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Warum die Piraten weder etwas von Politik noch vom Internet verstehen

  1. 192 Seiten
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Warum die Piraten weder etwas von Politik noch vom Internet verstehen

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Über dieses Buch

Sie entstand wie aus dem Nichts, schockierte das politische Establishment und schien voller frischer Ideen und neuartiger Vorgehensweisen - die Piratenpartei. Doch so steil der Aufstieg, so jäh ihr Fall.Dieses Buch ist die zornig-analytische Abrechnung mit einer Bewegung, die sich unfähig zeigt, mit Macht und Verantwortung angemessen umzugehen. Verfasst von einem Aussteiger, der die Nase voll hat von einem digitalen Kindergarten, zeigt dieses Buch eine von ihren eigenen Ansprüchen überforderte Partei, die Basisdemokratiefordert, sich aber im Dauer-Gerede von Podcasts, Video-Streams, Twitter und Facebook selbst verliert. Ein Buch, das mit kritischen Einblicken in den Piraten-Alltag nicht spart und die Risiken einer Bewegung benennt, die das von ihr bevorzugte Medium - dasInternet - bereits für Politik hält.

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1. Wie ein Lottogewinn
Die Piraten und das Märchen von der Urhorde
Eigen-Leak: Ich bin kein Parteimitglied und habe noch nie für ein Amt bei den Piraten kandidiert. Daher konnte ich dieses Buch sachlich und frei von Interessenkollisionen oder Ich-bin-sauer-auf-die-Piraten-weil-mich-niemand-gewählt-hat-Gefühlen schreiben.
Ein knappes Jahr lang arbeitete ich als festangestellter Referent für die Piraten, anfangs mit viel Freude. Wie es dazu kam? Seit sechs Jahren engagiere ich mich für den Chaos Computer Club und interessiere mich sehr für Technik sowie für Politik. Die Piraten schienen wie geschaffen für mich. Meine Diplomarbeit im Fach Politikwissenschaft schrieb ich über Internetwahlen und Wahlcomputer. Nach dem Abschluss arbeitete ich erst einmal als freier Journalist und stand kurz vor einem Volontariat bei »Die Rheinpfalz«, einer der auflagenstärksten Tageszeitungen im Südwesten unserer Republik.
Als ich dann eine Stellenausschreibung einer Piraten-Landtagsfraktion fand, habe ich mich beworben. Und es hat auf Anhieb geklappt. Innerhalb von zwei Jahren waren die Piraten in vier Landesparlamente eingezogen: Ende 2011 mit 8,9 Prozent der Wählerstimmen ins Abgeordnetenhaus von Berlin (fünfzehn Abgeordnete); März 2012 mit 7,4 Prozent der Stimmen in den Landtag des Saarlandes (vier Abgeordnete); Mai 2012 mit 8,2 Prozent in Schleswig-Holstein (sechs Abgeordnete) und im Mai 2012 mit 7,8 Prozent in Nordrhein-Westfalen (zwanzig Abgeordnete).
Am Anfang fühlte ich mich sehr wohl bei den Piraten. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich einbringen kann, dass ich gebraucht werde. So wollte beispielsweise einer der Landtagsabgeordneten in einer parlamentarischen Rede zu einer Justizreform den Umstand, dass Häftlinge zukünftig selbst für Zahnbehandlungen zahlen sollen, mit den Worten »Das ist Kapitalismus im Endstadium« umschreiben. Eine der Peinlichkeiten, die ich verhindern konnte. Denn Kapitalismus im Endstadium ist es höchstens, wenn einzelne Banken gleich ganze Länder ruinieren oder wenn einzelne Fonds mit Kapital in der Höhe eines ganzen Staatshaushaltes spekulieren.
Meine Aufgaben bei den Piraten umfassten neben dem Schreiben von Reden und dem Mitverfassen von Gesetzentwürfen und Anfragen an die Landesregierung, die Vor- und Nachbearbeitung von Ausschüssen sowie die Recherche und das Zusammenfassen von aktuellen politischen Sachverhalten. Nach einigen Monaten allerdings musste ich erkennen, dass die Piraten genau genommen überhaupt nichts erreichen. Im Gegenteil, sie schaden eher. Denn die Piraten handeln und sprechen in einer vereinfachten und sehr naiven Weise von Politik. Zudem lenken sie ihre Anhänger und vor allem junge Wähler von wichtigen politischen Problemen ab und bringen jede Menge »Spaßgesellschaft« in die Politik. Weil wir aber gesamtgesellschaftlich vor sehr komplexen Problemen und Herausforderungen stehen, ist dieser Politikstil schädlich. Falls also die Piraten überhaupt etwas erreichen, dann höchstens das Gegenteil dessen, wofür sie einmal angetreten sind.
