Der Zingerle
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Der Zingerle

Geschichte eines Frauenmörders

  1. 160 Seiten
  2. German
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Der Zingerle

Geschichte eines Frauenmörders

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Im August 1950 wurde der zweifache Frauenmörder Guido Zingerle auf einer Almhütte bei Vals gefaßt. Damit ging eine beispiellose Hetzjagd zu Ende, die die Bevölkerung von Nord- und Südtirol über Wochen in ihren Bann gezogen hatte. Von den Medien als "Ungeheuer von Tirol" tituliert, wurde der in Tschars geborene Zingerle bei der Bevölkerung zum sprichwörtlichen Schreckgespenst. Er lauerte seinen Opfern im Wald auf, verschleppte sie in Höhlen, vergewaltigte sie, deckte sie mit Steinen zu und ließ sie eines langsamen Todes sterben.Anhand von Gerichtsakten, Zeitzeugen und Zeitungsberichten zeichnet der Autor Heinrich Schwazer die Lebensgeschichte des Guido Zingerle von der bitteren Kindheit bis zu seinem Tod im Gefängnis nach.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9788872835098
Maiausflug
23. Mai 1946. Ein Donnerstag. Die Volksschullehrerin Gertrud Kutin steigt um 8.00 Uhr früh in den ersten Zug der Guntschnabahn und fährt in die Höhe. Um diese Zeit sind noch wenig Fahrgäste unterwegs. Nur ein Bauernbub, der die Milch nach Bozen gebracht hat, und ein alter Mann sind mit ihr in der Bahn.
Die Lehrerin hat es eilig. Bis zu ihrer Schule in Glaning braucht sie bei zügigem Gehen durch den Waldweg etwa eine Dreiviertelstunde. An diesem Tag steht der Maiausflug auf dem Programm, eine Wanderung durch die Wälder oberhalb von Glaning. Die Kinder würden schon auf sie warten.
Kutin hat sich für diesen Tag ein Dirndlkleid mit schwarzem Rock, schwarz-rot kariertem Leibchen mit weißen Ärmeln und einer blauweiß gestreiften Schürze ausgesucht. In die Tasche hat sie einen Regenmantel gepackt, da das Wetter nichts Gutes verheißt. An den Fingern trägt sie wie gewöhnlich zwei Brillantringe, ein Geschenk ihres Vaters, und am Hals ein silbernes Kettchen.
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Gertrud Kutin und Rosa Gasser in Salzburg
Den Abend davor hat sie mit ihrer besten Freundin Rosa Gasser, Lehrerin in der Volksschule St. Jakob, in der Stadt verbracht, in fröhlicher Stimmung. Gertrud hat vor kurzem einen jungen Mann kennen gelernt, den sie öfters bei der Maiandacht trifft.
