Die Psychologie des IS
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Die Psychologie des IS

Die Logik der Massenmörder

  1. 424 Seiten
  2. German
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Die Psychologie des IS

Die Logik der Massenmörder

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Über dieses Buch

"Auf Pfähle aufgespießte Schädel, gekreuzigte Menschen am Straßenrand, in Säurebottiche geworfene Männer, als Sexsklavinnen gehaltene Frauen … Es ist schwer zu glauben, dass Menschen im 21. Jahrhundert noch zu solchen Gräueltaten in der Lage sind. Die selbst ernannten Gotteskrieger, die innerhalb der letzten fünf Jahre weite Teile Syriens und des Iraks unter ihre Kontrolle gebracht haben, scheuen nicht vor Genozid, Versklavung, Vergewaltigung und Zwangskonvertierung zurück, um ihr Verständnis von einem islamischen Staat durchzusetzen. Was geht in den Köpfen von IS-Kämpfern vor? Welche Ideologie lässt sie jede menschliche Regung, jegliche Empathie unterdrücken? Prof. Jan Ilhan Kizilhan und Alexandra Cavelius geben anhand spektakulärer Fallbeispiele und Einzelschicksale einen tiefen Einblick in die Psychologie der Islamisten, die seit dem Anschlag auf das Pariser Satiremagazin Charlie Hebdo ihren Terror bis nach Europa tragen. Warum schließen sich Menschen dieser Terrororganisation an? Wie ist es möglich, dass nach einem 20. Jahrhundert der Weltkriege, Genozide, Konzentrationslager und Gulags solche totalitären faschistisch-islamisiertenGruppen wie der IS eine Renaissance erleben und weiterhin Völkermord verüben können? Welche Faszination übt das Leben als Dschihadist auf junge Leute in der arabischen, aber auch in der westlichen Welt aus? Auf der Basis von Interviews mit Überlebenden, aber auch mit den Tätern selbst legen die Autoren die Psychologie der Massenmörder offen und zeigen uns anhand eindrucksvoller Beispiele deren Denkweisen und Lebenswelten, die uns fremd, mitunter primitiv und sadistisch erscheinen. Zu Wort kommen unter anderem ein 14-jähriges Mädchen, das als Sexsklavin in den Händen des Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi war, ein ehemaliger IS-Henker und ein schwer verletzt Überlebender einer Massenexekution, der in der Folge mehreren Jungen das Leben rettete.