Die Piraten sind keine Partei im klassischen Sinne. Sie sind jedoch auch keine »Anti-Parteien-Partei«. Das wären sie vielleicht gerne. Die Piraten kann man besser verstehen, wenn man sie als das sieht, was sie nun schon seit einigen Jahren tatsächlich sind: ein Club der Meinungsfreiheit. Es gibt in der Piratenpartei Linksextreme, die etwa forderten, man solle den Berliner Polizeipräsidenten anzünden. Es gibt allerdings auch rechte Holocaustleugner unter den Mitgliedern. Holocaustleugner, die mitunter erst nach einem schleppendem Ausschlussverfahren von über einem Jahr aus der Partei geworfen wurden. Und das auch, weil sich die piratige »Jeder-kann-mitmachen«-Ideologie schwer mit selbst offensichtlich notwendigen Ausschlussverfahren verträgt. Das bedeutende Prinzip der »wehrhaften Demokratie« kennen die Piraten anscheinend nicht.
Auch sonst wirken die Piraten immer noch wie ein bunter, wild zusammengewürfelter Haufen: Es gibt in den Partei freiheitlich-liberal eingestellte Mitglieder sowie radikale Vertreter der linken Utopie eines »bedingungslosen Grundeinkommens«. Welche Politik soll daraus folgen?
Weder die eigenen Mitglieder noch die bisher gewählten Landesparlamentarier der Piraten wissen wirklich, was sie in der Politik wollen. Außer einigen gebetsmühlenhaft wiederholten Floskeln – Transparenz! – kommt wenig. Zu wenig. Das ist meine Bilanz nach knapp einem Jahr als Mitarbeiter und noch längerer Zeit als Beobachter der »Piraten-Szene«.
Eines der Hauptprobleme der Partei lautet: Wenn jeder mitsprechen darf, steht man praktisch für alles. Dann steht man aber auch für nichts. Und dann ist man eigentlich keine Partei, sondern eben eher ein Club, der Meinungsfreiheit zelebriert. In der Politik kommt es aber darauf an, sich zu unterscheiden und etwas Konkretes darzustellen.
Für die ersten Erfolge der Piraten hat es gereicht, ein »modernes Internet-Image« zu haben. Nach dem Motto: »Irgendwas mit Internet, Transparenz und mehr Demokratie«. Nur hat sich dieser Hype schnell in Luft aufgelöst, nachdem offensichtlich wurde, dass die Piraten selbst bei ihren Kernthemen versagen.
Denn die Piraten verstehen das Internet auch nicht besser als der Rest der Bevölkerung. Die Piraten haben vorwiegend geblufft. Außerdem haben sie sich in Annahmen über das Internet hineingesteigert, die so schlicht nicht zutreffen. Und dabei hat kaum eine Bewegung der Netzpolitik bisher so geschadet wie die Piraten. »Dank« dieser Partei werden auch noch in den nächsten Jahren Menschen, die sich für Netzpolitik interessieren, pauschal als Wirrköpfe abgestempelt werden.
Gerade war der Chaos Computer Club dabei, sich als ernsthafte, kompetente Kraft für die Mitgestaltung der Politik zu etablieren, die mit Fragen der Technologie in Berührung gerät. Vertreter des CCC waren etwa 2008 als Gutachter im Wahlcomputer-Prozess vor dem Bundesverfassungsgericht geladen. Auch wurde ein Vertreter des CCC in der mündlichen Anhörung des obersten Gerichts im Rahmen des Beschwerdeverfahrens gegen das Antiterrordatei-Gesetz angehört. Und tatsächlich führte der Urteilsspruch dazu, dass das umstrittene Gesetz ein wenig abgemildert wurde.