Die Stelle in der Volksschule von Glaning ist Kutins zweiter Lehrauftrag. Fünf Klassen hat sie gleichzeitig zu betreuen. Im Jahr davor hat sie ein paar Monate in der Volksschule von Unterinn unterrichtet, frisch von der Lehrerbildungsanstalt Salzburg weg, wo die Südtiroler Lehrerinnen während des Faschismus zur Ausbildung hingeschickt wurden. Vier Jahre dauerte die Ausbildung, das letzte Studienjahr mussten sie in Innsbruck absolvieren, damit die Junglehrerinnen sofort nach Abschluss in Südtirol eingesetzt werden konnten.
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Da in Innsbruck damals akute Bombengefahr bestand, wurde der Unterricht nach Mayrhofen ins Zillertal verlegt. Im Februar 1945 maturierte sie – das letzte Schuljahr wurde wegen der Kriegswirren um die Hälfte verkürzt – und unmittelbar danach übernahm sie eine Klasse in der Volksschule Unterinn.
Die Stelle am Ritten war ideal für Gertrud Kutin. Ihre Mutter wohnte in der Nähe, wenn sie in Bozen bleiben wollte, konnte sie bei ihrer Großmutter in der Rauschertorgasse übernachten. Dennoch wurde sie im zweiten Schuljahr nach Glaning versetzt. Wahlmöglichkeiten wurden den jungen Lehrerinnen in der Zeit akuten Lehrermangels keine eingeräumt. Trude, wie sie von ihren Freundinnen genannt wurde, war todunglücklich mit der Stellenzuteilung.
Der abgelegene Ort mit seinen weit verstreuten Höfen behagt ihr nicht. Sie ist ein Stadtmensch, geht gern ins Kino und trifft sich häufig mit ihren Freundinnen. Im Pfarrwidum von Glaning hat sie ein Zimmer, das ihr als Dienstwohnung zur Verfügung gestellt wurde, doch sie benützt es selten. Nach der Schule geht sie öfters nach Bozen. Der Weg durch den Wald kommt ihr ein bisschen unheimlich vor. Abends benützt sie ihn nur, wenn der „Wirts-Toni“, Sohn des „Meßnerwirtes“ in Glaning, dabei ist. Sonst übernachtet sie in Bozen bei ihrer Großmutter in der Rauschertorgasse oder bei ihrer Freundin und fährt am nächsten Tag früh mit der Guntschnabahn wieder hinauf.
An diesem Tag warten die Glaninger Volksschüler vergeblich auf ihre Lehrerin. Nach einer Weile gehen sie ihr bis zur Bergstation der Bahn entgegen. Umsonst. Keine Spur von der Lehrerin. Der Maiausflug findet nicht statt.
Zehn Monate später, am 15. März 1947, fahren der Koch Vincenzo Fratti, seine Frau Ida und Frattis Vater mit der Guntschnabahn hinauf, um in der Gegend von Altenberg Brennholz zu sammeln. Am frühen Nachmittag haben sie einen Haufen beisammen, den sie über einen überhängenden Felsen hinunterwerfen, um das Holz von dort bis zum Weg zu transportieren. Da einige Prügel im dichten Gestrüpp hängen bleiben, muss Fratti sich durch das Unterholz bis unter den Felsen heranmachen. Dort angekommen, bemerkt er einen starken Verwesungsgeruch. Als er sich genauer umschaut, sieht er zwei menschliche Füße aus dem Laub herausragen, die oberhalb der Knöchel zusammengebunden sind. Erschrocken ruft er seiner Frau zu: „Hier liegt ein Toter!“

