TEIL II ANGST UND LEICHTSINN
Sowjetunion, 20. Oktober 1941
Ich habe nur zwei Stunden geschlafen, als wir am frühen Morgen Grekowo-Balka verlassen. Bis zum Morgengrauen hat Wilhelm mir von Annemarie, den Kindern und den tragischen Umständen seines Kriegseinsatzes erzählt. Ich bin beeindruckt und erschrocken, auf jeden Fall ergriffen. Ich bin mir darüber hinaus nicht sicher, ob mir die Erzählung so zusetzt oder es die fette Gans von gestern Abend ist, die mir noch immer schwer im Magen liegt. Möglicherweise ist es auch der Wodka. Während des Vormarsches in Richtung des Flusses Mius muss ich mich zweimal übergeben. Ich erhalte Tabletten gegen Übelkeit und darf zwei Stunden im Sanka, ein für den Verwundetentransport umgerüsteter Opel Blitz mit Allradantrieb, mitfahren und noch etwas auf der Liege schlafen. Nach einem Stück Zwieback mit Butter und Wurst und einem Kaffee am Mittag fühle ich mich wieder einigermaßen und kann weitermarschieren.
Mittlerweile sind Wilhelm und ich nach der freiwilligen Versetzung von der Sanitätskompanie seit fast sechs Wochen Teil der Panzer-Aufklärungs-Abteilung 16. An die Aufgaben, die uns hier zugewiesen sind, haben wir uns schnell gewöhnt, doch allgemein hat uns der Krieg in all seiner Barbarei voll erwischt. Gerade erst hatten wir die neuen Kameraden kennengelernt, schon ist die Hälfte davon wieder gefallen oder hat sich bis zur Kampfunfähigkeit verletzt. Wir haben heftige Gefechte durchgestanden, und ein nächstes steht kurz bevor. Wir befolgen die Order, am Mius einen strategisch wichtigen Brückenkopf zu errichten, damit die Division mit ihren schweren Panzern nachrücken kann.
In der gesamten 16. Panzer-Division dienen durchschnittlich etwa elftausend Soldaten, die eingeteilt sind in ein Panzer- und ein Artillerieregiment, zwei motorisierte Schützenregimenter sowie je ein Panzerjäger-, Panzerpionier-, Aufklärungs- und Nachrichtenbataillon. Dazu kommen Versorgungs- und Sanitätstruppen. Unsere Aufklärungs-Abteilung unter dem Kommando von Major Henning von Witzleben umfasst etwa achthundert aktive Soldaten, die nebst Stab auf fünf Kompanien, eine Versorgungskompanie und auf die Kolonne verteilt sind. Ist das nicht eine erstaunliche Kapazität? Allein eine Kompanie verfügt über bis zu dreißig gepanzerte Fahrzeuge, wie etwa Schützenpanzer, Späh- oder Funkpanzerwagen. Außerdem zehn Lkw für den Personen-, Munitions- und Kriegsgerätetransport. Wilhelm und ich gehören mit im Schnitt hundertfünfzig Soldaten der vom tapferen Hauptmann Göricke geführten 2. Kompanie an, die wiederum unterteilt ist in Züge, Gruppen und Trupps. Allen Teilen sind spezifische Aufgaben zugewiesen. So haben wir motorisierte Melderstaffeln, Pak- und Flak-Züge, Panzerspähtrupps und jede Menge Gepäck- und Verpflegungstrosse. Pak steht als Abkürzung für Panzerabwehrkanone und Flak für Flugabwehrkanone.
Dem Truppenarzt einer Kompanie, also in unserem Fall Wilhelm, steht ein eigener Pkw zu, den meistens ich für ihn fahre. Wenn es schnell und über unwegsames Gelände geht, kutschiere ich meinen Arzt aber auch auf einem Sanitätskrad mit Beiwagen. Krad steht für Kraftrad, und davon haben wir dutzende.
Einer Panzer-Aufklärungs-Abteilung obliegt die Aufgabe, feindliche Panzer und Geschütze auszuspähen, was zur Folge hat, dass wir meist an der Spitze der Division kämpfen.
