Kapitel 1
WILLKOMMEN IN HEIDILAND!
«So überragend ist die Schweiz gar nicht: Was würde ihr bleiben, wenn man ihr die Berge wegnähme?»
ANONYMUS
Es gibt zwei Möglichkeiten, einen Frosch zu kochen. Bei der ersten sollten Sie zunächst sicherstellen, dass sich kein Aktivist aus dem Umfeld von Brigitte Bardot oder PETA in der Nähe befindet, und dann werfen Sie die Amphibie direkt in einen Topf mit kochendem Wasser. Wenn Sie diese Option wählen, wird der Frosch alles versuchen, um aus dem Topf wieder herauszukommen.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, den Frosch in denselben Topf zu legen, allerdings mit lauwarmem Wasser. Nun erhöhen Sie die Temperatur schrittweise. Anfangs fühlt sich der Frosch wohl, schläft langsam ein und lässt sich so schließlich kochen.
Diese von Peter M. Senge benutzte Parabel ist für manche Unternehmen und manche Wohlstandsstaaten symptomatisch, die sich vom Erfolg einschläfern oder regelrecht «benebeln» lassen. Die Reaktionen dieser Unternehmen erinnern zum Teil an die des Frosches im anfangs lauwarmen Wasser: Sie reagieren einfach nicht auf die stattfindenden Veränderungen. Einbußen im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit und Leadership sind vorprogrammiert, ein schleichendes Dahinsiechen könnte folgen, und das alles, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu werden. Lauern diese Fallstricke des Erfolgs nicht auch im Heidiland?
Die Schweiz ist ein bezauberndes kleines Land mitten in Europa, das von Selbstzweifeln gequält wird. Eine Insel des Wohlstands mit ihren wunderschönen Alpenlandschaften, atemberaubenden Seen, reizvollen Villen und Dörfern. Ein Ort, an dem alles bestens funktioniert. Ein Land, in der die Kriminalität zwar zunimmt, jedoch im Zaum gehalten wird. Kaum vorhandene Arbeitslosigkeit. Ein Schlupfwinkel für multinationale Konzerne, die von der Ruhe des sozialen Friedens angezogen werden, zudem Sozialabgaben, die viermal niedriger sind als zum Beispiel in Frankreich. Nicht zu vergessen die extrem attraktive Steuerpolitik – für jeden mit Verhandlungsgeschick – und eine Infrastruktur, die gegenwärtig noch zu den Top 5 gehört.
Die Schweiz zeigt dennoch erste Anzeichen von Müdigkeit durch den demografischen Stress, dem das «kleine Land der Mitte» im Lauf der Zeit ausgesetzt war.
Die Schweizer sind dafür bekannt, seriös, erfinderisch, streng, wohlerzogen und fleißig zu sein. Es müsste eigentlich ein kleines Paradies auf Erden sein, dessen Umfeld sich permanent weiterentwickelt und wo die Globalisierung für völlig neue Gegebenheiten sorgt. Nur leider wird die Zukunft nicht aus der Fortsetzung der Vergangenheit und unserer Gewohnheiten bestehen. Gerhard Schwarz und Urs Meister von der Denkfabrik Avenir Suisse nennen das «Aufruhr im Paradies».
Der Zusammenhalt dieses Landes erscheint einzigartig, wenn wir bedenken, dass drei entscheidend unterschiedliche Kulturen (und mit der rätoromanischen Kultur sogar vier) – die alemannische, französischsprachige und italienische Schweiz – hier relativ harmonisch zusammenleben. Gewiss gibt es Reibungen, aber die ausgefallene, dreistufige Struktur auf föderaler, kantonaler und kommunaler Ebene macht es möglich, einen Großteil der aus diesen kulturellen Unterschieden entstehenden Konflikte zu vermeiden.
Die Schweiz und ihre Einwohner haben eine regelrechte Abneigung gegen Konflikte. Die Suche nach Kompromissen ist ein tief verankerter Charakterzug der Schweizer Seele.
Das beste Beispiel hierfür ist das berühmte Einspruchsrecht für Studenten, die sich bei einem Wettbewerb oder einer Prüfung schlecht beurteilt oder benotet fühlen. Ein imposantes fachkundiges Gremium kann einberufen werden, um ihrer Forderung eventuell Folge zu leisten. Ein Aspekt, der vielen unsinnig erscheint.
Das Land ist wohlhabend und wird beneidet, aber alles wurde dafür konzipiert und ist darauf ausgerichtet, festzuhalten, zu verharren, zu reproduzieren – und damit wahrscheinlich eine Weiterentwicklung zu verhindern. Veränderungen erdulden, anstatt die Zukunft zu gestalten! Auch wenn wir zugeben müssen, dass das bisher sehr gut funktioniert hat.
