Sandokan
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Sandokan

Eine Camorra-Geschichte

  1. 144 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Sandokan

Eine Camorra-Geschichte

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Nanni Balestrini erzählt in seinem Roman vom Aufstieg und Fall eines Camorra-Clans in der Provinz Caserta bei Neapel. In einem heruntergekommenen Landstrich Süditaliens entscheidet sich eine Gruppe Jugendlicher für die organisierte Kriminalität, um dem elenden Kleinbauerndasein ihrer Eltern zu entkommen. Fest entschlossen, vor nichts Halt zu machen, ermorden sie in kürzester Zeit ihre Rivalen und erringen die Vorherrschaft über die örtlichen Camorra-Gruppen. Nachdem sie den Drogenhandel in ihre Hand bekommen haben, gehen sie dazu über, ein gewaltiges Wirtschaftsimperium aufzubauen, mächtiger und reicher als das der sizilianischen Mafia. Auf den dramatischen und gewaltsamen Aufstieg folgt ein blutig ausgetragener innerer Zwist. Die Anführer der Gruppe schalten sich gegenseitig aus, bis es schließlich zur Verhaftung Sandokans, des letzten und berüchtigsten Anführers, kommt.

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Information

Jahr
2015
ISBN
9783862416097

Erstes Kapitel

Die Verhaftung

Der Pate sitzt in der Falle hofft aber er könnte es trotzdem noch schaffen er ist nassgeschwitzt hustet und flucht während er seinen zwei Kindern seiner Frau und seinem Schwager ein Zeichen gibt sie sollen nicht sprechen sollen durchhalten denn die Bullen sind da kriegen aber nicht raus wo zum Teufel der Boss und seine Familie sich versteckt haben sie wissen dass sie in diesem Haus sind irgendwo in einem geheimen Raum seit dreizehn Stunden schlagen sie Türen ein reißen Wände nieder feuern Tränengasgeschosse in die Lüftungsrohre ohne Ergebnis gleich kommt er raus das hoffen sie jedenfalls Sandokan verteidigt sich so gut er kann mit Kleidern und Bettlaken stopft er jede Öffnung zu das Tränengas breitet sich dennoch aus im Versteck kann man kaum noch atmen aber die Lüftung anzumachen würde bedeuten das Tränengas zu verbreiten für die Kinder ist es die Hölle Chiara und Angela weinen Sandokan tröstet sie ist nicht so schlimm gleich ist es vorbei bleibt ruhig gegen Mittag hört jemand eine Frauenstimme einen Satz wenn Sie sich nicht rühren haben wir keine andere Wahl dann wieder Stille der Presslufthammer reißt eine Mauer ein dort wo die Stimme herkam
eine andere Stimme ruft Nicht schießen hier sind Kinder ich ergebe mich ich ergebe mich es ist die Stimme Sandokans seine Flucht vor der Justiz endet hier ich bitte euch hört auf hier sind kleine Mädchen ich ergebe mich aber tut den Mädchen und meiner Frau nichts so Sandokan bürgerlicher Name Francesco Schiavone vierundvierzig Jahre alt die Schlüsselfigur der Camorra von Kampanien das unbestrittene Oberhaupt des grausamsten Clans in Süditalien des Casalesi-Clans er hat die Beamten der Antimafia-Einheit DIA mit seinen beiden Mädchen auf dem Arm empfangen er hat auf sie gewartet als ihm klar wurde dass es für ihn keinen Ausweg mehr gab hat er sich dem DIA-Chef von Neapel gestellt dem vierundvierzigjährigen Guido Longo aus Catania der ihn seit etwa sechs Monaten wie ein Jäger den Hasen verfolgt hat Sandokan gab auf als er hörte wie die Wand die sein Versteck schützte zu bröckeln begann er ist herausgekommen mit Chiara und Angelica auf den Armen um den Polizisten zu zeigen dass er die Mädchen dabei hatte und sich nicht wehren würde
