Manfred Böcker
Antisemitismus ohne Juden: Die spanische radikale Rechte der dreißiger Jahre und die Theorie der „jüdisch-freimaurerischen Verschwörung“1
Welcher Antisemitismus?
Zunächst mag es für deutschsprachige Leser verwirrend erscheinen, wenn ich den Begriff des „Antisemitismus“ mit dem katholischen Europa des 20. Jahrhunderts in Zusammenhang bringe. Die Mehrzahl deutschsprachiger Historiker beschränkt den Begriff auf die besondere Form der Judenfeindschaft, die mit der völkischen Bewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aufkam. Diese „säkular gewordene Verhaltensform der Judenfeindschaft und ihrer Ideologie“2 unterscheidet sich demnach vom christlichen „Antijudaismus“, der eine sehr lange Tradition hat und sich auf religiöse Motive wie etwa das des Gottesmords beschränkt. Diese Unterscheidung ist in einigen Fällen hilfreich, insgesamt fällt sie jedoch recht scherenschnittartig aus.
Zunächst ist es fragwürdig, die Selbstbezeichnung historischer Akteure als wissenschaftlich anzusehen. War „Wissenschaft“ tatsächlich der Ursprung des völkischen Antisemitismus oder handelt es sich vielmehr um die „Metamorphose des theologischen Judenbildes in ein scheinbar rationales“3?
Zudem löste der Rassenantisemitismus, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkam, die christliche Judenfeindschaft nicht ab, sondern koexistierte mit ihr. Daher konnte auch der Antisemitismus im zwanzigsten Jahrhundert in eine religiöse Mentalität eingebettet sein. Zudem beeinflußte der pseudowissenschaftliche Rassenantisemitismus die christliche Variante und umgekehrt. Die christliche Judenfeindschaft wurde im 19. Jahrhundert vor allem politisiert. Dieses Phänomen können Historiker kaum mit dem Begriff eines „Antijudaismus“ in den Griff bekommen. Christliche Autoren machten Juden nicht mehr nur für Deizid, Hostienfrevel oder Ritualmorde verantwortlich, sondern für die Phänomene der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Moderne.
Die Koexistenz verschiedener Formen von Judenfeindschaft schuf hybride Formen, in denen sich christliche mit pseudowissenschaftlichen oder politischen Motiven mischten.4 Im Europa des 20. Jahrhunderts existierte eine katholische Variante der Judenfeindschaft, die sich zum einen vom völkischen Antisemitismus unterschied, aber zugleich mit dem Terminus „Antijudaismus“ völlig unzureichend beschrieben wäre. Im Spanien der dreißiger Jahre herrschte fast ausschließlich dieser katholische Antisemitismus vor. Neben religiösen Motiven bedienten sich seine Repräsentanten vor allem verschwörungstheoretischer Argumente.
Die Kontinuität des Antisemitismus im modernen Spanien
Seitdem die katholischen Könige im März 1492 die jüdische Gemeinde aus Spanien vertrieben hatten, gab es dort keine größere Zahl von Juden mehr. Trotz dieser Abwesenheit von Juden verschwand der Antisemitismus nie ganz aus dem modernen Spanien. In dem Maße, wie sich die Nachkommen der konvertierten Juden mit den Altchristen vermischten, verlor das antisemitische Ressentiment an Bedeutung. Dennoch hielt sich wie in anderen Teilen Europas ein negatives Judenbild.
Im Spanien des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine bestimmte Haltung in der „Judenfrage“ schließlich zum politischen Markenzeichen von Konservativen und Liberalen.5 Die kleine jüdische Gemeinde, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts wieder in Spanien angesiedelt hatte, spielte in dieser Diskussion kaum eine Rolle. Vielmehr erhielten „Juden“ und das „Judentum“ vor allem durch zwei außerspanische Faktoren ein neues Gewicht in der öffentlichen Debatte: den spanischen Kolonialkrieg in Nordafrika und die Welle des Antisemitismus im Europa der achtziger Jahre.