Lebendig begraben

Warum Guido Zingerle sich am 23. Mai in Glaning aufhielt, konnte nie eindeutig geklärt werden. Die Gegend war ihm bekannt. Als er in den letzten Kriegsmonaten von der Deutschen Wehrmacht desertiert war und sich in die Schweiz absetzen wollte, hatte er den Buschwald oberhalb von Bozen durchquert. Damals war er in Taufers im Münstertal heillos betrunken vom Südtiroler Ordnungsdienst geschnappt und in Bozen zum Tode verurteilt worden. Das Kriegsende hatte ihm das Leben gerettet. Seither war er nicht mehr in Südtirol gewesen.
Er war 43 Jahre alt, verheiratet, hatte eine 14-jährige Tochter. Seit der Umsiedlung wohnte er in Innsbruck. Seinen Lebensunterhalt verdiente er offiziell als Zeitungskolporteur, die Haushaltskasse füllte er aber mit Schmuggeltouren. Der Familie ging es in den Jahren der Not „ziemlich gut“. Auch in den fraglichen Tagen war Zingerle mit einem Rucksack voll Schmuggelgut nach Bozen gekommen, das er bereits an den Mann gebracht hatte – Sacharin, Tabak, Stoffe.
Vor seiner Rückkehr nach Innsbruck wollte er noch etwas erleben. Die warme Jahreszeit ließ sein Verlangen nach einer Frau übermächtig werden. Mit seiner eigenen Frau hatte er schon seit über zehn Jahren keinen Verkehr mehr gehabt. Sie war nach der Geburt ihrer Tochter „ausgesprochen gefühlskalt“ geworden. Er selbst hatte sich während des Abessinienfeldzugs im Jahr 1935 den Tripper geholt. Seither hatte er häufig wechselnde Geschlechtspartnerinnen gehabt. Während des Krieges hatte er in Innsbruck erstmals auch Gewalt angewandt, um zwei Frauen seinen Willen aufzuzwingen. Einmal sogar in seiner Wohnung. Doch das war folgenlos geblieben. Die Frauen hatten ihn nicht angezeigt. Jetzt war der Trieb wieder in ihm erwacht. Eine „richtige Frau“ sollte es sein, keine Prostituierte. Die verachtete er.
Er hatte in einem Stadel übernachtet und war früh aufgestanden, um nicht vom Bauer überrascht zu werden. Etwa auf halber Wegstrecke zwischen der Bergstation der Guntschnabahn und Glaning setzte er sich auf einen großen, pyramidenförmigen Felsblock, von dem aus er den Weg in beiden Richtungen überblicken konnte. Ein idealer Platz für einen Hinterhalt, wie geschaffen für einen Wegelagerer. Gegen halb neun bemerkte er eine junge Frau, die eilig in Richtung Glaning unterwegs war. Eine groß gewachsene, hübsche junge Frau, die einen Rucksack trug. Er schätzte sie auf etwa 22 oder 23 Jahre.
Zingerle zögerte keinen Moment: Das war sein Opfer. Er versperrte ihr den Weg und forderte sie ohne Umschweife auf, mit ihm zu gehen: „Ich hielt sie auf und machte ihr Liebeserklärungen. Da sie aber Widerstand leistete, nahm ich sie unter den Arm und zog sie in den nahen Wald, zirka 200 Meter entfernt“, sagte er vier Jahre später nach seiner Verhaftung beim ersten Verhör.
Weiter oben liegen die Felsenhänge des Altenberges, eine völlig unwegsame Gegend, zu der man nur mit größter Mühe hinaufsteigen kann. Dorthin will er sie bringen, um ungestört über sie herfallen zu können. Als die Leiche später gefunden wurde, ging man aufgrund der Steilheit des Geländes zunächst davon aus, dass sie von mindestens zwei Personen dorthin gebracht worden sein musste.
Da die junge Frau sich erbittert wehrte, drohte er ihr mit einem Messer. Über die Ängste, die sie ausstand, machte er sich keine Gedanken. Sie flehte ihn an, sie gehen zu lassen: „Ich kenne Sie nicht, ich weiß nicht, wer Sie sind. Lassen Sie mich zu meinen Kindern in die Schule gehen.“
Unter den Felsen angekommen, zwang er sie, sich auszuziehen. Da sie sich noch immer wehrte, fesselte er ihr die Hände mit ihren Strümpfen auf dem Rücken. Dann vergewaltigte er sie ein erstes Mal. Befriedigung verschaffte ihm die Vergewaltigung nicht, „weil das Mädchen nicht mitgearbeitet hat“. Das versetzte ihn in Rage. Er will Nähe erzwingen. Je mehr sie ihn anfleht, sie gehen zu lassen, desto gewaltsamer versucht er, ihre Leidenschaft zu wecken. Der Innsbrucker Psychiater Dr. Karl Vorderwinkler wird später in seinem Gutachten schreiben: „Nun wurde er immer aufgeregter, weil er wegen ihres kühlen und ablehnenden Benehmens keinen Genuss hatte und sich nicht geschlechtlich austoben konnte.“