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Information

Jahr
2016
ISBN
9783958901155

FREMDHEITSGEFÜHLE: TRÄUME EINER DSCHIHADISTIN VON EINER BESSEREN WELT

Am liebsten würde ich wie am Computer auf »Neustart« drücken. Das System herunterfahren, den Speicher löschen und noch mal komplett von vorn beginnen. Und alles, was ich als »Dschihad-Braut« in Syrien erlebt habe, rückgängig machen. Ich will das endlich hinter mir lassen. Nur fällt es mir sehr schwer, zu vergessen.
Seit meiner Rückkehr nach Frankreich im Herbst 2015 lebt meine Familie in Angst um mich, dass mich die IS-Leute im Internet oder auf der Straße ausfindig machen und mir den Kopf erneut verdrehen könnten. »Vielleicht wollen sie sich auch an dir rächen, weil du vor ihnen geflohen bist«, bangt meine Mutter. Leider sind die Sorgen nicht unberechtigt, denn der IS sieht solche Frauen wie mich als »Abtrünnige« an. Und mit Abtrünnigen machen sie meist kurzen Prozess.
Um meine Eltern und Geschwister vor Nachstellungen zu schützen, möchte ich nur so viel verraten, dass wir arabischer Herkunft sind. Ich selbst aber bin in Frankreich geboren und aufgewachsen. Vater und Mutter leben nicht wie strenggläubige Muslime, doch Tradition und Religion sind wichtig für sie. Ich bin die Drittgeborene von vier Geschwistern, habe hier den Kindergarten und die 10. Klasse besucht. Dann habe ich die Schule abgebrochen, obwohl ich keine schlechten Noten hatte, denn ich wollte nach Syrien. Die Lust am Lernen war mir vergangen, weil mir das, was unterrichtet wurde, uninteressant und lebensfremd vorgekommen ist.
Mittlerweile bin ich 18 Jahre alt. Vor zwei Jahren hatte ich angefangen, mich intensiver mit meiner Religion und Herkunft zu beschäftigen. Bis zu meinem 14. Lebensjahr hatte ich mit allen möglichen Mädchen gute Freundschaften, darunter Französinnen, Marokkanerinnen, Tunesierinnen und andere Nationalitäten. Irgendwie aber spürte ich die ganze Zeit, dass ich anders war. Wie eine Fremde. So ein Gefühl, wie nicht dazuzugehören und doch da zu sein.
In meiner Schule gab es sehr viele Muslime, mit denen ich mich daraufhin immer stärker zusammengeschlossen habe. Vor allem in den Pausen haben wir uns sowohl auf Französisch als auch ein wenig auf Arabisch unterhalten. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich verstehen und das Gleiche empfinden wie ich.
Zu Hause lief das Leben eigentlich ziemlich entspannt ab. Mein Vater hat mich auch nie geschlagen, er ist in die Moschee gegangen, was aber nicht bedeutet, dass er wirklich sehr religiös war. Nach außen hin merkte man ihm seinen Glauben überhaupt nicht an. Er ist ganz normal angezogen, wie jeder Franzose oder Europäer, auch meine Mutter trägt lediglich ein Kopftuch.
Wie viele Jugendliche habe ich die meiste Zeit im Internet verbracht und mich mit Freundinnen in Cafeterias getroffen. Mit Jungs hatte ich nicht wirklich zu tun. In diesem Punkt waren meine Eltern sehr klar. Erst sobald ich heiratete, dürfte ich Sex mit jemandem haben. Damit hatte ich absolut kein Problem.
Ab meinem 14. Lebensjahr spürte ich auf jeden Fall diesen inneren Drang, mehr über mich und meine Kultur zu erfahren. Meine Geschwister waren zwar gläubige Menschen, aber für sie war es nicht wichtig, sich über ihren kulturellen Hintergrund zu informieren. Sie waren voll in der Gesellschaft integriert. Zwei hatten bereits geheiratet und eigene Familien.
Zunehmend suchte ich im Internet nach bestimmten Foren, die solche Themen über Identität und Glauben diskutierten, und fand relativ schnell viele Leute, die wie ich auf der gleichen Suche nach etwas waren, aber nicht genau wussten, was es ist. Mir gingen so viele Fragen durch den Kopf: »Wer bin ich? Woher komme ich? Warum fühle ich mich hier in Frankreich nicht zu Hause? Und warum habe ich das Gefühl, nicht richtig von meinen Eltern und meinen Geschwistern verstanden zu werden?«
Meine Eltern waren zwar bemüht um mich und liebten mich, aber zwischen uns hatte nie ein richtiges Gespräch stattgefunden. Sie fragten nie nach oder wollten erfahren, wie es mir wirklich ginge oder was ich wirklich dächte. Ihnen war vor allem wichtig, dass ich gesund war und zur Schule ging. Sie schmiedeten auch bereits Pläne für meine Zukunft. Entweder sollte ich noch Abitur machen oder gleich eine Ausbildung anfangen, danach heiraten und Kinder bekommen.