die Männer von der DIA waren wie versteinert etwa eine Woche hatten sie ihn überwacht das Telefon und die Umgebung abgehört um schließlich das acht Meter hohe Tor vor dem Wohnhaus niederzureißen und dahinter alles verlassen vorzufinden dann kommt ein Auto das Automatiktor öffnet sich es ist der Fahrer der Ehefrau des Bosses die Razzia geht los zu vierzig stürzen sie sich auf das Auto im Hof des Hauses im Schlupfwinkel des Bosses alles durchsuchen sie Überraschung keine Spur von Sandokan der Chef der DIA lässt nicht locker Guido Longo nimmt die Herausforderung an Jungs sagt er zu seinen Leuten ohne Sandokan gehen wir hier nicht weg es ist elf Uhr abends und die Menschenjagd beginnt sie dauert die ganze Nacht es wird gegraben Wände werden abgeklopft überall wird gesucht es wird Tränengas in die Lüftungsrohre geleitet dreizehn Stunden Fahndung gestern früh um 12 Uhr 15 stöbern sie ihn auf den Oberganoven den neuen Diabolik die Beamten müssen eine Wandattrappe niederreißen eine Granitplatte auf einer Schiebetür hinter der Tür steht Sandokan auf der Flucht seit November 1993 bei ihm sind die beiden Mädchen von denen eines vor ein paar Tagen ein Jahr alt geworden ist und seine Ehefrau Giuseppina Natta
die beiden Mädchen weinen wegen des Tränengases aber auch wegen dieser dreizehn Stunden voller Angst und angehaltenen Atems der Feind nur einen Schritt weit entfernt und Papa nervöser als sie ihn je gesehen haben aus dem Bunker kommt eine kräftige Frau Giuseppina Natta die Ehefrau sie ist grimmig sie erkennt einen der Ermittler und schimpft du schon wieder du solltest dich schämen selbst Mario dem Schwager des Bosses legen sie Handschellen an dann geht’s zum Sitz der DIA mit dem Paten der im Auto kaum etwas sagt ihr habt gewonnen aber von mir erfahrt ihr nichts ich habe nichts zu gestehen ein Opfer der Ungerechtigkeit bin ich ihr habt gewonnen ich hatte gehofft es auch diesmal zu schaffen immer wieder bin ich euch entkommen ihr habt gewonnen aber kein Wort werdet ihr aus mir herausholen tatsächlich hatte er zuvor versucht aus dem Bunker zu entkommen mit einer Spitzhacke hatte er versucht eine Tuffsteinwand einzuschlagen anstatt den Tunnel zu benutzen in dem später Waffen Munition und zwei Campingzelte gefunden wurden eine Falltür direkt im Bunker führte zu ihm vielleicht hatte er befürchtet der Tunnel sei schon entdeckt worden
sein Versteck war ein Privathaus wie viele andere hohe Mauern unbezwingbare Tore ein schlecht gebauter Schuppen und hinten rechts auf dem Boden ein Steinblock der den Eingang verbirgt und sich wie durch Zauberhand auf einer Metallschiene zur Seite schieben lässt du musst in die Hocke gehen um reinzukommen monatelange Arbeit war nötig gewesen um das so perfekt hinzubekommen Hunderte von Helfern und das Ergebnis war eine Festung und zugleich ein Haus voller Komfort weder Türen noch Fenster dafür eine Belüftungsanlage Wohnzimmer Schlafzimmer Kinderzimmer Küche Bad zwei Kühlschränke mit allem was man so braucht