Er vergewaltigte sie noch mehrmals. Drei- oder viermal, an die genaue Zahl konnte er sich später nicht mehr genau erinnern. Erinnern konnte er sich noch, dass sie ihn gebettelt habe, sie nicht zu quälen, sie nicht umzubringen. Zingerle im ersten Verhör: „Ich habe ihr nicht mehr zugehört. Irgendwann habe ich einen Stein genommen und ihr damit so lange auf den Kopf geschlagen, bis sie still war und sich nicht mehr gerührt hat. Danach habe ich sie mit Steinen zugedeckt und bin nach Bozen hinuntergegangen.“
Diese Version des Tathergangs ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Bis zum Prozess bestritt Zingerle auf das Heftigste, dass Trude Kutin noch gelebt habe, als er den Tatort verlassen hat. Erst im Gerichtssaal gab er zu, dass sie noch gelebt haben könnte.
In Wahrheit war Gertrud Kutin keineswegs tot. Sie lag lebendig begraben unter einer Schicht von Steinen und versuchte verzweifelt, sich zu befreien. Ihre Schreie und Hilferufe, die sehr bald nur mehr ein Wimmern waren, waren bis zum Weg hinunter zu hören. Sie starb eines grausamen, langsamen Todes. Fast drei Tage dauerte ihr Todeskampf unter den Steinen. Die Autopsie ergab später, dass ihr Schädel unverletzt war. War er nicht fähig, sie umzubringen? Oder wollte er sie langsam sterben hören, um seine sadistischen Gelüste zu verlängern?
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An der Stelle auf dem Weg nach Glaning, wo Gertrud Kutin von Zingerle überfallen wurde, erinnert ein Kreuz an die Ermordete
Nachdem er sie unter der Steinhalde begraben hatte, setzte Zingerle sich wieder auf den Stein oberhalb des Weges, von dem aus er sie beobachtet hatte. Ihre Brieftasche mit 500 Lire, die Uhr und die Ringe hatte er ihr noch abgenommen. Auch ein Schulbuch aus ihrer Tasche nahm er mit.
Es war früher Morgen. Zingerle saß auf dem Stein und las in dem Buch. Irgendwann am Vormittag kam eine ältere Frau vorbei. Rosa Brugger aus Gries ging damals fast täglich auf den Guntschnaberg, um Holz zu sammeln. An diesem Tag geschah etwas, was ihr noch Jahre später das Gewissen belasten sollte. Als sie eben an der Stelle vorgehen wollte, bemerkte sie einen Mann in italienischer Militärjacke, der auf dem Stein saß und so tat, als würde er in einem Buch lesen. Rosa Brugger grüßte auf Italienisch und bekam einen Gruß zurück. Als sie weiterging, hörte sie aus dem Wald Hilfeschreie: „Helft mir, ich liege unter Steinen.“ Einmal auf Italienisch, dann wieder auf Deutsch. Brugger zögerte nicht lang und wandte sich in die Richtung, von wo die Schreie kamen. Aber da herrschte sie der Uniformierte auf Italienisch an: „Vai avanti!“
Aus Angst vor dem Mann und aus Respekt vor der Uniform ging sie weiter. In Glaning erzählte sie ihr Erlebnis einem Bauern, der ihr jedoch nur antwortete, dass in der Gegend oft Kinder spielten und die Stimmen von ihnen stammen könnten.
Am Nachmittag machte sie denselben Weg in umgekehrter Richtung und wieder hörte sie das Wimmern im Wald. Auch der Mann saß noch immer an derselben Stelle. Die Szene wiederholte sich in den nächsten zwei Tagen: Der Mann saß auf dem Stein, im Wald hörte Rosa Brugger die leiser werdenden Rufe einer Frauenstimme. Einmal fasste sie Mut und fragte ihn, was er hier mache und wohin er zum Essen gehe. Der Mann antwortete, er habe hier zu tun, das Essen werde ihm aus der Grieser Kaserne gebracht. Rosa Brugger wurde die Sache unheimlich, und sie wählte von nun an einen anderen Weg.
Stutzig wurde sie erst wieder, als sie vom Verschwinden der Glaninger Lehrerin hörte. Sie begann die Sache genauer zu verfolgen, da aber die Zeitungen wiederholt schrieben, dass Gertrud Kutin in Innsbruck gesehen worden sei, redete sie mit niemandem mehr darüber.
Als zehn Monate später die Leiche von Gertrud Kutin genau an der Stelle gefunden wurde, hatte Rosa Brugger die Gewissheit, dass sie indirekt Ohrenzeugin eines Verbrechens geworden war und Kutin vielleicht gerettet worden wäre, wenn sie ihre Beobachtung rechtzeitig gemeldet hätte. In ihrer Seelennot wandte sie sich an ihren Beichtvater und beichtete ihm, was sie damals in Glaning gehört hatte. Ihre Gewissensbisse waren so groß, dass sie noch einen zweiten Pfarrer aufsuchte und die Geschichte ein zweites Mal beichtete. Als dann schließlich der „Wirts-Toni“ wegen Mordverdachts verhaftet wurde, rief der Pfarrer sie zu sich und sagte, er werde sie nur lossprechen, wenn sie ihre Beobachtungen der Polizei meldete.
Zunächst führte ihre Beobachtung aber nur zu weiterer Verwirrung im Mordfall Gertrud Kutin.