Was? Das sollte alles sein im Leben? Mir war das zu wenig. Ich spürte einen starken inneren Widerstand dagegen und beschäftigte mich noch stärker mit dem Islam. Zu Hause habe ich angefangen, den Koran, der irgendwo bei uns im Regal steckte, zu lesen. Auf Anhieb hat mir daran vieles gefallen. Das waren klare Worte und klare Vorgaben, die genau das sagten, was »gut« und was »schlecht« war. Das gab mir Sicherheit. Die Regeln im eigenen Land fand ich heuchlerisch. Wenn du auf der Technoparty bist, schluck nicht so viel Pillen. Wenn du kein »Aids« willst, nimm Kondome. Als ob das die Probleme lösen würde? Und ich hatte das Gefühl, dass der Prophet auch ein schwieriges Mädchen wie mich verstanden hat. Mir schien es sogar, als ob seine Worte genau mich selbst beschreiben würden. Und wenn alle Menschen sich an diese Gesetze halten würden, dachte ich, müsste es klappen, dass wir auf der Welt alle miteinander gut leben könnten.
Nach etwa einem halben Jahr begann ich, verstärkt mit meinen Geschwistern und meinen Eltern über den Islam zu diskutieren. Zuerst waren sie etwas verwundert, mit der Zeit aber freuten sie sich, dass sie eine religiöse Tochter hatten, und haben mich in Gegenwart meiner Geschwister gelobt. »Schaut mal, wie eure Schwester sich für den Islam interessiert und wie viel sie weiß! Nehmt sie euch als Beispiel!« Meine Geschwister schauten immer etwas dumm aus der Wäsche, zum Teil auch verärgert, und schüttelten bloß die Köpfe.
Mir reichte das aber noch lange nicht aus. Ich wollte noch mehr erfahren. Mit meiner kleinen Gruppe habe ich mich bald auch nach dem Unterricht getroffen. »Die Scharia wird falsch verstanden«, ärgerten wir uns. Im Westen schwafelte man immer nur von abgehackten Händen und gesteinigten Frauen. Dabei diente das nur der Abschreckung. »Wer Allah liebt, benimmt sich auch richtig«, waren wir uns einig. Und ich hatte das Gefühl, dass ich endlich irgendwo dazugehöre.
Langsam habe ich angefangen, meine Kleidung umzustellen. Zuerst habe ich nur ein Kopftuch getragen, aber das war bereits schwierig, weil mich viele Mitschüler schräg angeblickt haben. Und noch komischer haben sie geschaut, als ich mich später komplett mit Niqab, Gesichtsschleier, und Tschador, dem langen Gewand, bedeckt habe. Einige machten auch blöde Bemerkungen, die mich aber nicht wirklich interessierten, weil ich ja meine Freunde hatte, die ebenfalls begonnen hatten, sich anders anzuziehen. Ich betrachtete das sogar als eine gewisse Herausforderung. Dass die anderen öffentlich über mich sprachen, hat mich zwar trotzdem ein bisschen geärgert, aber auf der anderen Seite auch gefreut. Auf einmal stand ich im Mittelpunkt, konnte ihnen auch den Kopf zurechtrücken, dass sie selbst falsch lebten und dass ich das Recht hatte, mich so zu kleiden und so zu denken, wie ich es wollte.
In den Gesprächen mit meiner Clique ging es nicht unbedingt darum, was im Koran stand, sondern viel mehr um die Fragen, warum wir nicht akzeptiert werden, nur weil wir anders waren. Und wir spürten immer intensiver das Gefühl, abgelehnt und nicht gemocht zu werden. Und das bestätigte wiederum, dass wir stärker zusammenhalten mussten.
Einige Mädchen besuchten mich auch zu Hause, und wir diskutierten die meiste Zeit im Netz mit verschiedenen Gruppen, die unsere Meinung teilten. In dieser verlogenen westlichen Welt ginge es nur um Gewinn und Konsum. Dabei war es doch viel wichtiger, was das Herz bewegte. Und irgendwann waren wir so sehr mit dem Chatten beschäftigt, dass wir gar nichts mehr um uns herum mitbekommen haben. Das fiel auch meinen Eltern auf, die mir zunächst das Internet verboten haben und mir dann sogar verbieten wollten, mich weiter nach islamischer Art zu kleiden. Ich wehrte mich und bin dabei geblieben, was zu neuen Streitereien geführt hat.
Auch meine Geschwister setzten mich unter Druck. Zum Glück aber hatte ich meine Gruppe an der Seite und war wirklich froh, wenn ich mit ihnen zusammen war. Ich hatte das Gefühl, dass dies meine wahre Familie sei und meine Eltern und Geschwister mich gar nicht verstehen wollten. Und manchmal habe ich sogar, um ehrlich zu sein, Hass gegenüber meiner Familie empfunden. Ich habe sie als falsche Muslime betrachtet, als Heuchler, die nur so tun, als ob sie Muslime wären. In Wirklichkeit aber hatten sie sich an das Leben in Europa und in Frankreich angepasst und waren viel schlimmer als die Franzosen. Denn die Franzosen konnte ich ja noch verstehen, es war immerhin ihr Land und ihre Kultur, aber wieso versuchten meine Eltern, so zu tun, als seien sie keine Muslime? Warum haben sie sich so verbogen und untergeordnet? Das habe ich nicht verstanden.
Relativ schnell haben sich in unserer Gruppe auch Dschihadisten, die in Syrien kämpften, im Internet zu Wort gemeldet.