Es breitet sich allerdings eine dumpfe Sorge in dieser verstörten, sich ungemein schnell ändernden Welt mit wachsenden Ungerechtigkeiten aus, in der die neue Normalität Flüchtigkeit heißt. Eine Welt, die obendrein mitten in einer europäischen Union am Rande des Nervenzusammenbruchs liegt, die von Jugendarbeitslosigkeit zermürbt wird und den Aufstieg nationalistischer Bewegungen kaum noch kontrollieren kann. Dieses zerrüttete Europa erscheint heute wie eine technokratische Struktur, die viel zu weit von den Realitäten ihrer Mitgliedsländer entfernt ist, ohne Vision und unfähig, die Herausforderungen dieser so komplex gewordenen Welt anzunehmen.
Was aber wird aus der Schweiz, wenn ihr hauptsächlicher Partner Europa auseinanderbricht? Was wird aus der Schweiz, wenn Frankreich, ihr drittgrößter Handelspartner, keinen Mut zu Reformen findet und von der Liste der Großmächte verschwindet?
Die Globalisierung, der unaufhaltsame wirtschaftliche und politische Aufstieg der aufstrebenden Märkte, der von den allgegenwärtigen Technologien stimuliert wird, machen neue innovative Ansätze dringend erforderlich, auf die viele Länder jedoch nicht richtig vorbereitet zu sein scheinen.
Willkommen in Heidiland!
Willkommen im Land des tipptopp Tadellosen und Großartigen, im Land der UBS, FIFA-Ethik, der Vortrefflichkeit und Überqualität, vom «Warum etwas ändern, wenn alles gut läuft» und «Wir sind die Besten»!
Ist die Schweiz in die Falle ihres eigenen Erfolgs getappt?
Kapitel 2
EINIGE TATSACHEN ÜBER DIE SCHWEIZ VON GESTERN. WAS ABER WIRD AUS DER SCHWEIZ VON HEUTE?
«Eine Hälfte der Schweiz ist die Hölle, die andere das Paradies.»
VOLTAIRE
Die Neutralität, die lange ein unbestrittener Vorteil war, hat die Schweiz zu einem ruhigen und friedlichen Zufluchtsort mitten in einem Europa gemacht, das über Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte hinweg von Rivalitäten und Kriegen zerrüttet wurde. Jedes Land zog einen Nutzen daraus, einen tröstlichen Hafen des Friedens vor der Haustür zu haben. Heute hat diese Neutralitätsidee stark an Relevanz eingebüßt: Einerseits durch die Weiterentwicklung der Welt, andererseits durch den Aufbau der Europäischen Union, die den Kontinent jetzt vor Konflikten wie den beiden vergangenen Weltkriegen oder dem Kalten Krieg schützt.
Bereits vor der schweren Bank- und Finanzkrise im Herbst 2008 stellten sich die Schweizer Journalisten Fragen über die Position des Landes auf dem Schachbrett der Welt und über die Rolle, die dieses attraktive Einwanderungsland mit 9,5 Millionen Einwohnern bis 2030 in Zukunft spielen könnte. Handeln oder erdulden?
Pläne, Budgets, Jahresvergleiche und Analysen geben vor, einen sich wiederholenden Entwicklungsprozess anzutreiben, der Ungewissheiten reduziere. Was macht man aber, wenn die Zukunft keine Wiederholung, keine Neuauflage der Vergangenheit mehr ist, um sich ihr mit all ihrer Komplexität und Ungewissheit zu stellen und die Vergangenheit nicht länger einfach nur zu reproduzieren?
HEIDIS ACHT GEHEIMNISSE, DIE DIE ANDEREN RASEND MACHEN
Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt und bleibt ein politischer Zwerg, was uns wahrscheinlich ganz gelegen kommt. Wir sind eine Ausnahme. Der Jahresbericht des IMD (International Institute for Management Development) stellt uns auf den ersten Rang in Sachen Wettbewerbsfähigkeit, so auch das Weltwirtschaftsforum (WEF – World Economic Forum) mit einer Note von 5,7/7. Im Bereich Innovation behält die Schweiz ihren ersten Platz im Global Innovation Index 2013 und 2014, der jährlich von der Cornell University, der Business-School Insead und der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO – World Intellectual Property Organization) veröffentlicht wird. Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, räumt die Schweiz den ersten Platz im Country Brand Index (CBI) 2012/2013 ab, der von Futurebrand herausgegeben wird, und wird zudem als «Modellnation für eine moderne Ära» angesehen.
