratie der Mehrheit möglich, eine brutale und völlig unnötige Tyrannei über eine Minderheit auszuüben. Zwischen 1885 und 1922 war die Regierung des Vereinigten Königreiches (mit Ausnahme des Ausschlusses von Frauen) demokratisch, tat aber nichts, um die Unterdrückung in Irland zu verhindern. Nicht allein eine nationale, sondern eine religiöse oder politische Minderheit kann verfolgt werden. Schutz für die Minderheiten, soweit er mit einer ordnungsgemäßen Regierung in Übereinstimmung zu bringen ist, stellt einen wesentlichen Teil der Zähmung der Macht dar.
Das verlangt eine Analyse der Angelegenheiten, in denen die Gemeinschaft als Ganzes zu handeln hat, sowie jener Dinge, für die eine Uniformität nicht nötig ist. Probleme, bei denen sich am deutlichsten eine Kollektiventscheidung aufdrängt, sind solche von wesentlich geographischem Charakter. Straßen, Eisenbahnen, Kanalisationsanlagen, Gasleitungen und so weiter müssen einen bestimmten Weg nehmen und keinen anderen. Hygienische Vorsichtsmaßnahmen, etwa gegen Pest oder Tollwut, haben geographischen Charakter: Es wäre nicht richtig, wenn Anhänger der Christian Science verkünden würden, sie würden keine Maßnahmen gegen Ansteckung ergreifen, denn sie könnten ja andere anstecken. Krieg ist eine geographische Erscheinung, sofern er nicht Bürgerkrieg ist, und selbst dann ist oft ein Gebiet von der einen, ein anderes von der anderen Gruppe beherrscht.
Wo es eine geographisch konzentrierte Minderheit gibt, wie etwa die Iren vor 1922, kann man viele Probleme durch Heimfall lösen. Wo aber die Minderheit über das ganze betreffende Gebiet verteilt ist, ist diese Methode in großem Maße unanwendbar. Wo eine christliche und eine mohammedanische Bevölkerung zusammenlebt, gibt es zwar verschiedene Heiratsgesetze, alle aber haben sich, außer in religiösen Fragen, einer Regierung zu fügen. Man hat allmählich herausgefunden, dass theologische Uniformität für einen Staat nicht notwendig ist und dass Protestanten und Katholiken friedlich unter einer Regierung zusammenleben können. Das war jedoch die ersten 130 Jahre nach der Reformation nicht der Fall.
Die Frage nach dem mit Ordnung zu vereinbarenden Grad von Freiheit kann auf abstrakte Weise nicht beantwortet werden. Das einzige, was man abstrakt sagen kann, ist, dass da, wo es keinen technischen Grund für eine Kollektiventscheidung gibt, es einen starken mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zusammenhängenden Grund für Eingriffe in die Freiheit geben sollte. Als die Katholiken Elisabeth vom Thron stoßen wollten, war es nicht überraschend, dass die Regierung sie mit Missbilligung betrachtete. So war auch in den Niederlanden, wo sich die Protestanten im Aufstand gegen Spanien befanden, zu erwarten, dass die Spanier sie verfolgen würden. Heutzutage haben theologische Fragen nicht dieselbe politische Bedeutung. Selbst politische Meinungsverschiedenheiten sind, wenn sie nicht zu tief gehen, kein Grund zur Verfolgung. Konservative, liberale und Labourleute können alle friedlich beieinander leben, weil sie die Verfassung nicht gewaltsam ändern wollen; Faschisten und Kommunisten jedoch sind schwieriger zu assimilieren. Wo die Demokratie in Kraft ist, können Versuche einer Minderheit, sich gewaltsam der Regierung zu bemächtigen, und Aufreizung zu derartigen Versuchen mit Recht verboten werden, weil eine die Gesetze achtende Mehrheit das Recht auf ein ruhiges Leben hat, wenn sie es sich sichern kann. Aber alle Propaganda, die nicht zum Verstoß gegen die Gesetze auffordert, sollte geduldet werden, und das Gesetz sollte so tolerant sein, wie es mit technischer Ergiebigkeit und der Aufrechterhaltung der Ordnung überhaupt nur vereinbar ist. Ich werde bei der Behandlung des psychologischen Aspekts auf diesen Gegenstand zurückkommen.