Mit 17 Jahren das Leben finden, nach dem ich schon immer gesucht habe

Bald chatteten wir mit einigen dieser IS-Kämpfer. Das ist überhaupt nicht schwer, solche Kontakte herzustellen. Es gibt so viele Blogs mit Tipps, Facebook-Gruppen und sogar Online-Heiratsmärkte für zukünftige »Dschihad-Bräute«. Auf Videoaufnahmen zeigten uns die Männer, wie schön Syrien ist. Die Wüste, die Sonnenuntergänge, die klaren Bäche, die scherzenden Kämpfer …
Natürlich hatten wir auch die Aufnahmen gesehen, auf denen Kämpfer mit abgeschlagenen Köpfen ihrer Feinde posierten. »Wir sind im Krieg, und im Krieg gibt es auch Opfer«, kommentierten sie das. Sie erklärten, was der Dschihad bedeutete und warum es wichtig sei, für seinen Glauben zu kämpfen. Wir hatten auch die Bilder von toten Kindern nach dem Giftgasangriffs Baschar al-Assads gesehen. »Jemand muss in Syrien helfen«, machten die IS-Kämpfer deutlich. Für mich war es offensichtlich, dass sie auf der richtigen Seite standen.
Irgendwann glaubte ich an diese Idee, dass in Syrien mit der Gründung des IS die Zeit des Propheten Mohammed angebrochen sei. Die Zeit, in der Menschen ihre Religion frei ausüben können. In der es feste Regeln und eine Ordnung gibt. In der Menschen wie Brüder und Schwestern miteinander umgingen. Egal, ob Kasache, Tschetschene oder Araber. Und wenn wir uns an all diese Vorgaben des IS hielten, was ich unbedingt wollte, würde ich ins Paradies kommen. Wobei ich offen zugeben muss, dass es mir nicht ums Paradies ging. Ich wollte im Diesseits etwas finden, was zu mir passte. Damals war ich fest überzeugt, dass genau dies das Leben war, nach dem ich schon immer gesucht habe.
Zuerst hatte ich Probleme mit dem erzkonservativen Rollenverständnis im IS. Dass Frauen und Männer meistens getrennt leben müssen und der Auftrag der Frau im IS die »göttliche Mutterschaft« sei. Je mehr ich mich aber damit auseinandersetzte, desto besser gefiel mir die Vorstellung von Ordnung und Sicherheit. Dass die Männer für die Frauen verantwortlich waren und sie beschützen sollten, fand ich gut. Im Nachhinein weiß ich, dass das Blödsinn ist. Mir war nicht klar, dass die Regeln vor allem dazu dienten, die Frauen mundtot zu machen.
Nach langer Diskussion mit meinen Freunden und Gesprächen übers Internet mit einigen Dschihadisten habe ich mich ein paar Tage vor meinem 17. Geburtstag entschlossen, nach Syrien aufzubrechen. Ich wollte dahin, um einen »Mujahidin« zu heiraten. Mir gefielen diese Männer mit Stirnband, die auf sandiger Straße an der Hausmauer lehnten, ihre Kalaschnikow im Schoß. Die »Ritter der Sunnah«, wie sie sich auf Facebook nannten. Das war alles ziemlich romantisch verklärt, aber die Realität ist leider eine andere.
Im Netz hatte ich auch schon einen Mujahidin für mich gefunden. Wir hatten bereits miteinander gechattet, ein Bild von ihm hatte ich nicht gesehen, was mir aber auch nicht wichtig war. Er schickte mir einen Smiley, ich ihm mehrere Herzen. Ich wollte einen Mann heiraten, der für seinen Glauben kämpft und bereit ist, dafür zu sterben. Einen Mann, der dazu steht, was er sagt.
Durch so eine Verbindung könnte ich meine religiöse Aufgabe erfüllen, habe ich mir vorgestellt, und alles für meinen Glauben opfern. Und wenn es sein musste, würde ich in einem von Allah gebilligten Krieg gegen die Feinde des Islams sterben. Und die Vorstellung, dass es jemand anderen gab, der genauso dachte und mich zur Frau haben wollte, fand ich unglaublich aufregend. Allein der Gedanke daran machte mich richtig euphorisch, und ich konnte es gar nicht mehr abwarten, endlich in Syrien zu sein. Meinen Eltern habe ich von meinen Plänen nichts erzählt, weil ich wusste, dass sie versuchen würden, mich mit allen Mitteln aufzuhalten.
Meine Gruppe in der Schule fand meine Entscheidung jedenfalls toll. »In Syrien verspottet einen niemand mehr, wenn man einen Niqab trägt«, sagte eines der Mädchen neidisch. Sie gaben mir das Gefühl, ein Vorbild zu sein. Jedes Mal, wenn sie sich mir näherten, um mit mir zu sprechen, wurden ihre Augen groß. Es hat gutgetan, so respektiert zu werden und etwas Besonders zu sein. Ich habe es genossen, dass so viele Leute den Kontakt zu mir suchten. Auf einmal war ich keine blöde Schülerin mehr, sondern eine echte Heldin.
Über zwei Männer in unserem Stadtteil lief die Reiseplanung ab. Ich weiß nicht, ob sie nur mit dem IS sympathisierten oder zu ihnen gehörten. In solchen Dingen haben sich die Leute in der Szene nur vorsichtig geäußert, weil die Polizei sehr wachsam war. Für mich aber hat das keine Rolle gespielt, ob IS-Mitglied oder nur Freund. Beides war das Gleiche.
Jedenfalls haben diese Typen ein paarmal mit mir gesprochen und abgeklopft, ob ich wirklich bereit wäre, diese Entscheidung zu treffen. Und ich beteuerte immer wieder. »Ich will auf jeden Fall nach Syrien und habe da auch schon einen Mann, der auf mich wartet.« Daraufhin beschlossen sie, mir ein Flugticket zu besorgen, sodass ich über die Türkei nach Syrien gelangen konnte. »Die türkischen Pässe sind am einfachsten zu fälschen«, erklärten sie mir. Das nächste Mal sollte ich ihnen Passbilder mitbringen.
Im März 2015 rief mich einer dieser Kontaktleute noch mal an. »Du darfst nur eine kleine Tasche packen, damit du nicht auffällst«, instruierte er mich, »komm damit zur Schule, da hole ich dich ab.« So habe ich mir nur wenige Sachen eingepackt, für etwa eine Woche Kleidung, und lief die Treppe hinunter, ohne mich zu verabschieden. Meine Mutter war gerade unterwegs. Und meine jüngere Schwester, die im Wohnzimmer saß, merkte nicht wirklich, was ich machte. Ich bin einfach gegangen und habe die Tür hinter mir zugezogen.