Im Nation Brands Index (NBI) von Präsenz Schweiz – dem Organ für die «Wahrnehmung der Schweiz im Ausland»– ist die Ehre gerettet, da wir 2012 und 2013 den 2011 verlorenen achten Platz zurückerobert haben.
Was haben wir also, was die anderen nicht haben? Welche Geheimnisse verbergen sich hinter dem Erfolg, der dieses Land mit acht Millionen Einwohnern zu einem so beliebten Sündenbock macht?
Wir verzichten auf die sieben Zwerge von Schneewittchen, die vielfach in den Schweizer Durchschnittsgärten hübsch aufgestellt vorzufinden sind, und schließen uns lieber Gerd Habermann bei seiner Aufzählung der sieben Geheimnisse an, die uns den Neid der anderen bescheren.
1) Glück ist eine Tugend: Eine ideale geografische Lage durch die Position als Knotenpunkt aller Transporte aus ganz Europa. Behüteter Wohlstand mit der Wahl der Neutralität, die von dem Wohlwollen der Großmächte in guten Zeiten wie in Kriegszeiten ermuntert wurde.
2) Die Ehrung der Geheimhaltung: Egal, ob es sich um das Bankgeheimnis, Pastoralgeheimnis oder die Schweigepflicht von Ärzten oder Anwälten handelt, die Schweiz stellt die Geheimhaltung und die Wahrung der Privatsphäre über alles. Eine Tradition der Geheimhaltung, die sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt hat. Dank einer Bourgeoisie, die sich im Laufe der Jahre bereichern konnte und von den menschlichen und wirtschaftlichen Dramen, die ihre Nachbarländer erlitten haben, verschont geblieben ist.
3) Der Staat, das sind wir: «Die Schweiz ist in der Tat mehr eine ‹Genossenschaft› als eine ‹Herrschaft›», so der deutsche Wirtschaftsphilosoph Gerd Habermann. In der Schweiz ist die bürgerliche Gleichstellung ein Wert an sich. Die Bürger haben ein Mitspracherecht und können die Politik direkt beeinflussen: von der Wahl eines Richters bis hin zu unterschiedlichsten Abstimmungen. Das demokratische Arsenal ist beeindruckend: Bürgerinitiativen, Volksentscheide usw.
4) Die Non-Zentralisierung: Kein allmächtiges Staatsoberhaupt, sondern ein per Rotation jährlich gewählter Bundespräsident. Macht und Steuerhoheit befinden sich in den Händen der Kantone und Gemeinden, die Eidgenossenschaft hat nur ein prekäres Besteuerungsrecht. Es besteht keine zerstörerische Vorherrschaft der Parteien, sondern ein Ganz-Schweizerisches Gleichgewicht innerhalb des Bundesrats. Eine Bürokratie, die sicher nicht zu den dynamischsten zählt, aber auch nicht völlig bewegungslos ist.
5) Subsidiarität: Hiermit ist die Bewegung zur Eigenverantwortung gemeint, die von der untersten Ebene ausgeht und nach oben vordringt. Es handelt sich um eine Kompromissbereitschaft in Reinform. Zugeständnisse machen, um besser kooperieren zu können.
6) Kleine Fläche – strategisch wichtiger Knotenpunkt: Die geringe Größe der Schweiz (maximal ca. 350 km von West nach Ost gegenüber höchstens ca. 220 km in der Nord-Süd-Ausdehnung) ist eine Glückssache. Vor allem in turbulenten Phasen ist es stets einfacher, die Zukunft von acht Millionen Menschen (entspricht etwa einem Stadtviertel von Tokio) als von immensen Bevölkerungsansammlungen zu steuern. Zudem sind kurze Distanzen dialogfördernd und erleichtern die Verwaltung politischer Einheiten. Die Schweiz hat von jeher dank der Kontrolle der Alpenpässe von ihrer Lage als Knotenpunkt profitiert.
7) Ein willkommener Zufluchtsort: Sei es aus migratorischen, ökonomischen, steuerlichen, politischen oder intellektuellen Gründen. Schon immer hat die Schweiz auch hier von ihrer durch die Neutralität geförderten Mittler-Rolle profitiert.
Sicher ist die Schweiz ein Einwanderungsland, aber nur für «ausgewählte Zuwanderung».
8) Eine Verwaltung im Dienste des Volkes: Weitgehend auch Milizsystem genannt: Diese Verwaltung dient vor allem dem politischen Willen der Bürger und keinen privaten Interessengemeinschaften.
François Garçon erwähnt in seinem Buch Le modèle suisse, dass einer der Schlüsselfaktoren des Schweizer Erfolgs das System der direkten Demokratie sei. Der oft gerühmte Schweizer Föderalismus sei nichts anderes als ein dynamischer Prozess, der «nach einem Gleichgewicht zwischen zentripetalen und zentrifugalen Kräften sucht».