Vom Gesichtspunkt der Zähmung der Macht aus erheben sich sehr schwierige Fragen in Bezug auf den günstigsten Umfang einer Regierungseinheit. In einem großen modernen Staat hat der Durchschnittsbürger, selbst in einer Demokratie, ein sehr geringes Gefühl politischer Macht. Er entscheidet nicht, um was es bei einer Wahl geht, das alles betrifft wahrscheinlich Dinge, die von seinem täglichen Leben weit entfernt und außerhalb seiner Erfahrungen liegen, und seine Stimme trägt so wenig zum Gesamtergebnis bei, dass sie ihm unbedeutend erscheinen könnte. Im alten Stadtstaat waren solche Nachteile viel geringer; geringer sind sie auch heutzutage in lokalen Regierungen. Man hätte erwarten können, dass sich das Publikum interessierter an lokalen als an nationalen Fragen zeigen würde, aber das ist nicht der Fall; im Gegenteil, je größer das betreffende Gebiet ist, desto größer ist der Prozentsatz der Wähler, die sich die Mühe machen, zu stimmen. Dies kommt teilweise daher, dass in wichtigen Wahlen mehr Geld für Propaganda ausgegeben wird, teilweise daher, dass die Frage, um die es geht, die Leute mehr erregt. Die aufregendsten Fragen betreffen Krieg und die Beziehungen zu möglichen Feinden. Ich erinnere mich an einen alten Dummkopf, der mir im Januar 1910 sagte, er würde für die Konservativen stimmen (was gegen seine wirtschaftlichen Interessen war), weil man ihn davon überzeugt hatte, dass die Deutschen innerhalb einer Woche im Lande sein würden, wenn die Liberalen siegen sollten. Man kann nicht annehmen, dass er jemals bei Gemeindewahlen stimmte, obwohl er hier vielleicht die zur Diskussion stehenden Fragen verstanden hätte; diese Fragen konnten ihn nicht bewegen, weil sie nicht geeignet waren, Massenhysterie oder die Mythen, von denen sie sich nährt, zu erzeugen.
Es zeigt sich also folgendes Dilemma: Demokratie gibt einem Menschen das Gefühl, wirklich an der politischen Macht teilzuhaben, wenn die betreffende Gruppe klein, aber nicht, wenn sie groß ist; andererseits interessieren ihn die schwebenden Fragen, wenn die betreffende Gruppe groß, aber nicht, wenn sie klein ist.
Diese Schwierigkeit wird zum Teil vermieden, wenn die Wählerschaft stimmenmäßig, aber nicht geographisch bestimmt ist; eine wirklich wirksame Demokratie ist zum Beispiel in einer Gewerkschaft möglich. Jede Gruppe kann zusammentreten, um eine schwierige politische Frage zu klären; die Mitglieder ähneln einander nach Interesse und Erfahrung, und das ermöglicht eine fruchtbare Diskussion. Bei einer endgültigen Entschließung der ganzen Gewerkschaft kann also ein hoher Prozentsatz der Mitglieder die Empfindung haben, dass sie an ihr teilgehabt haben.