Von Istanbul nach Gaziantep: Die nervöse Begleiterin

Als ich zur Schule kam, habe ich für ein paar Minuten weiche Knie bekommen. »Ist das wirklich richtig, was du da machst?«, habe ich mich gefragt. Doch sobald ich ins Auto eingestiegen war, verflogen alle Zweifel, und ich wusste wieder: »Ja, ich will nach Syrien.«
Der Fahrer drückte mir mein Ticket in die Hand, das auf einen türkischen Namen ausgestellt war, und meinen türkischen Pass, auf dem mein Foto abgebildet war. »Wenn du am Flughafen in der Kontrolle angesprochen wirst, antwortest du auf Französisch oder Englisch, dass du Türkin bist, aber deine Eltern mit dir nur französisch gesprochen haben.«
Am Gate wartete bereits ein anderes Mädchen, etwa in meinem Alter, die ein anderer Dschihadist dort abgesetzt hatte. Zusammen flogen wir nach Istanbul, nahmen uns dort ein Taxi und fuhren zu einer Adresse, die uns die Männer zuvor zugesteckt hatten. Wir überquerten die Brücke vom Bosporus und hielten auf der asiatischen Seite vor einem einfachen Wohnblock.
Im dritten Stock in einer Wohnung mit drei Zimmern erwarteten uns vier Frauen. Eine hatte das Sagen. Sie alle begrüßten uns sehr herzlich, umarmten uns und zeigten uns unsere Schlafplätze. Die »Chefin« sprach sowohl arabisch als auch türkisch und machte uns klar, dass wir ein, zwei Tage hier bleiben und die Wohnung nicht verlassen sollten, bis die Reise nach Syrien vorbereitet wäre.
Beim Tee teilten uns die anderen Frauen auf dem Sofa gleich mit, dass sie ebenfalls den Islamischen Staat unterstützten, und wollten gerade ausführen, was genau ihre Aufgabe sei, da hat ihnen die »Chefin« streng das Wort abgeschnitten. »Redet darüber nicht mehr«, wies sie die Frauen an und drehte sich zu uns, »und ihr fragt nicht mehr danach.« Alle zusammen aber bekundeten uns freudig, dass sie »Schwestern im Glauben gefunden haben, die für die gerechte Sache kämpfen«. Und sie fanden es großartig, dass wir aus Frankreich hierhergekommen seien, um uns ihnen anzuschließen. Die »Chefin« aber wirkte nervös, blickte immer aus dem Fenster und auf ihr Handy.
Nach zwei Tagen hat ein Fahrer die Frau und uns Mädchen aus Frankreich zu einem riesengroßen Busbahnhof gebracht, an dem sehr viele Busse eintrafen, warteten und in alle Richtungen wieder davonfuhren. Da herrschte großer Trubel, Leute schrien durcheinander, Motoren brummten, Händler zogen rufend mit ihren Karren herum und verkauften Süßigkeiten. Die »Chefin« hielt bereits unsere Bustickets in der Hand und ermahnte uns. »Falls euch im Bus jemand auf unsere Pläne ansprechen sollte, müsst ihr antworten, dass wir unsere Verwandten besuchen.«