Die Piraten haben sich dem CCC geradezu angebiedert. Auf dem größten Hackertreffen von Europa etwa, dem 29. Chaos Communication Congress Ende 2012 in Hamburg, waren fünf der fünfzehn Berliner Abgeordneten der Piraten als Teilnehmer des Kongresses zu sehen. Und die derzeitige politische Geschäftsführerin Katharina Nocun hat auf dieser Veranstaltung eine Rede gehalten. Hier deutet sich eine bedenkliche Nähe an. Wenn keine eindeutige Distanzierung erfolgt, könnte der CCC seine über die Jahre aufgebaute Reputation als unabhängige, kreative Vereinigung der »IT-Spezialisten« (Hacker) verlieren. Ich muss gestehen: Dieses Buch, in Form einer umfassenden Abrechnung mit den Piraten, entstand auch aus dem Ärger heraus, dass die Piraten den CCC und die Netzpolitik generell in ein schlechtes Licht rücken.
Sie werden im Folgenden einige episodenhafte »Leaks« (engl. für «Leck», «undichte Stelle») finden. Dazu gehören Erlebnisse von mir mit Abgeordneten und – ganz allgemein – Insider-Informationen über die Partei und deren Politik. Die Leaks sind im Text mit einem Totenkopf
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gekennzeichnet. Ich kann mir gut vorstellen, dass es einige Piraten enttäuschen wird, wenn hier Dinge aus vertraulichen Sitzungen ausgesprochen werden. Doch bevor diese Piraten allzu sehr in Rage geraten, will ich ihnen raten, einmal ihr eigenes Grundsatz-»Programm« zu lesen. Über Menschen, die Missstände aufdecken, heißt es dort: »Whistleblowing« sei eine Form der Zivilcourage, die unbedingt unterstützt und geschützt werden muss. Ein Whistleblower ist jemand, der »Missstände und illegales Handeln, wie beispielsweise Korruption, Insiderhandel oder allgemeine Gefahren, von denen er an seinem Arbeitsplatz (…) erfährt, an die Öffentlichkeit bringt. Die Piratenpartei Deutschland wendet sich außerdem gegen die Einteilung in gute und schlechte Whistleblower. Die Einschätzung von Whistleblowing kann und darf nicht von der eigenen Interessenlage abhängen.«
In allen vier Landesparlamenten haben die Piraten schon einiges an »Herrschaftswissen« sammeln können. Die Abgeordneten haben dieses Wissen allerdings – entgegen ihrem Versprechen – nicht mit der Basis geteilt. Außerdem haben die Piraten ohne Not, und ohne dass sie im Bundestag vertreten und daher an gewisse Sachzwänge gebunden wären, in kürzester Zeit mit nahezu allen eigenen Grundsätzen und Wahlversprechen gebrochen. Deswegen glaube ich, dass sich die Parteibasis über mein Buch freuen müsste. Überhaupt bin ich der Überzeugung: Die Gesellschaft als ganze, nicht die Piraten allein werden über die Nützlichkeit dieses Buchs urteilen. Wenn die Piraten meinen, sie können ihre eigenen Thesen kompetent verteidigen, dann steht es sowohl den Ober-Piraten als auch der Basis frei, eigene Bücher zu verfassen. Dies ist ein demokratischer Streit, fair ausgetragen um die überzeugendste Darstellung – und in meinem Falle: die überzeugendste Kritik – der Unsinnsideologie der Piraten.
Für wen habe ich mein Buch geschrieben? Mittelstand und Mittelschicht bilden die tragende Säule unserer Gesellschaft. Ohne diese Säule könnte es in Deutschland keinen vernünftigen demokratischen Staat geben. Vor allem an sie habe ich beim Verfassen des Buchs gedacht. Es ist mir eine Herzensangelegenheit, dass wir alle die Piraten besser einschätzen können. Damit wir als Gesellschaft aus dem Scheitern dieser Partei etwas lernen und ähnlich unseriöse politische Propheten in Zukunft schneller und kompetenter abwehren können. Und vielleicht erreicht mein Buch auch die Jugendorganisationen der demokratischen Parteien. Ja, auch für die Jusos, Julis, Jungen Grünen und die Junge Union habe ich es geschrieben. Damit diese engagierten jungen Menschen wissen, dass nicht sie »uncool« sind – sondern die Piraten. Last but not least glaube ich, dass die Politiker der etablierten Parteien dieses Buch gut gebrauchen können. Etwa, wenn sie auf der Straße oder in einer Talkshow nach ihrer Meinung zu den Piraten gefragt werden, dürften sie nach der Lektüre bereit sein für eine kompetente und charismatische Antwort.