Diese Methode unterliegt jedoch deutlichen Beschränkungen. Viele Fragen sind so wesentlich geographisch bedingt, dass eine geographische Wählerschaft unvermeidlich ist. Öffentliche Körperschaften berühren unser Leben in so vielen Fragen, dass ein beschäftigter Mensch, der kein Politiker ist, in den meisten ihn betreffenden lokalen und nationalen Angelegenheiten nicht zum Handeln kommt. Die beste Lösung würde vielleicht eine Erweiterung der Methode des Gewerkschaftsangestellten sein, der gewählt wird, um ein bestimmtes Interesse zu vertreten. Gegenwärtig haben viele Interessen keine solchen Vertreter. Wenn die Demokratie im selben Maße psychologisch wie politisch existieren soll, so ist eine Organisation der verschiedenen Interessen erforderlich sowie ihre Vertretung auf dem Wege des politischen Verhandelns durch Männer, die sich eines durch die Zahl und die Begeisterung ihrer Wähler gerechtfertigten Einflusses erfreuen. Ich meine damit nicht, dass diese Vertreter das Parlament ersetzen sollten, aber dass dem Parlament durch sie wie durch einen Kanal die Wünsche der verschiedenen Gruppen von Bürgern zugeleitet werden sollten.
Ein föderalistisches System ist wünschenswert, wann immer die lokalen Interessen und Gefühle der Wählereinheiten stärker als die mit der Föderation verbundenen Interessen und Gefühle sind. Wenn es jemals eine internationale Regierung geben sollte, so müsste sie offenbar ein Bund nationaler Regierungen mit genau definierter Zuständigkeit sein. Es gibt bereits für bestimmte Zwecke internationale Behörden, zum Beispiel für die Post, aber diese Zwecke interessieren das Publikum nicht so sehr wie die Zwecke, um die sich nationale Regierungen kümmern. Wo diese Bedingung fehlt, wird die Bundesregierung versuchen, auf Kosten der Regierung der verschiedenen Einheiten an Kraft zu gewinnen. In den Vereinigten Staaten hat die Bundesregierung ständig auf Kosten der Staaten an Raum gewonnen, seitdem die Verfassung niedergelegt wurde. Die gleiche Tendenz zeigte sich in Deutschland von 1871 bis 1918. Selbst eine Weltbundesregierung würde, wenn sie, wie es geschehen könnte, in einen Bürgerkrieg um die Frage der Abspaltung verwickelt würde, im Falle des Sieges gegenüber den einzelnen nationalen Regierungen gewaltig an Stärke gewonnen haben. So sind der Wirksamkeit des Föderalismus als Methode sehr deutliche Grenzen gesetzt; innerhalb dieser Grenzen aber ist er wünschenswert und bedeutungsvoll.
Sehr weite Regierungsbezirke sind anscheinend in der modernen Welt ganz unvermeidlich; in der Tat ist für die meisten wichtigen Zwecke, besonders Frieden und Krieg, die ganze Welt das einzige entsprechende Gebiet. Die psychologischen Nachteile großer Gebiete – besonders das Gefühl der Ohnmacht beim Durchschnittswähler und seine Unkenntnis der meisten Fragen – müssen zugegeben und so weit wie möglich herabgemindert werden, teils, wie oben vorgeschlagen wurde, durch die Organisation der verschiedenen Interessen, teils durch Föderalismus oder Heimfall. Eine gewisse Unterordnung des Individuums ist eine unvermeidliche Konsequenz der vermehrten gesellschaftlichen Organisation. Wenn aber die Gefahr des Krieges gebannt wäre, würden lokale Fragen wieder mehr in den Vordergrund treten, und das politische Interesse der Leute würde sich wieder vielmehr Fragen zuwenden, in denen sie wirklich Rat und Stimme hätten. Denn es ist mehr als alles andere die Furcht vor dem Kriege, die die Menschen zwingt, ihre Aufmerksamkeit fremden Ländern und der Außenpolitik ihrer eigenen Regierung zuzuwenden.