Das bedeutet herausragendes Know-how bei der Verteilung der Aufgaben. Also, unleugbare geopolitische Faktoren, die Stärke der Neutralität und die Tugend der Geheimhaltung. Zudem aber auch Föderalismus und Liberalismus, nationale Unabhängigkeit und auserwählte Immigration, nicht vorhandene Zentralisierung und eine Konsenskultur. Und außerdem: Garantien für Privateigentum und steuerliche Attraktivität. Deshalb werden wir beneidet. Nicht nur für unseren derzeitigen Erfolg, sondern vor allem, weil dieser Erfolg nicht nur das Ergebnis unseres politischen und wirtschaftlichen Systems ist. Das Glück hat sein Scherflein dazu beigetragen, und wir profitieren von dieser Grundrente, ähnlich wie in Frankreich, «dem Rentenland», wie Jacques Attali zu sagen pflegt. Können wir, um morgen fortzubestehen, dieselben siegreichen Schemata nach Lust und Laune wiederholen?
Wie sieht die Kehrseite der Medaille dieser allgemeinen Zufriedenheit, dieser den Schweizern ach so lieben Konsensbereitschaft aus? Macht diese Konsensbereitschaft nicht jede unternehmerische Regung, jeden Elan einer (alles in allem) gut ausgebildeten Jugend zunichte?
Das sind einige Tatsachen über die Schweiz von gestern. Aber was wird aus der Schweiz von heute? Sorgt sich überhaupt noch jemand um seine Zukunft? Sollte gar die Schweizer Jugend eine neue Vision in sich tragen, an der es heute so schmerzhaft fehlt? Wird sie den Mut besitzen, sich zu engagieren und den Status quo infrage zu stellen?
ZÜGELN WIR UNSEREN STOLZ!
«Die Schweizerinnen und Schweizer sind so stolz auf ihr Land (86 %) wie noch nie. Das geht so weit, dass sie sich stärker mit der Nation als mit der eigenen Wohngemeinde identifizieren», stellt das «Sorgenbarometer 2012» der Crédit Suisse fest. Dennoch bleiben die Angst vor Arbeitslosigkeit und vor Ausländern sowie die Reform der AHV (Alters- und Hinterlassenenversicherung) die Hauptsorgen der Schweizer. Was die Wirtschaftslage betrifft, blicken die Befragten zuversichtlich in die Zukunft, solange ihre Renten sicher sind. Die Mehrheit beurteilt die Situation mittelfristig als stabil, ein Fünftel ist davon überzeugt, dass sie sich verbessern wird. Nichts ist jedoch sicher. Das Schweizer Volk muss sich auf mehr Mäßigkeit und Solidarität mit der Welt gefasst machen und somit darauf, dass der Verlust einiger ihrer Privilegien unumgänglich ist. Was jedoch neu ist, ist, dass die Schweizer sich heute mit weitaus mehr Sorgen herumschlagen als zuvor. Das dürfen die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verantwortlichen nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Aber sind sie darauf vorbereitet?
Ein von Crédit Suisse 2013 veröffentlichter Artikel versetzt unserem Stolz einen Dämpfer:
1. Ein Land, das für Erpressung anfällig ist?
Die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Freunde scheinen die Schweizer nicht nur vergessen, sondern zudem ihre Gewohnheiten dramatisch geändert zu haben. Sie verlangen die Abschaffung des Bankgeheimnisses und hoffen, so einen Großteil des Geldes zurückzubekommen, von dem sie glauben, dass es in Schweizer Banken Zuflucht gefunden hat.
Welche Gründe gibt es dafür? Durch das Ende des Kalten Krieges haben einige spezielle Vorkehrungen an Bedeutung verloren, die insbesondere auf dem Schweizer Finanzplatz vereinbart wurden. Gleichzeitig hat die weltweite Finanz- und Budgetkrise eine gewisse Gier hervorgerufen.
Handelt es sich hierbei um eine grundlegende, sowohl wirtschaftliche als auch politische Bedrohung für die Schweiz? Ganz und gar nicht. Denn die Nachbarländer ziehen keinen wirklichen Nutzen daraus, einer dauerhaft geschwächten Schweizer Wirtschaft beizuwohnen. Selbstverständlich muss sich die Schweiz anpassen, aber selbst in dieser neuen globalen Umgebung besteht ein gewisser Verhandlungsspielraum. Hoffen wir, dass sich die Entscheidungsträger ihrer Macht bewusst sind.
2. Der Weltwirtschaft ausgeliefert?
Wenn man den Wohlstand an natürlichen Ressourcen misst, ist die Schweiz arm wie...