In diesem Jahrzehnt hatten sich in Spanien drei verschiedene Positionen zum Thema herauskristallisiert:
Die Liberalen kritisierten die Vertreibung von 1492, verurteilten den Antisemitismus des Auslands und unterstützten die liberale spanische Regierung in ihrem Versuch, eine begrenzte sephardische Einwanderung nach Spanien zu fördern.
Die Konservativen dachten und verhielten sich weniger eindeutig. Der wichtigste Intellektuelle dieser Strömung war der Philologe und Historiker Menéndez y Pelayo. Der Universalgelehrte aus Santander rechtfertigte den historischen Antisemitismus in Spanien als Teil der spanischen Nationalgeschichte. Spanien und ein militanter Katholizismus waren für ihn dasselbe. Als Verfechter dieser Konsubstantialitätsthese definierte er die spanische Nation als „Ketzerhammer, Licht Trients und Wiege des Heiligen Ignatius“. Diese Apologie begleitete bei den Konservativen nicht notwendigerweise Sympathie für den zeitgenössischen Antisemitismus in Frankreich, Rußland oder Deutschland.
Dies unterschied die Konservativen deutlich von den Integristen und Karlisten. Die Karlisten unterstützten seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts einen anderen dynastischen Zweig der spanischen Bourbonen. Ideologisch vertraten sie die Position eines entschiedenen Antiliberalismus und Konfessionalismus. Der Integrismus spaltete sich Ende der achtziger Jahre vom dynastischen Programm des Karlismus ab und radikalisierte seine ideologischen Vorstellungen. Dieses Lager rechtfertigte wie Menéndez y Pelayo den historischen Antisemitismus in Spanien und kritisierte die Einwanderung von Juden. Seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts rezipierten die Karlisten zudem durch die französische katholische Rechte die Theorie der „jüdisch-freimaurerischen Verschwörung“.
Auch wenn die spanische Tradition die extreme Rechte für diesen Antisemitismus empfänglich machte: Der französische Einfluß ist unzweifelhaft:Auch im nachmittelalterlichen Spanien gab es zahlreiche entschieden antisemitische Autoren. Das gilt zum Beispiel noch für das 17. Jahrhundert: wie Francisco de Quevedo oder den Pater Torrejoncillo. Diese Autoren waren Ende des 19. Jahrhunderts aber nicht mehr zeitgemäß. Sie schrieben vor allem gegen die Neuchristen in Spanien. Die spanische extreme Rechte, die stark unter französischem Einfluß stand, zitierte nicht mehr diese hausgemachte, veraltete Literatur, sondern zeitgenössische französische Autoren und Publikationen. Dieser importierte Antisemitismus lieferte Argumente gegen Liberalismus, Demokratie wie Sozialismus und stellte einen verschwörungstheoretischen Deutungsschlüssel der Moderne dar. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der spanische Antisemitismus daher Ausdruck einer internationalen katholischen Geistesströmung in Europa und nicht das Resultat eines spanischen Sonderwegs.
Forschungslage
Nur wenige Historiker haben sich bis jetzt mit der Geschichte des spanischen Antisemitismus im 20. Jahrhundert beschäftigt. Das liegt an verschiedenen Faktoren. Zum einen ist der spanische Antisemitismus ein vergleichsweise marginales Phänomen, besonders im Vergleich zu Ländern wie Deutschland oder Frankreich. Der zeitgenössische spanische Antisemitismus spielt für die Geschichte des Holocaust kaum eine Rolle. Auch als geistiger Ursprung einer Kollaborationspolitik wie in Vichy-Frankreich ist er nicht von Interesse. Daher weist die Forschung zu diesem Phänomen erhebliche Lücken auf. Neben meiner der Zweiten Republik (1931-1936) gewidmeten Dissertation gibt es einen verläßlichen Aufsatz aus dem Jahre 1996 und verschiedene Randbemerkungen in Werken über die Rechte der Zweiten Republik und das Francoregime. Mehrere Monographien zum Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert sind allerdings in Vorbereitung.6 Zurzeit fehlen allerdings noch Detailstudien für die Zeit vor der Zweiten Republik, für den Bürgerkrieg und das Francoregime. Ich werde meine Darstellung daher vor allem auf die Zweite Republik (1931-1936) konzentrieren.7 Zunächst soll aufgrund einiger weniger Fakten eine Bestandsaufnahme für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts versucht werden.