Sie könnten hier lesen, dass selbst die wenigen Kernthesen der Piraten völlig falsch und im schlimmsten Fall gar gefährlich sind. Das pauschale Rufen der Piraten nach Transparenz etwa trägt latent totalitäre Züge. Sie könnten auch lesen, dass die Piraten alles andere als originell sind. Den Wunsch nach einem radikalen »System-Upgrade« gab es in der jüngeren Geschichte schon einige Male. Egal ob mit oder ohne Internet: Die Studenten der 68er-Generation formulierten bereits ähnlich radikale basisdemokratische Fantasien wie die Piraten heute. Und während der ersten Internet-Welle, zu Hochzeiten der Finanzblase der »New Economy« um 1999/2000, gab es in der Schweiz eine erste Internet-Partei. Mit dem Namen »Internet-Partei« und der Domain internetpartei.ch. Zentraler Gedanke: »Die Internet-Partei unterscheidet sich zu allen anderen Parteien in der Schweizer Politlandschaft in einem wesentlichen Grundsatz: Das Parteiprogramm wird durch die einzelnen Mitglieder online im gelebten Föderalismus gestaltet.«
Die Piraten glauben so sehr an ihre naiven Ideen, dass einige der Vorstände und Abgeordneten sogar laut darüber nachdenken, die Parlamente in Deutschland abzuschaffen. Das hört sich nicht nur verrückt an, es ist meines Erachtens schlicht verfassungswidrig. Der Berliner Abgeordnete Alexander Morlang sagte etwa in einem Interview mit dem Spiegel: »Es war ein Fortschritt, als die Monarchien in Europa von Demokratien ersetzt wurden. Genauso wird es ein Fortschritt sein, wenn die parlamentarische Demokratie von der liquiden Demokratie ersetzt wird.«
Nicht nur mit ihren Politikthesen, auch mit den Internetideen dieser Partei stimmt fast nichts. Die Piraten gehen unreflektiert mit Technologie um, sie laufen jedem Hype und Trend hinterher. Einmal formulierte Thesen werden von der Masse der Piraten übernommen und dann nicht mehr infrage gestellt. Macht man so eine bessere Politik? Die Piraten haben sich in Sonderwelten hineingesteigert, wobei mittlerweile selbst ihnen klar sein müsste, dass das Internet nie wieder so »frei« sein wird, wie es in den Neunzigerjahren vielleicht einmal war. Inzwischen ist das Internet zu einem Massenphänomen geworden. Und da gelten nun einmal ganz andere Spielregeln und Gesetze. Die Piraten hingegen sind Romantiker, die sich voller Sehnsucht nach einer Zeit sehnen, in der noch nicht die ganzen »doofen« normalen Menschen im Netz unterwegs waren.
Vielleicht sollten wir den Piraten verraten, dass das Internet nicht »heilig« ist. Es wird uns nicht »befreien«. Diejenigen, die bisher vor allem nach Hollywoodfilmen, Pornos, Online-Games und Promi-News im Netz gesucht haben, werden nicht plötzlich auf die Idee kommen: »Oh, in meinem Bundesland wird gerade über eine neue Waldverordnung diskutiert. Na, da gehe ich mal schnell ins Internet, vielleicht kann ich mich dort darüber informieren und finde ein paar Mitstreiter dafür oder dagegen.«
Jeder, der nicht auf dem Naivitätslevel kiffender Sozialkundeschüler stehengeblieben ist, kann heute bereits erkennen, dass das Internet die »Dummen« noch weiter verdummt und die »Schlauen« noch ein bisschen schlauer macht. Etwa weil riesige wissenschaftliche Datenbanken vom heimischen Computer aus in Volltext durchsuchbar sind. Das ist genauso wie beim Fernsehen: Es gibt Leute, die schauen »Frauentausch« und ähnliche Kulturleistungen, und es gibt Leute, die konsequent ausschalten. Die »Informationsrevolution« der Piraten wird also erst einmal ausbleiben.
Ich bin allerdings fest davon überzeugt, dass vieles, woran die Piraten glauben, tatsächlich eintreffen wird. Nur eben nicht so, wie sich die Piraten das vorstellen. Die größten Veränderungen werden nicht in nächster Zeit sichtbar werden, sondern erst in fünfzehn bis zwanzig Jahren. Und es wird auch ganz anders geschehen, als die Piraten ihren potenziellen Wählern verkaufen: All die zu erwartenden Innovationen und Umwälzungen werden viel weniger von der Politik und von den Verwaltungsbeamten ausgehen, sondern von der Privatwirtschaft. Einiges davon kann man heute schon erkennen. Beispiel Google. Deren Unternehmensleitbild (»Mission-Statement«) lautet: »Das Ziel von Google besteht darin, die Informationen der Welt zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen.« Wobei man hier auch fragen müsste: Alle Informationen der Welt? Ist das nicht ein wenig totalitär formuliert? Und wo soll, etwa bei privaten Daten, die Grenze gesetzt werden?