Wo die Demokratie besteht, ist immer noch die Notwendigkeit eines Schutzes von einzelnen und Minderheiten vor der Tyrannei vorhanden, sowohl weil die Tyrannei an sich nicht wünschenswert ist, als auch weil sie zum Zusammenbruch der Ordnung führen kann. Montesquieus Eintreten für die Trennung von Legislative, Exekutive und Justizapparat, der traditionelle englische Glaube an Gegen- und Gleichgewicht, Benthams politische Doktrin und der ganze Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts – all dies diente dazu, die willkürliche Ausübung von Macht zu verhindern. Aber solche Methoden wurden allmählich als mit Leistungsfähigkeit unvereinbar angesehen. Wenn in früheren Zeiten Legislative und Exekutive nicht der gleichen Ansicht waren, führte das zu einer höchst unangenehmen Lähmung; heutzutage wird in England die Leistungsfähigkeit gesichert, indem für alle Zwecke und Absichten beide Gewalten im Kabinett vereinigt werden. Die Methoden des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts zur Verhütung willkürlichen Machtgebrauchs passen nicht mehr zu unseren Umständen, und die bisher bestehenden neuen Methoden sind nicht sehr wirkungsvoll. Man braucht Vereinigungen, um die oder jene Form der Freiheit zu schützen und um prompte Kritik gegen Beamte, Polizisten, Stadträte und Richter vorzubringen, die ihre Befugnisse überschreiten. Man braucht auch ein gewisses politisches Gleichgewicht in jedem wichtigen Zweig der öffentlichen Verwaltung. Es liegt zum Beispiel für die Demokratie eine Gefahr in der Tatsache, dass die Durchschnittsansichten bei der Polizei viel reaktionärer sind als im Lande.
In jeder Demokratie können Einzelpersonen und Organisationen, die nur bestimmte Exekutivfunktionen erfüllen sollen, leicht eine durchaus nicht wünschenswerte unabhängige Macht erlangen, wenn man sie nicht überwacht. Das trifft besonders auf die Polizei zu. Die Nachteile einer ungenügend überwachten Polizei werden in Beziehung auf die Vereinigten Staaten sehr nachdrücklich in dem Buch »Our Lawless Police« von Ernest Jerome Hopkins aufgezeigt. Das Wesen der Sache beruht darin, dass ein Polizist für die Überführung eines Verbrechers befördert wird, dass die Gerichte ein Geständnis als Schuldbekenntnis annehmen und dass es daher im Interesse der einzelnen Offiziere liegt, verhaftete Personen so lange zu foltern, bis sie geständig sind. Dieses Übel besteht in größerem oder geringerem Maße in allen Ländern. Der Wunsch nach dem Geständnis war die Grundlage für die Foltern der Inquisition. Im alten China war das Foltern verdächtiger Personen an der Tagesordnung, weil ein humanitärer Kaiser angeordnet hatte, dass kein Mensch ohne geständig zu sein verurteilt werden dürfe. Für die Zähmung der Macht der Polizei ist es wesentlich, dass unter keinen Umständen ein Geständnis als Schuldbeweis betrachtet werden darf.
Wenn diese Reform auch notwendig ist, so reicht sie doch bei weitem nicht aus. Das Polizeisystem aller Länder ist auf der Annahme aufgebaut, dass das Sammeln von Beweisen gegen einen verdächtigen Verbrecher von öffentlichem Interesse sei, das Sammeln von Beweisen zu seinen Gunsten hingegen nur ihn selber angehe. Man sagt oft, dass es wichtiger sei, den Unschuldigen freizusprechen als den Schuldigen zu verurteilen, aber überall obliegt es der Polizei, den Beweis für die Schuld, nicht für die Unschuld zu finden. Man nehme an, jemand sei ungerechterweise des Mordes angeklagt und der erste Augenschein sei gegen ihn. Alle Möglichkeiten des Staates werden ausgenützt, um mögliche Zeugen gegen den Mann zu suchen, und der Staat verwendet die fähigsten Anwälte, um in den Köpfen der Geschworenen Vorurteile gegen ihn zu bilden. Der Mann muss inzwischen sein Privatvermögen ausgeben, um Beweise für seine Unschuld zu sammeln, und keine öffentliche Organisation steht ihm dabei zur Seite. Wenn er zu arm ist, wird man ihm einen Anwalt geben, der aber wahrscheinlich weniger fähig ist als der öffentliche Ankläger. Wenn es ihm gelingt, freigesprochen zu werden, kann er nur mit Hilfe des Kinos und der Sonntagsblätter dem Bankrott entkommen. Aber es ist nur zu wahrscheinlich, dass er unschuldig verurteilt werden wird.