Die Fahrer der Spähwagen tragen schwarze Kleidung, wie alle Panzersoldaten. Im Gegensatz zu den Truppen der Panzerregimenter ist ihre Waffenfarbe allerdings nicht rosa, sondern goldgelb: die Farbe der Aufklärer. Das heißt, die Biesen und Nähte an verschiedenen Uniformteilen wie den Kragenspiegeln und Schulterklappen sind in dieser Farbe gehalten. Als nicht Panzer fahrender Teil der Truppe tragen wir die normalen feldgrauen Uniformen des Heeres. Auf unseren Schulterstücken sind ein gotisches A und die 16 eingestickt. Wilhelms Waffenfarbe als Arzt ist kornblumenblau, und ich trage ein Abzeichen mit der Aufschrift: Sanitätspersonal. Das identifiziert uns neben den Rotkreuzbinden am Ärmel und den Emblemen auf den Taschen als Sanitäter. Die meisten von uns haben sich auch mit Farbe rote Kreuze auf weißem Grund auf den Stahlhelm gemalt. In der Hoffnung, dass Rata-Piloten ein Einsehen haben, wenn sie diese von oben sehen. Meistens leider nur ein frommer Wunsch. In einem Zug, bestehend aus knapp vierzig Mann, marschiert jeweils ein ausgebildeter Sanitätssoldat. In der Kompanie sind wir also zu dritt. Meine Kollegen heißen gerade Werner und Kurt, vor zwei Wochen hießen sie noch Günter und Heinz.
In der nächsten Nacht schlafe ich besser, ich übernachte in unserem Sanitäts-Pkw – ein VW-Kübel. Als ich am frühen Morgen geweckt werde, überkommt mich schlagartig wieder die Übelkeit. Aber die ist nur der Angst geschuldet, die immer auftritt, wenn man weiß, dass Kämpfe direkt bevorstehen.
Bevor wir zum Fluss Mius gelangen können, müssen wir ein Dorf einnehmen, das noch vom Feind gehalten wird und auf das wir jetzt zumarschieren. Ich trage meinen Karabiner im Anschlag und laufe neben Wilhelm, der seine MP vor sich hält und nervös auf einem Zigarettenstummel kaut, über ein gemähtes Getreidefeld. Wir Sanitäter und Ärzte bilden die den kämpfenden Truppen dicht folgende Nachhut, aus einfachem Grund: Man braucht uns sofort, wenn jemand vorne verwundet wird. Ich schaue auf meine Armbanduhr. Sieben Uhr in der Frühe, die Sonne ist bereits aufgegangen. Doch der dunkle Nebel, der nah über unseren Köpfen vorbeizieht, erweist sich als so dicht, dass uns die feindlichen Ratas nicht erkennen können. Das unaufhörliche Knattern der Motoren jagt den Soldaten gehörigen Respekt ein. Sie suchen uns, das ist ganz klar. Aber ich vertraue dem Kompaniechef, dass er die Gefahr einzuschätzen weiß und richtig handelt.
Ein paar hundert Metern vor mir höre ich die ersten Schüsse. Nach ein paar Minuten schon marschieren entwaffnete Feinde mit über grünen Stahlhelmen erhobenen Händen an uns vorbei. Es sind fremdartige Gesichter in hässlichen braunen Uniformen. Eindeutig sind Asiaten darunter. Sie schauen finster und ängstlich, wirken erschöpft. Einige sind leicht verwundet, humpeln oder halten sich die Schulter. Ich bemerke einen Mann, der ungefähr in meinem Alter sein muss. Pechschwarze Haare unter einem braunen Schiffchen mit angestecktem rotem Sowjetstern, gelbliche Haut und Schlitzaugen. An seinem linken Arm hängt eine Rotkreuzbinde. Als er an mir vorbeiläuft, nickt er mir zu. Verunsichert und doch wie automatisiert erwidere ich den Gruß. Ich glaube, ein kurzes Lächeln auf seinen Lippen zu bemerken, aber dann entschwindet er schon wieder meinem Blickfeld. Armer Junge. Ob er auch davon träumt, Arzt zu werden? Vielleicht ein russischer Chirurg? Am liebsten wäre mir, wenn Stalin endlich aufgegeben würde. Dann hätte das Gemetzel ein Ende, und alle, die Medizin studieren wollten, könnten das unverzüglich tun.