an der Wand der Zettel mit der letzten Einkaufsliste und Unmengen Kleider die besten Parfüms zwei Stereoanlagen drei Fernseher von der Sorte für die man sich dumm und dämlich zahlt ein Filmprojektor eine Kinoleinwand Hunderte von Filmen von medizinischen bis zu pornografischen Geschichtsbücher aber nur über die Bourbonen und ein Computer die Aufträge die Politiker die Milliarden die Buchhaltung der Hölle und Waffen zwei N70-Maschinengewehre bulgarischer Herstellung eine 181er Pumpgun Schrotkugeln ein Schnappmesser
die Verhaftung Sandokans ist das Ergebnis einer Fahndung die modernste Technik mit alten und ein wenig vernachlässigten Methoden verbindet Beschattung und Überwachung auf Schritt und Tritt ganze Schuhsohlen sind dabei abgelaufen worden sieben Monate ging das insgesamt wobei sich in der letzten Woche alles überstürzte das Geheimnis des schnellen Zugriffs bestand aus einem Satelliten und dem Geschick desjenigen der es verstanden hatte einen winzigen Sender neusten Typs ein unsichtbares Gerät mit enormer Reichweite unter Giuseppina Nattas Range Rover anzubringen vor nicht mehr als einer Woche war das geschehen von dem Moment an schaltete sich der Sender in gewissen Abständen ein signalisierte jede Bewegung der Frau und des Paten eine Woche ist es her dass sich fünf Beamte der DIA als Arbeiter verkleidet in Casal di Principe aufhalten die Via Salerno und das Haus im Auge behalten Freitagabend laufen alle Fäden zusammen der Satellit die Beschattung die Überwachung alles weist darauf hin dass der Boss sich dort aufhält zurückgekehrt ist aus Val di Fassa in Trentino zwei dunkle Kleinlaster fahren vor drinnen vierzig eng aneinander gezwängte Agenten der DIA einige tragen Maschinengewehre andere Pistolen der Marke Beretta sie warten auf ein Signal unter ihnen befinden sich Fahnder einer Spezialeinheit der DIA die Ghostbusters die Geisterjäger die flüchtigen Verbrechern hinterher sind
der Mann der den Staat herausgefordert hat der zweimal Vater geworden ist in den fünf Jahren in denen er auf der Flucht war der Mann der mit Politikern und Unternehmern per du war der die Regeln bestimmt hat der Schmiergelder gezahlt hat für den Zuschlag beim Bau von Autobahnen Brücken staatlich finanzierten Projekten gigantischen Ausmaßes der Mann der ohne zu zögern seinen alten Paten umgebracht hat der Mann der sich Sandokan nennen ließ wegen seiner Grausamkeit die auch dem Tiger von Mompracem zu eigen war der wie dieser lange Haare und einen Bart trug beide tiefschwarz dieser Mann wenn auch dreißig Kilo schwerer und ohne den Bart aus Salgaris Romanen hatte Angst verspürt als sie ihn nach einer dreizehnstündigen Suche in seinem goldenen mit Büchern und Gemälden geschmückten Käfig entdeckten die Bilder hat er selbst gemalt wobei er am liebsten Mussolini und Napoleon malte und natürlich sich selbst manchmal ist die Zeit gnadenlos nichts mehr am Gefangenen außer vielleicht seinem massigen Körperbau erinnert an die einstige Ähnlichkeit mit Kabir Bedi die ihm den Beinamen Sandokan eingebracht hatte um die Grundlage für eine Legende zu legen nichts bleibt was an das Oberhaupt eines Imperiums von fünftausend Milliarden Lire erinnerte worauf sich das Familienvermögen belaufen haben soll