Wenn gesetzliebende Bürger vor ungerechter Verfolgung durch die Polizei geschützt werden sollen, so muss es zwei Polizeikörper und zwei Scotland Yards geben, von denen der eine, wie es heute der Fall ist, die Schuld, der andere die Unschuld nachweisen muss; und neben dem öffentlichen Ankläger muss es den öffentlichen Verteidiger geben, die von gleicher legaler Bedeutung sein müssen. Das wird sofort klar, wenn man einsieht, dass der Freispruch des Unschuldigen ebenso das öffentliche Interesse berührt wie die Verurteilung des Schuldigen. Die verteidigende Polizeimacht sollte dazu die anklagende Polizeimacht bei einer bestimmten Klasse von Verbrechen werden, nämlich bei Verbrechen, die die anklagende Polizeimacht in Ausführung ihrer »Pflicht« begeht. Durch dieses Mittel allein und durch kein anderes – so weit ich sehen kann – würde die gegenwärtige polizeiliche Unterdrückung gemildert werden.
2. Ich komme nun zu den wirtschaftlichen Bedingungen, die erforderlich sind, um die willkürliche Gewalt zu vermindern. Dieses Thema hat eine große Bedeutung, einmal an sich, zweitens, weil seine Behandlung sehr viel Verwirrung zutage gebracht hat.
Während die politische Demokratie einen Teil unseres Problems löst, löst sie doch keineswegs das ganze. Marx legte dar, dass es keinen wirklichen Machtausgleich auf politischem Wege allein geben könne, während die wirtschaftliche Macht einen monarchischen oder oligarchischen Charakter wahren würde. Es folgte daraus, dass die wirtschaftliche Macht in den Händen des Staates und ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. ERSTES KAPITELDER TRIEB ZUR MACHT
  5. ZWEITES KAPITELFÜHRER UND GEFÜHRTE
  6. DRITTES KAPITELDIE FORMEN DER MACHT
  7. VIERTES KAPITELPRIESTERLICHE MACHT
  8. FÜNFTES KAPITELKÖNIGLICHE MACHT
  9. SECHSTES KAPITELNACKTE GEWALT
  10. SIEBENTES KAPITELREVOLUTIONÄRE MACHT
  11. ACHTES KAPITELWIRTSCHAFTLICHE MACHT
  12. NEUNTES KAPITELMACHT ÜBER DIE MEINUNG
  13. ZEHNTES KAPITELDER GLAUBE ALS URSPRUNG DER MACHT
  14. ELFTES KAPITELDIE BIOLOGIE DER ORGANISATIONEN
  15. ZWÖLFTES KAPITELREGIERUNGSMACHT UND IHRE FORMEN
  16. DREIZEHNTES KAPITELORGANISATIONEN UND DAS INDIVIDUUM
  17. VIERZEHNTES KAPITELWETTBEWERB
  18. FÜNFZEHNTES KAPITELMACHT UND MORALISCHE PRINZIPIEN
  19. SECHZEHNTES KAPITELMACHTPHILOSOPHIE
  20. SIEBZEHNTES KAPITELDIE ETHIK DER MACHT
  21. ACHTZEHNTES KAPITELDIE ZÄHMUNG DER MACHT
  22. ANMERKUNGEN
  23. ÜBER DEN AUTOR
  24. Inhalt