Die Fahrt hat mehr als zwanzig Stunden gedauert. Die meiste Zeit haben wir geschwiegen, da uns die Frau das zuvor so aufgetragen hatte. Als ich ein Schild nach Gaziantep sah, blickte ich sie fragend an. »Ja, wir fahren dahin, in den Osten der Türkei«, sagte sie knapp, »von dort aus ist es kein Problem, nach Syrien zu kommen.« Wenn uns jemand fragte: »Und? Was macht ihr so?«, hat die Begleiterin sofort für uns das Wort ergriffen. Auf Türkisch habe ich nicht verstanden, was sie geantwortet hat. Weiter machte sie einen sehr gestressten Eindruck, als habe sie Angst, dass jeden Moment die Polizei den Bus anhalten und uns alle herausfischen könne.
Als wir endlich in Gaziantep eintrafen, war ich sehr erschöpft, aber dennoch hoch motiviert. Die Stadt selbst war völlig anders als Istanbul, eher arabisch als westlich. Die Frau hat sofort ein Taxi bestellt. »Der Fahrer ist auch einer von uns«, raunte sie uns zu. Wir sollten uns aber nicht anmerken lassen, dass wir das wüssten. Ich merkte, dass unsere Begleiterin viel entspannter wirkte, als würden wir uns endlich in Sicherheit befinden.
Aufs Neue setzte man uns in einer Wohnung ab, in der wir ein paar Tage verbrachten. Die Atmosphäre in Gaziantep war deutlich gelassener als in Istanbul. Immer wieder kamen Besucher vorbei. Sie sprachen sehr viel über den Islamischen Staat und wie wunderbar es sei, unter der »Herrschaft der schwarzen Flagge« zu leben. Über Syrien. »Den Boden der Ehre.« Die meisten von ihnen beherrschten recht gut Arabisch.
Bei der Gelegenheit erzählte mir das andere Mädchen aus Frankreich ihre Geschichte, die meiner sehr ähnlich war. Auch sie hatte sich bereits einen Mann ausgesucht, den sie heiraten wollte. Ich glaube, sie war genauso spannungsgeladen wie ich, was uns wohl in Syrien erwarten würde. Das war wie ein Aufbruch in eine vollkommen...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Haupttitel
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. EINLEITUNG
  6. DER IRAK: VOM GARTEN EDEN IN DIE HÖLLE DES IS
  7. IM HERZEN DER FINSTERNIS: DAS MÄDCHEN, DAS IN AL-BAGHDADIS HÄNDEN WAR
  8. INTERVIEW MIT DEM IS-TERRORISTEN ABU DSCHIHAD: WIE EIN HENKER ERKLÄRT, WAS RICHTIG AUF DER WELT IST
  9. JEDER KOCHT SEIN EIGENES SÜPPCHEN: DER »EMERIKI« UND DAS INTERESSE DER GEHEIMDIENSTE
  10. IBRAHIM ISO: DER MANN, DER EINE MASSENEXEKUTION ÜBERLEBT UND IN DER FOLGE VIELE MENSCHENLEBEN RETTET
  11. SCHWANGER VON EINEM IS-KÄMPFER: DAS UNGEHEUER IN MEINEM LEIB
  12. AUS DEM LEBEN EINES KINDERSOLDATEN: DAS MESSER AN DER KEHLE
  13. SHIRINS KORAN-SCHULUNG: ALLE UNGLÄUBIGEN MÜSSEN UMGEBRACHT WERDEN!
  14. GESCHICHTE EINER MUTTER: DER WAHNSINN HAT EIN MILCHGESICHT UND MORDET KLEINE KINDER
  15. FREMDHEITSGEFÜHLE: TRÄUME EINER DSCHIHADISTIN VON EINER BESSEREN WELT
  16. ANMERKUNGEN
  17. ZEITTAFEL