Zweites Kapitel

Willkommen in

Da ist eine kleine Brücke die zum nächsten Ort führt und auf der Mitte der Brücke steht ein Schild mit der Aufschrift Willkommen in aber der Ortsname ist wegen der vielen Einschusslöcher nicht zu lesen und am Ende der Brücke weiter geradeaus ist der Ort im Grunde kannst du ihn gleich überblicken da sind Straßen und Sträßchen und überall Häuser über Häuser aber der ganze Ort wird von dieser großen Straße durchquert die zu dieser Hauptstraße dem Corso Umberto wird am Ende des Corso gibt es einen kleinen Hang dort verlässt die Straße den Ort eine Tafel kennzeichnet die Ortsgrenze und die Straße verläuft so und so und dann so und führt dann auf die Landstraße Richtung Casale hier ist Casale dann geht die Straße weiter das ist die Landstraße die von Villa Literno bis Averso führt und am Rande der folgenden Ortschaften verläuft ohne ins Zentrum hineinzuführen sie berührt nur die Ortsränder und einmal gab es auf dieser Landstraße sogar eine Straßenbahn die die ganze Strecke abfuhr
mein Vater erzählte mir dass sein Onkel Nicola einmal mit seinem Pferd und seiner Kutsche unterwegs war sie fuhren hinter der Trambahn her und folgten der Straße die in den nächsten Ort führte die Landstraße die vom Corso Umberto abging denn auf dieser Straße fuhr die Trambahn mein Onkel fuhr mit seiner Kutsche und neben ihm saß ein Freund und dieser Freund sieht plötzlich zwischen den Leuten die mit der Trambahn fahren einen Mann aus einer verfeindeten Familie eine Person die seiner Familie übel mitgespielt hat dieser Freund fragt also meinen Onkel ob er ihm seine Pistole leihen könne seine eigene hatte er zu Hause vergessen mein Onkel ging immer wie alle mit der Pistole aus dem Haus er stellt ihm nicht einmal die Frage warum der seine Pistole haben will er gibt sie ihm einfach und der andere wartet bis die Trambahn an der nächsten Haltestelle anhält steigt dann ganz ruhig aus der Kutsche betritt die Trambahn und schießt mitten unter den schreienden Leuten auf diesen Mann bringt ihn um weil er ihn umbringen musste dann steigt er aus der Trambahn wieder aus gibt Onkel Nicola der noch in der Kutsche sitzt die Pistole zurück und entfernt sich über die Felder geht einfach so weg
kleine Einschusslöcher gibt es jede Menge auf sämtlichen Ortstafeln hier entlang der Landstraße als ob man darauf hinweisen wollte dass man in dieser Gegend auf der Hut sein muss weil es sich um ein Gebiet handelt das kontrolliert wird wo alles was du tust kontrolliert wird sodass du besser aufpasst was du tust während in Orten die sagen wir ein wenig normaler sind auf den Ortseingangstafeln Gott existiert geschrieben steht was einer Großstadtlegende zufolge bedeutet dass du dort Stoff bekommst oder jedenfalls eine Lokalität findest wo du dich versorgen kannst normalerweise geht es um Haschisch aber manchmal auch um andere Drogen aber in Orten wie meinem ist die übliche Tafel mit der Aufschrift Willkommen in von Pistolen- und Gewehrkugeln durchlöchert was bedeutet dass es sich um ein kontrolliertes Gebiet handelt wer sich hier reinbegibt muss wissen welchen Risiken er sich aussetzt sodass es immer ein wenig gefährlich ist sich in unseren Ort zu wagen das ist schon lange so jetzt kann man sagen dass sich das ein wenig ändert aber viel hat sich nicht geändert
hier spielt sich das gesamte Leben des Ortes ab auf diesem Corso Umberto er wird einen Kilometer lang sein vielleicht ein wenig mehr zu Fuß kannst du den auf jeden Fall bequem ablaufen und rundherum sind Häuser über Häuser über Häuser über Häuser über Häuser hier auf halber Strecke ist das Rathaus und die Bar Centrale einen richtigen Platz gibt es nicht genau neben dem Rathaus gibt es nur dieses winzige Plätzchen einen kleinen Platz neben der Straße der nichts anderes ist als der Hof der Hauptkirche einmal hat die Gemeinde uns eine Art Kriegerdenkmal bauen lassen das war eine Art hoher Obelisk obendrauf ein Adler der die Flügel spreizt aber der überlebte nicht einmal einen Tag lang denn schon am Abend nach der Einweihung fingen alle an auf den Vogel zu zielen ihn mit allem Möglichen zu beschießen Pistolen Flinten Schrotgewehren egal was der ganze Ort schoss die ganze Nacht auf ihn und am nächsten Morgen waren nur noch die Klauen des Adlers übrig den Obelisken haben sie dann schließlich abgerissen denn im Grunde war er wirklich hässlich dieser Obelisk