Unschuldig verhaftet

Die Erste, die Gertrud Kutin vermisste, war ihre Freundin Rosa Gasser. Die beiden hatten tags zuvor vereinbart, sich nach dem Maiausflug zu treffen und zur Maiandacht zu gehen. Doch an diesem Abend kam Trude, ein Muster an Verlässlichkeit, nicht zum vereinbarten Treffen. Rosa Gasser war sofort beunruhigt, ließ sich aber von ihrer Schwester dazu überreden, vorerst nichts zu unternehmen. Tags darauf war in Glaning eine Schulkonferenz angesagt. Rosa Gasser telefonierte mit einer Lehrerin und bekam die Auskunft, dass ihre Freundin nicht zur Konferenz erschienen sei. Zunehmend besorgt, suchte sie Trudes Großmutter in der Rauschertorgasse auf, wo zufällig auch Trudes Mutter anwesend war. Und wieder ließ sie sich dazu überreden, nichts zu unternehmen. Trude werde schon irgendetwas dazwischengekommen sein. Am nächsten Tag jedoch, es war bereits Freitag, wollte sie sich selber an Ort und Stelle überzeugen und begab sich nach dem Unterricht nach Glaning hinauf.
Die Häuserin im Widum versetzte ihr den ersten großen Schrecken. Die Lehrerin sei zum Maiausflug gar nicht gekommen, die Kinder hätten vergeblich auf sie gewartet. Gasser: „Da habe ich gewusst, es ist etwas passiert.“
Auf dem Rückweg rief sie immer wieder in den Wald hinein, in der Hoffnung, dass Trude irgendwo liegen könnte. Bei den ersten Höfen neben der Bergstation der Guntschnabahn bekam sie die erste konkrete Auskunft.
Der letzte Mensch, der sie gesehen hatte, war der Bub, der mit ihr in der Bahn heraufgefahren war. Die Lehrerin sei wie immer sehr rasch vorausgegangen. Zuerst die Lehrerin, dann der alte Seebacher und dann er. Beim Kuihof, wo sich der Weg gabelt, habe er sie aus den Augen verloren.
Rosa Gasser begab sich sofort nach Bozen zur Quästur. Weinend und völlig aufgelöst berichtete sie, dass ihre Freundin verschwunden sei. Die Polizei nahm sie nicht weiter ernst. Gasser: „Sie haben mir ins Gesicht gelacht und gesagt: Sie wird halt mit einem jungen Mann sein.“ Tags drauf startete sie mit den größeren Schülern der Volksschule St. Jakob auf eigene Faust eine Suchaktion in Glaning. Vergeblich. Gertrud Kutin blieb unauffindbar.
Wenige Tage später schaltete sich die Quästur doch ein und suchte das Gebiet mit Hunden ab. Mit dabei waren Rosa Gasser und deren Bruder. Der Bruder wollte oberhalb des Weges suchen, wurde aber vom Einsatzleiter eines Besseren belehrt. Man sehe schon, dass er kein Kriminalist sei, sonst wüsste er, dass man immer unterhalb eines Weges suchen muss. Niemand trage eine Person nach oben. Da es in diesen Tagen stark geregnet hatte, konnten die Hunde keine Witterung aufnehmen. Die Suche wurde ergebnislos abgebrochen. Kein Kleidungsstück, kein verlorener Gegenstand, nicht der Schatten von einer Spur deuteten auf Kutins Verbleib hin.

Brodelnde Gerüchteküche

Kutins spurloses Verschwinden löste in Bozen eine Lawine von Vermutungen, Gerüchten und auch Verdächtigungen aus. Alles Mögliche konnte in diesen Jahren nach Kriegsende passiert sein, nur an ein Verbrechen wollte niemand glauben. So wurde vermutet, dass sie entführt worden sei, weil der Vater während der deutschen Besatzung Direktor des Bozner Gefängnisses gewesen war. Wehrmachtssoldaten, die sich nach Kriegsende in den Wäldern oberhalb Bozens versteckt hielten, könnten sie verschleppt haben.
Von den Medien und den Behörden wurde hingegen die Auffassung vertreten, dass sie mit einem jungen Mann aus Liebe nach Innsbruck oder in die Schweiz durchgebrannt sei. Mehrmals publiziert...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Zum Buch
  3. Titel
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. Vorbemerkung
  7. Maiausflug
  8. Impressum
  9. Der Autor