Mir verbleibt keine Zeit, um über Frieden nachzudenken. Ich muss auf mich und die Vorderleute achtgeben und vergesse so schnell den jungen Russen. Wir marschieren weiter auf das Dorf zu, dessen Namen ich nicht kenne. Wir haben Glück. Wie für uns gemacht liegt eine felsige Schlucht direkt unter der Ortschaft, die uns Feuerschutz bietet. Ich sehe die zuckenden Feuerblitze der feindlichen MGs zwischen den Häusern aufblitzen und höre lautes Geknalle. Unsere Leute haben längst die eigenen MGs aufgebaut und bestreichen damit die Russen im Ort. Es knattert unaufhörlich. Lange wird der Feind nicht durchhalten. Ich hoffe, dass es für uns glimpflich ausgeht. Zu viele sind schon gefallen in den letzten Wochen. Man weiß nie, welche Gefahr wirklich an der Kampflinie lauert. Auch ein einfaches und auf den ersten Blick friedliches oder verlassenes Dorf kann sich als höllische Festung entpuppen.
Hinter einem Felsen kauernd, nehme ich mein Gewehr über die Schultern und will losschießen, als mich die Wucht einer Explosion umwirft. Direkt vor mir hat es eingeschlagen, vielleicht zwanzig Meter entfernt. Russische Artillerie. Und noch ein Einschlag. Ich höre, wie kleine Steine an meinen Helm schlagen, atme Schwefel und Dreck ein und muss husten. Der Staub vor meinen Augen ist so dicht, dass ich nichts erkennen kann. Doch jemand schreit vorne. Lautes Wehklagen und Stöhnen. »Sani, Sani! Hilfe!«
»Los!«, höre ich Wilhelm rufen, der ein paar Meter vor mir laufen muss. Ich renne geradeaus, stolpere und muss mich wieder aufrichten. Ich hetze weiter und sehe dann meinen Arzt, der sich über einen am Boden liegenden Kameraden beugt. Ich glaube, dass es Feldwebel Müller aus unserem Zug ist. Ja, er ist es. Ich erkenne es an seiner Schulterklappe. Er schaut mich mit leeren Augen an, während er sich an Wilhelms Oberarmen festklammert. Erst jetzt bemerke ich, dass Müller keine Beine mehr hat. Einfach weggeflogen. Es sieht grotesk aus. Als wäre er in der Mitte durchgeschnitten worden. Von den unteren Gliedmaßen ist nichts zu sehen, ein Haufen Gedärme quillt aus seinem Bauch und hängt in der sich rasant ausbreitenden, blubbernden Blutlache. Es dauert nur noch ein paar Sekunden, dann verlässt ihn die Kraft. Der Tod kommt schnell, auch dieses Mal.
»Verdammte Scheiße!«, ruft Wilhelm und dreht sich von dem Verstorbenen weg. Ich sehe, dass an dem Rumpf die halbe zerfetzte Koppel des Soldaten hängt. Der Klappspaten steckt noch darin. Ein surrealer Anblick, den ich kaum ertrage. Ich ziehe den Spaten ab und pflanze ihn neben Müller in den Boden. Mein Arzt bemerkt das, nimmt dem Soldaten den Stahlhelm vom Kopf und hängt ihn mittig über den Spatenstiel. »Möge er seinen Frieden finden«, sagt er. Eine jämmerliche Grabstätte, aber eine letzte Ehre, die wir ihm erweisen können. Mehr Zeit bleibt nicht. Die nachfolgenden Truppen werden ihn sehen und anständig begraben, sage ich mir, wissend, dass ich mir etwas vormache.
Wir müssen nach vorne, um den Anschluss an die Kompanie nicht zu verlieren. Wer weiß, ob es die anderen Sanis schon ins Dorf geschafft haben, das unsere Jungs inzwischen gestürmt, aber noch nicht eingenommen haben. Es wird immer noch heftig geschossen. Wir sind kurz vorm Dorfeingang, als wir erneut ein Gewimmer vernehmen. Vor uns in einem Loch sitzt breitbeinig ein Soldat und weint. Sein Karabiner, eine Mauser K98k – die Standardwaffe der Schützen – liegt zu seinen Füßen. Zwei Kameraden, die ich flüchtig kenne, reden hektisch auf den Mann ein.