das soll jetzt auch einen Eindruck vermitteln von der Rückständigkeit dieses Ortes wie zum Beispiel damals als das Fernsehfieber ausbrach im September gibt es einen kirchlichen Feiertag einen Heiligentag du weißt schon mit einer Prozession bei der die Madonna durch den Ort zieht und zu diesem Zeitpunkt gibt es eine Fernsehserie die läuft auf dem Hauptsender und heißt Auch die Reichen weinen oder so was in der Art jedenfalls verfolgen alle im Ort diese Fernsehserie Männer Frauen Kinder der Pfarrer auch und in den zwei Stunden in denen die Serie ausgestrahlt wird geht keiner aus dem Haus die Straßen sind völlig leer und an diesem Tag im September dem Heiligentag sollte die Madonna wie jedes Jahr um sieben Uhr abends aus der Kirche kommen um durch den Ort zu ziehen mit den singenden Gläubigen dahinter aber genau zu dieser Zeit läuft auch die Fernsehserie und so beschließt der Pfarrer die Prozession zu verschieben denn die Madonna kann warten und vielleicht zum ersten Mal seit Jahrhunderten kommt die Madonna um zehn aus der Kirche statt um sieben
auf diesem kleinen Platz vor der Kirche wo sich die Männer treffen um zu schwatzen kommt es vor dass Leute miteinander scherzen vielleicht macht einer an einem bestimmten Punkt eine falsche Bemerkung sagt irgendwas was dem anderen nicht gefällt der haut ihm eine runter aber das nächste Mal wenn sich die zwei treffen schießen sie sofort aufeinander ohne zu zögern hier ist es ganz normal mit der Pistole aus dem Haus zu gehen es gibt auch Leute die Fahrrad fahren und das Gewehr über der Schulter tragen oder vielleicht ihr Rasiermesser in der Tasche haben ein Waffenproblem gibt es hier nicht bei Bedarf findet sich immer eine Pistole ein Gewehr auch eine normale Familie wie meine besaß bis vor einigen Jahren zwei oder drei Gewehre dann kam dieses Gesetz dass jeder der auch nur ein Jagdgewehr besitzt das melden muss bis dahin gab es in jedem Haus Gewehre Pistolen und andere Waffen
es ist eine Gegend wo sich sozusagen keiner ans Bein pinkeln lässt es gibt da zum Beispiel den Onkel von einem Jungen den ich kenne der dreißig Jahre ins Gefängnis gegangen ist weil sein Vater der Großvater von diesem Jungen früher einmal in einer dieser Streitereien auf der Straße einen anderen geohrfeigt hat und dann von ihm umgebracht wurde und mit zwanzig Jahren rächt der Sohn seinen Vater bringt den anderen um und geht dreißig Jahre ins Gefängnis ohne auch nur einmal rauszudürfen und all das nur weil es hier diesen Ehrenkodex gibt diese Vorstellung von Ehre dass man sich also von keinem ans Bein pinkeln lässt oder noch so eine erschütternde Geschichte da gab es einen Typen im Grunde ein Halbirrer der hatte sich mit einem Bauern aus einer Familie mit sieben oder acht Brüdern gestritten und am nächsten Tag holt er das Gewehr geht dorthin aufs Land und bringt praktisch alle um denen er begegnet vier oder fünf von den Brüdern den Vater und einen Nachbarn er vernichtet also buchstäblich die ganze Familie
und dann werden auch Hauseingänge und Rollläden und alles Mögliche beschossen einfach so aus einer Laune heraus wenn du also irgendwen nicht leiden kannst wenn dir jemand unsympathisch ist gehst du abends zu ihm und schießt mit dem Gewehr oder mit der Schrotflinte ganz einfach auf seinen Hauseingang das ist völlig normal unser Ort kann abends wirklich gefährlich sein mir ist es manchmal passiert dass mich Freunde aus Aversa im Auto nach Hause fuhren ich hatte so meine Schwierigkeiten mit den Leuten aus meiner Gegend mit ihrer Einstellung weshalb meine Freunde eher aus Aversa kamen ich wurde also nach Hause gefahren in einem unbekannten Auto unbekannt weil in meiner Gegend nicht viele Leute leben weil sich alle kennen und so ein fremdes Auto also sofort auffällt da kommt nach nicht einmal zwei oder drei Minuten ein anderes Auto angeschossen mit eingeschaltetem Fernlicht rast es uns entgegen fährt ganz nah ran und blockiert die Straße zum Glück kenne ich die Jungs und alles ist in Ordnung trotzdem fahren sie uns jedes Mal hinterher wenn mich meine Freunde nach Hause bringen bis vor die Haustür folgen sie uns