Google hat bisher eindeutig mehr für die Wissensgesellschaft getan als alle Piratenparteien zusammen in ganz Europa. Die haben höchstens vermeintlich kluge Reden gehalten, Flyer verteilt und ein paar »Demonstrationshappenings« veranstaltet. Google hingegen digitalisierte allein in den Jahren 2004 bis 2008 über eine Million (!) nicht urheberrechtlich geschützte Bücher aus dem 19. Jahrhundert. Und das aus den Beständen einer einzigen großen Bibliothek aus Oxford. Mittlerweile sind noch Koopera-tionen mit weiteren Bibliotheken aus der ganzen Welt hinzugekommen.
Auch einige »Informatik-Freaks«, die sich ganz lose und eben nicht als Partei organisiert haben, wirkten bereits viel mehr an der digitalen Zukunft mit als die Piraten: Das Project Gutenberg (PG) ist eine »virtuelle Bibliothek«, auf der sich die Nutzer kostenfrei Werke herunterladen können, deren Urheberrecht ausgelaufen ist. Die engagierten Informatiker haben bereits über 42 000 Bücher in ihrem Angebot, darunter mehr als 700 deutschsprachige Werke. Allein von Friedrich Schiller finden sich dort dreizehn Bücher zum – legalen – Download.
Wie sind die Piraten gestartet? Die erste Piratenpartei formierte sich im Januar 2006 in Schweden als Reaktion auf Ermittlungen gegen die schwedische »Raubkopier-Börse« The Pirate Bay (»Die Piratenbucht«). Bei verschiedenen Aktionen gegen die Betreiber der Seite schossen die Behörden schlicht übers Ziel hinaus und verletzten schwedische Gesetze. Zudem wurden bei einer Beschlagnahmung der Polizei nicht nur die Server der Pirate Bay vom Netz genommen, auch unbeteiligte Vereine und Firmen waren betroffen. Später wurde bekannt, dass die Razzia auf Druck der USA stattfand, die Schweden gar mit Handelssanktionen im Rahmen der World Trade Organisation (WTO) drohten. Amerikanische Firmen verdienen Milliarden mit Popmusik und Hollywoodfilmen, und diese finanziellen Interessen werden auch mit harten Bandagen verteidigt. Als Reaktion auf die Maßnahmen wuchs die schwedische Piratenpartei innerhalb kurzer Zeit auf 2000 Mitglieder an. Es kam zu Berichten über diese erste Piratenpartei, die Idee verbreitete sich. So gründete sich im September 2006 in Berlin die deutsche Piratenpartei. Um die es lange Zeit recht still war.
In Schweden ging es so weiter: 2009 erfolgte die Verurteilung der Betreiber des Downloadportals zu Haftstrafen und zu Schadenersatzleistungen in Höhe von 2,74 Millionen Euro an verschiedene Film- und Musikunternehmen. In der Folge kam es zu so vielen Eintritten in die Piratenpartei, dass diese zeitweilig zu den größten Parteien in Schweden gehörte. Im selben Jahr erhielt die Partei 7,13 Prozent Stimmen bei der Europawahl. So gelang ihr ein weiterer Aufschwung mit zeitweise bis zu 40 000 Mitgliedern (!), zwei Abgeordnete der schwedischen Piraten erhielten einen Sitz im EU-Parlament. Weil sich die Piraten danach jedoch nahezu ausschließlich um Europa, Urheberrecht und um Netzthemen kümmerten, verloren sie wieder sehr viele Mitglieder. Bei der letzten Wahl zum höchsten Parlament in Schweden, dem Schwedischen Reichstag, erhielten die Piraten nur 0,65 Prozent. Sie wurde in der Folge bei TV-Berichten zur Wahl noch nicht einmal mit einem eigenen Balken angezeigt, sondern verschwand unter »Sonstige«.
Ein ähnliches Schicksal droht nun auch der deutschen Piratenpartei. Die einst halb ernst, halb als »Fun-Projekt« gestartete Partei kam viel zu schnell in die Pubertät und blieb in dieser Entwicklungsstufe stecken.