»Wo ist er verletzt?«, fragt Wilhelm.
»Er ist unversehrt«, antwortet einer der Männer – ein Obergefreiter, das erkenne ich am Abzeichen auf seiner Schulter. Zwei graue ineinandergeschobene Winkel.
»Und was soll das dann hier werden?«
Ich merke, dass Wilhelm ungehalten wird. Er springt in das Loch, mustert den schreienden Mann, und als er erkennt, dass der nicht verwundet ist, verpasst er ihm eine leichte Ohrfeige. »Wie ist Ihr Name, Soldat?«
»Albert«, sagt der Junge und hält sich die Backe.
Wilhelm ohrfeigt ihn erneut. »In welcher Kompanie sind Sie?«
»Erste, Herr Doktor. Oberschütze Albert Hülsmann, 1. Zug, 2. Schützengruppe.« Er springt auf und streckt den Arm in die Höhe. »Heil Hitler, Herr Doktor!«
»Sind Sie bescheuert? Sie brauchen den Führer hier nicht zu ehren. Meinen Sie etwa, der kann Sie hören? Oder sehe ich etwa aus wie Adolf Hitler? Es reicht, wenn Sie mich grüßen!« Wilhelm schaut Albert bedrohlich an. »Na dann, Herr Oberschütze. Was fehlt Ihnen denn?«
»Wir werden doch alle draufgehen!« Albert jault wie ein Hund und wischt sich Tränen von den Wangen. »Ich will nicht sterben.«
Wilhelm schüttelt mit dem Kopf und wendet sich den beiden anderen Kameraden zu. »Obergefreiter, wo ist Ihr Zugführer?« Der lange, schlaksige Soldat mit dem blonden Bartflaum deutet auf das Dorf.
»Und der Gruppenführer?« Wilhelm schaut die drei Landser an. Der Gefreite zeigt ebenfalls ins Dorf.
»Meine Güte. Suchen Sie den Anschluss, Mensch! Sie sind Soldaten und keine Mündungsschoner! Wenn wir die Truppe verlieren, wird das hier richtig brenzlig im Feindgebiet. Da stirbt der Mann schneller, als wenn er jetzt nach vorne rennt.«
Er dreht sich zu mir um und sagt: »Wir können hier nichts ausrichten. Ich kann es mir auch nicht leisten, Beruhigungsmittel zu verschenken. Wir ziehen ab.« Er wendet sich noch einmal dem Loch zu. »Sehen Sie zu, dass Sie Hülsmann hier rausbekommen.« Der Obergefreite stößt Albert mit dem Knie in die Wade. »Du hast den Dok gehört, nimm deinen Karabiner in die Hand. Es ist alles in Ordnung mit dir, wir müssen voran.«
»Nein!« Albert schreit: »Ich will nach Hause! Ich will zu meiner Mutti, ich will doch nur heim.«
Ich will mir den Scheiß nicht länger anhören und laufe hinter Wilhelm her auf das Dorf zu. Zwischendurch gehen wir immer wieder in Deckung und beobachten die Gefechtslage. Das Maschinengewehrfeuer hören wir von weiter Ferne. Wenn sich hier jetzt noch ein paar Russen verschanzt haben, sind wir am Arsch. Wir sind alleine. Im Eiltempo rennen wir die Hauptstraße entlang. Das Dorf ist nicht groß und scheint unverteidigt. In einer offenen Scheune bemerke ich zwei dampfende Pferde und eine russische Pak. Wir springen über ein paar tote Russen und schaffen es bis zum Ortsausgang, wo sich unsere Truppe gesammelt hat. Zum Glück erkenne ich auf den ersten Blick keine Verwundeten. Die aufgestellten deutschen MGs feuern in die Pampa. Allesamt schwere MG 34 auf dreibeinigen Lafetten. Achthundert Schuss pro Minute. Ein Schütze schießt, ein anderer hält den Patronengurt, der dritte lädt nach.
Ich beobachte das Geballere eine Weile, bis der ...