Das zwanzigste Jahrhundert bis zur Zweiten Republik
Die Rezeption der antisemitischen Literatur des Auslands führte zusammen mit der Diskussion über die Wiederzulassung von Juden in Spanien, die die philosephardische Bewegung unter der Führung des Mediziners Angel Pulido zu Beginn des Jahrhunderts angeregt hatte,8 dazu, daß die „Judenfrage“ nicht völlig aus der öffentlichen Diskussion in Spanien verschwand. Der Philosephardismus setzte sich für eine – vor allem kulturelle – Wiederannäherung zwischen Spanien und den Sepharden in der Diaspora ein.
Der derzeitige Forschungsstand erlaubt die Feststellung, daß für die Zeit von der Jahrhundertwende bis 1931 nur wenige Zeugnisse von Antisemitismus überliefert sind. Das gilt sowohl für die politische Literatur als auch für die Presse. Die erste spanische Version der Protokolle der Weisen von Zion erschien zum Beispiel erst 1932.
Das bedeutet nicht, daß es im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts keinen Antisemitismus in Spanien gegeben hätte. Im Jahr 1912 gründete der integristische Politiker José Ignacio de Urbina in Sevilla die Antifreimaurerische und Antisemitische Liga zum Schutz katholischer Interessen, deren Presseorgan, Der Vorherseher, bis zum Januar 1918 bestand. Die Liga versuchte die Spanier dazu aufzurufen, alle wirtschaftlichen Aktivitäten von Juden und Freimaurern in Spanien zu boykottieren. Nebenher verbreitete sie die den katholischen Antisemitismus der Zeit kennzeichnenden Gemeinplätze. Dabei griffen die Autoren sowohl auf die jahrhundertealte Ritualmordthese zurück als auch auf modernere Motive wie die Verschwörungstheorie:
Die Schuld an der Religionslosigkeit der modernen Völker trägt das Judentum, der Vater der Freimaurerei, des Anarchismus und des ganzen politischen und moralischen Elends, das uns heimsucht.9
Von Interesse sind die Liga und ihr Publikationsorgan vor allem aufgrund einer Umfrage, die sie unter dem spanischen Episkopat veranstaltete. Es zeigte sich, daß die Mehrheit der spanischen Bischöfe die Kampagne des Antisemitenbunds unterstützte.
Im Sommer 1912 schickte de Urbina die Statuten seiner Liga an die höchsten Vertreter der spanischen Kirchenhierarchie. Unter der Überschrift „Die Stimme der Prälaten“ veröffentlichte Der Vorherseher die Antworten der Bischöfe. Der erste dieser Artikel verband die Aktivitäten der Liga mit der kriegerischen Tradition der spanischen Militärorden der Reconquista:
Wenn gestern die Feinde der Religion und des Vaterlands Mohammedaner und Ketzer hießen, heißen sie heute Juden und Freimaurer; wenn wir sie nicht energisch und enthusiastisch auf dem Feld der Ideen und der Wirtschaft [...] bekämpften, wären wir unserer heldenmütigen Vorväter nicht würdig.10
Der damalige spanische Primas, Kardinal Aguirre y García, und weitere Bischöfe stimmten den Statuten der antisemitischen Organisation ausdrücklich zu.11 Das ist zumindest ein Hinweis auf die Verbreitung antisemitischen Denkens und der Verschwörungstheori...