Dabei sind es genau jene Prinzipien, die einst den Durchbruch (Landtagswahl 2011 in Berlin) brachten, die nun für den Misserfolg verantwortlich sind: Es war dieses frische und unkonventionelle »Wir machen das jetzt einfach mal, ohne groß zu zögern oder allzu viel nachzudenken«, das die Piraten für einige der alternativen Wähler so attraktiv erscheinen ließ. Daneben waren die Piraten die einzige Partei, die das Internet von Anfang an ernst nahm und den Weg in eine modernere Gesellschaft einleitete. So wirkten sie zumindest zu Beginn.
Der anfängliche Erfolg, ohne dass sich irgendjemand dafür hätte anstrengen müssen, trug wesentlich zum Scheitern des jungen Politphänomens bei. Ein exponentielles Wachstum stellt jeden Organismus vor große Herausforderungen. Als die Piraten hierzulande erst 10 000 Mitglieder, dann 20 000 und, auf der Höhe des Erfolges, über 30 000 Mitglieder anzogen, musste eben doch jede Menge Bürokratie aufgebaut werden – und eine Hierarchie. Mehr schlecht als recht funktioniert das alles. Der derzeitige Parteivorsitzende Bernd Schlömer war vorher Bundesschatzmeister. In einem Interview schätzte er, dass in der Vergangenheit für schon mal ca. dreißig Prozent der Parteieinnahmen die Belege fehlten. Wegen Minispenden über das Internet und so. Transparenz und Nachvollziehbarkeit geht anders. Ich weiß nicht, warum die Piraten sonderlich nachvollziehbarer als andere Parteien sein sollten. Meiner Ansicht nach ist sogar das Gegenteil der Fall: Die Piraten gehören zu den intransparentesten Parteien in Deutschland, weil alle Informationen auf hundert verschiedene Internetseiten und Online-Dienste verteilt sind. Wer sich nicht täglich mindestens zwei Stunden Zeit nimmt für die ganzen »Tools« und Websites der Piraten, für den sind die Piraten eine völlige »Black Box«. Und auch sonst sind die Piraten deutlich schlechter als alle etablierten Parteien. Weil sie mit naiven und völlig realitätsfremden Annahmen gestartet sind, ist auch nicht zu erwarten, dass sich die Piraten irgendwie reformieren oder erneuern können in der Zukunft.
Indessen ist das Märchen von der Urhorde erneut zu hören. Es handelt von Wandel mit Schuld: Die Generation der Väter (Marina Weisband etwa schreibt in ihrem Buch »Wir nennen es Politik« vom Geruch »von Anzügen, Geld (…) und weißhaarigen Männern«) hat alle attraktiven Güter wie Kapital und politischen Einfluss auf sich konzentriert. Nun tritt die junge Generation auf den Plan. Sie hat die Ordnung der Väter zerstört oder will es, und sie ist angetreten, die Ungerechtigkeit und das »Monopol der Lust« zu brechen. Weil sie die alte Ordnung überwinden will, lädt sie zum ersten Mal Schuld auf sich. Tragisch nur: Sie bekommt die Politik und die Organisation der Gesellschaft aber auch nicht besser hin. Im Gegenteil, sie hat sich an die Stelle der Väter gesetzt und übt jetzt ein neues Monopol aus über den politischen Einfluss. Natürlich trifft das Märchen der Urhorde in der Realität nie vollständig zu. Es ist aber eine schöne archetypische Zusammenfassung der Situation der vier Landtagsfraktionen der Piraten. Kaum einer glaubt, dass sie etwas ändern werden. Was sich aber geändert hat, ist, dass die Bevölkerung nun noch inkompetentere »Politiker« ertragen muss. Politiker, die teils fürstlich entlohnt werden: Das »Gehalt« der zwanzig Piraten im...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Kurztitel
  3. Titel
  4. Copyright
  5. Inhalt
  6. 1. Wie ein Lottogewinn
  7. 2. Das traurige Geheimnis der Piraten
  8. 3. Freie Netze und mündige Bürger
  9. 4. »Ich reiß dir den Arsch auf bis zum Stehkragen«
  10. 5. »Die parlamentarische Demokratie abschaffen«
  11. 6. Wegweiser ins Totalitäre
  12. 7. Ein »Menschenrecht auf Raubkopie«
  13. 8. Wen der Wähler wählt, wenn er sein Kreuz bei den Piraten macht
  14. 9. Irgendwas mit Internet
  15. 10. Anhang
  16. Rückseite