Autos sind in unserer Gegend immer ein Statussymbol gewesen darum hat der Clan immer sehr darauf geachtet dass sich im Auto seine Macht und sein Reichtum ausdrücken während der Hochzeit des Bardellino-Clans gab es in ganz Europa im Verhältnis zur Einwohnerzahl nirgends so viele Mercedes wie in unserer Gegend alles ganz neue Autos frisch aus der Produktion wenn in Deutschland ein neues Mercedes-Modell hergestellt wurde fuhr das innerhalb einer Woche bei uns herum die haben jede Summe gezahlt damit das neue Auto sofort geliefert wurde um es als Erste zu besitzen dabei ist so ein Auto nicht nur als Statussymbol wichtig sondern auch weil du in einer Gegend wie unserer mit einem Auto in dem du deine Runden drehst in der Lage bist das ganze Gebiet in weniger als zehn Minuten zu kontrollieren das heißt du kannst alles was geschieht im Blick haben und sofort eingreifen falls nötig
Dieses ständige Rundenfahren hat es in unserer Gegend immer gegeben das Territorium ist klar abgegrenzt es gibt zwar keine Zäune aber es gibt die Rundfahrten die Jungs die mit dem Handy im Auto herumfahren und Bescheid geben wer vorbeikommt und wenn die Gendarmerie oder die Militärpolizei Absperrungen errichtet hat gibt es die berühmten muschilli so heißen bei uns diese lästigen kleinen Fliegen das ist praktisch ein Beruf den viele Jungs ausübten und immer noch ausüben früher waren das Jungs die keine Lust hatten Maurer zu werden oder jedenfalls aus armen Familien kamen jetzt machen das auch Jungs denen es finanziell richtig gut geht deren Familien reich sind die werden nur deshalb muschilli weil sie sich so stark fühlen oder mächtig was weiß ich also die fühlen sich stark mächtig und machen deshalb diese Arbeit das sind Jungs die herumfahren normalerweise im Mercedes und die oft eine Anzeige riskieren wegen irgendeinem Blödsinn die riskieren sehr viel
einen von denen haben sie mal mit einer Pizza in der Hand bei Leuten erwischt nach denen gefahndet wurde dieser Junge wohnte bei mir in der Nähe er arbeitete für einige Killer als muschillo als kleine Fliege einer von ihnen ruft ihn auf dem Handy an und sagt er soll an den üblichen Ort kommen mit Pizza dieser Typ kommt zu dem Haus in dem sich der Untergetauchte aufhält den ich sogar kenne wir sind gemeinsam aufgewachsen und als er ankommt ist die Polizei da die gerade eine Razzia macht und die diesen Killer erwischt hat die Polizei fragt ihn was er verdammt noch mal in diesem Haus mache und er sagt einfach dass ihn ein Freund eines Freundes gebeten habe zu einem Haus zu gehen das er nicht kenne um dort Pizza vorbeizubringen weil dieser Freund eines Freundes nämlich gerade keine Zeit hatte und er sagt dass er keine Ahnung hat wer dieser Typ sei oder was der so macht im Leben und dieser Junge den sie dann verhaftet haben heißt Michelino und war damals noch ganz jung jetzt wird er fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig sein aber bis vor sieben acht Jahren war er nicht nur ein guter Junge sondern auch ein bisschen dämlich einer über den sich immer alle lustig gemacht haben aber dann steckte er wegen seinem Schwager in dieser Sache drin und was mich beeindruckt hat ist dass er sich völlig verändert hat nachdem er in die Organisation eingetreten war dass er plötzlich ganz anders war
ich weiß noch dass ich damals beim Militär war und er gehörte schon zu dieser Gruppe später hat Michelino auch Morde begangen an eine Situation erinnere ich mich noch genau er war damals auch beim Militär war kurz nach mir eingezogen worden wir haben uns dann eines Abends in Florenz im Park Cascine getroffen ich war da in der Nähe stationiert an der Piazza Santo Spirito er war in einer anderen Kaserne der Morandi wenn ich mich richtig erinnere aber er blieb nur einen Monat dann hat er sich versetzen lassen weil er schon dazugehörte ich war ein wenig vor ihm zum Militär gegangen das war die Zeit in der er also schon angefangen hatte für diese Leute Dinge zu erledigen als muschillo zu arbeiten und als ich ihn getroffen habe war er richtig sauer weil er nach Hause wollte weil er bestimmte Dinge tun musste und tatsächlich hat er es dann geschafft sich versetzen zu lassen aber als ich ihn in Florenz getroffen habe da hatte ich ihn noch als braven Jungen in Erinnerung nett ein bisschen schüchtern ein bisschen ängstlich weil ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Widmung
  6. Literatur als Zivilcourage
  7. 1 Die Verhaftung
  8. 2 Willkommen in
  9. 3 Der Zenit
  10. 4 Die Anfänge
  11. 5 Der Tod
  12. 6 Die Wette
  13. 7 Der große Sprung
  14. 8 Die Politik
  15. 9 Die Deponie
  16. 10 Die Expansion
  17. 11 Albanova
  18. 12 Die Afrikaner
  19. 13 Der Kauz
  20. 14 Der Krieg
  21. 15 Sandokans Sieg
  22. 16 Das Leichenschauhaus